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10. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. R. gegen Basler Versicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_602/2012 vom 12. April 2013 | |
Regeste |
Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Ausstandsbegehren gegen sämtliche Mitglieder eines Gerichts. |
Bestätigung der Rechtsprechung in BGE 133 I 1, gemäss welcher die blosse Kollegialität unter Gerichtsmitgliedern keine Ausstandspflicht gebietet. | |
Sachverhalt | |
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A.a Die Basler Versicherungen AG (nachfolgend: Basler) erbrachte dem 1949 geborenen R. nach einem Zeckenbiss Versicherungsleistungen. Mit Verfügung vom 11. Juni 2010 stellte sie die Heilkosten- und Taggeldleistungen mit sofortiger Wirkung ein und verneinte einen Anspruch auf weitere Leistungen gemäss UVG, da die noch geklagten Beschwerden nicht überwiegend wahrscheinlich kausal zum Zeckenbiss seien. An ihrem Standpunkt hielt sie mit Einspracheentscheid vom 11. Januar 2011 fest. Dagegen liess R. beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau Beschwerde erheben und die Ausrichtung der gesetzlichen Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung beantragen.
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A.b Mit Eingabe vom 4. April 2011 wies der Rechtsvertreter von R. darauf hin, dass der Rechtsvertreter der Basler, Rechtsanwalt Simon Krauter, als nebenamtlicher Richter am Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau tätig sei, und verlangte die Überweisung der Sache an das Versicherungsgericht eines andern Kantons. Nach Durchführung einer Plenarsitzung wies das Verwaltungsgericht das Ausstandsbegehren mit Entscheid vom 1. Juni 2011 ab.
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(...)
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A.d Mit Urteil vom 1. Februar 2012 hiess das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde in dem Sinne gut, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 1. Juni 2011 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wurde, damit ein nach dem Recht des Kantons Thurgau zuständiger Spruchkörper über das Ausstandsbegehren entscheide.
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C. Mit Verfassungsbeschwerde lässt R. beantragen, der Entscheid des ersatzweise besetzten Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 13. Juni 2012 sei aufzuheben, alle haupt- oder nebenamtlichen Richter des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau seien zu verpflichten, bei der Behandlung dieser Sache den Ausstand zu beachten und es sei an ihrer Stelle das ersatzweise besetzte Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, eventualiter das Versicherungsgericht eines andern Kantons, zu verpflichten, die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Basler vom 11. Januar 2011 verfahrensleitend zu behandeln und darüber zu entscheiden.
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Die Basler schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
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4.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, die in dieser Hinsicht dieselbe Tragweite besitzen, hat der Einzelne Anspruch ![]() | 13 |
Unter dem Gesichtswinkel von Art. 30 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK wird meist die Frage aufgeworfen, ob besondere Umstände betreffend das Verhältnis zwischen einem Richter und einer Partei bei objektiver Betrachtung geeignet seien, den Anschein der Befangenheit des Richters zu erwecken. Indessen ist es denkbar und von der Rechtsprechung ebenso anerkannt, dass - wie hier - besondere Gegebenheiten hinsichtlich des Verhältnisses zwischen einem Richter und einem Parteivertreter die Voreingenommenheit des Ersteren begründen können (BGE 133 I 1 E. 5.2 S. 3 mit Hinweisen).
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4.2.1 Die Rechtsprechung leitet aus Art. 29 Abs. 1 BV und aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK das Gebot eines fairen Verfahrens ab (BGE 133 I 1 E. 5.3.1 S. 4 mit Hinweisen). Das Gebot der Waffengleichheit bildet daraus einen Teilgehalt. Er betrifft den Anspruch der versicherten Person, nicht in eine prozessuale Lage versetzt zu werden, aus der sie keine vernünftige Chance hat, ihre Sache dem Gericht zu unterbreiten, ohne gegenüber der anderen Partei klar benachteiligt zu sein (BGE 137 V 210 E. 2.1.2.1 S. 229; BGE 135 V 465 E. 4.3.1 S. 469; je mit Hinweis auf die Urteile des EGMR Steel und Morris gegen Vereinigtes Königreich vom 15. Mai 2005, Recueil CourEDH 2005-II S. 45 § 62 und Yvon gegen Frankreich vom 24. April 2003, Recueil CourEDH 2003-V S. 29 § 31; RENÉ WIEDERKEHR, Fairness als Verfassungsgrundsatz, 2006, S. 25 ff.). Dieses formale Prinzip ist schon dann verletzt, wenn eine Partei bevorteilt wird; nicht notwendig ist, dass die Gegenpartei dadurch tatsächlich einen Nachteil erleidet (BGE 137 V 210 E. 2.1.2.1 S. 229 mit Hinweisen).
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4.2.2 Das Bundesgericht hat in BGE 133 I 1 bei der Frage der Unbefangenheit eines Richters in einem Prozess, in dem das Mitglied einer Rechtsmittelinstanz als Parteivertreter auftritt, die Problematik des allfälligen Übergewichts einer Partei wegen der besondern Stellung ihres Rechtsvertreters unter dem Aspekt der Waffengleichheit ![]() | 17 |
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Erwägung 5 | |
5.1 Die Verfahrensgarantie gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK wird verletzt, soweit bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit des Gerichtsmitglieds begründen. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Gerichtsmitglieds oder gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Nicht entscheidend ist das subjektive Empfinden einer Partei; ihr Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss in objektiver Weise begründet sein. Dabei reicht es praxisgemäss aus, dass Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den blossen Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Nicht verlangt wird, dass das Gerichtsmitglied tatsächlich befangen ist (BGE 138 I 1 E. 2.2 S. 3 f.; BGE 137 I 227 E. 2.1 S. 229; je mit Hinweisen). Mit andern Worten muss gewährleistet sein, dass der Prozess aus Sicht aller Betroffenen als offen erscheint. Besondere Gegebenheiten namentlich hinsichtlich des Verhältnisses zwischen einem Richter und einem Parteivertreter, welche den objektiven Anschein der Befangenheit des Ersteren zu begründen und daher dessen Ausstand zu gebieten vermöchten, können ![]() | 19 |
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5.3 Im bereits erwähnten BGE 133 I 1 hat das Bundesgericht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der Literatur zur Frage der Unparteilichkeit von Gerichtsmitgliedern an der bisherigen Rechtsprechung festgehalten, gemäss welcher die blosse Kollegialität unter Gerichtsmitgliedern keine Ausstandspflicht gebiete. Es hat der Kritik verschiedener Autoren, wonach die berufliche Beziehung zwischen dem als Anwalt auftretenden Richter und seinen mit der Sache befassten Richterkollegen über die üblichen sozialen Bindungen hinausgehe, zwar nicht jede Berechtigung abgesprochen. Indessen hat es dargelegt, die bisherige, eine Ausstandspflicht in derartigen ![]() | 21 |
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5.4.1 Wohl trifft es zu, dass bei einer Konstellation, in welcher ein Parteivertreter vor dem Gericht auftritt, an dem er auch als nebenamtlicher Richter oder Ersatzrichter tätig ist, für Aussenstehende nicht ersichtlich ist, in welchem Verhältnis der Anwalt zu seinen zeitweiligen Richterkollegen steht (vgl. KIENER/MEDICI, Anwälte und andere Richter - Zur Befangenheit von Richtern aufgrund anderer Erwerbstätigkeiten, SJZ 107/2011 S. 381). Solche Konstellationen sind indessen in der Schweiz relativ häufig. Gerade auch im Urteil 2P.301/2005 vom 23. Juni 2006, auf welches sich der Beschwerdeführer beruft, wird darauf hingewiesen, dass das aargauische Recht zwar nicht die gleichzeitige Tätigkeit voll- und nebenamtlicher Richter als Anwalt, aber eine solche Tätigkeit doch bei Ersatzrichtern zulasse. Auch ![]() | 23 |
5.4.2 Es wäre zwar grundsätzlich zu begrüssen, wenn ein Richter vor dem Gericht, dem er ersatzweise angehört, nicht als Parteivertreter auftritt. Weder aus Art. 30 Abs. 1 BV noch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK kann indessen ein entsprechendes generelles Verbot abgeleitet werden. Es ist dem zuständigen Gesetzgeber anheimgestellt, ob er über die verfassungs- und konventionsrechtlichen Erfordernisse hinausgehen und einem Ersatzrichter das (berufsmässige) Vertreten Dritter vor dem Gericht, dem er angehört, untersagen will. Entsprechende Regelungen finden sich in verschiedenen Kantonen wie auch auf Bundesebene (vgl. Art. 6 Abs. 2 BGG betreffend die nebenamtlichen Bundesrichterinnen und Bundesrichter; Art. 44 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 19. März 2010 über die Organisation der Strafbehörden des Bundes [Strafbehördenorganisationsgesetz, StBOG; SR 173.71] für die nebenamtlichen Richterinnen und Richter des Bundesstrafgerichts; den nebenamtlichen Richterinnen und Richtern des Bundespatentgerichts ist die Vertretung Dritter vor dem Gericht gestattet, vgl. Art. 10 Abs. 4 des Bundesgesetzes vom 20. März 2009 über das Bundespatentgericht [Patentgerichtsgesetz, PatGG; SR 173.41] e contrario). Fehlt - wie vorliegend im Kanton Thurgau - eine solche Bestimmung, ist es Sache des Gerichts, darüber zu entscheiden, ob im konkreten Fall über die äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur hinaus Umstände vorliegen, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit der einzelnen Gerichtsmitglieder zu begründen vermögen. Ausser dem pauschalen Vorwurf der fehlenden Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter zufolge Kollegialität und Insiderwissen bringt der Beschwerdeführer jedoch nichts vor, was auf Befangenheit der einzelnen Mitglieder des Gerichts schliessen liesse. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die Stellung der Ersatzrichter im Kanton Thurgau sowohl in quantitativer Hinsicht bei der Fallzuteilung wie auch in qualitativer Hinsicht von derjenigen der nebenamtlichen Richter abweicht. So hatten die Ersatzrichter bis Ende 2012 an den Plenarsitzungen, sofern sie überhaupt anwesend waren, lediglich ![]() | 24 |
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