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11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Kantonspolizei Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_230/2015 vom 20. April 2016 | |
Regeste |
Art. 10 Abs. 2, Art. 16 Abs. 1 und 2, Art. 22, Art. 31 Abs. 1 und 4 sowie Art. 36 Abs. 1 und 2 BV; Art. 5 Ziff. 1, Art. 10 sowie 11 EMRK; polizeiliche Festhaltung eines potenziellen Teilnehmers einer bevorstehenden unbewilligten Demonstration. | |
Sachverhalt | |
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C. Mit Verfügung vom 24. November 2014 stellte das Bezirksgericht als Zwangsmassnahmengericht fest, die A. betreffenden polizeilichen Massnahmen vom 1. Mai 2011 (...) seien rechtmässig gewesen. Mit Beschluss vom 18. März 2015 wies das Obergericht des Kantons Zürich eine von A. gegen die Verfügung des Bezirksgerichts erhobene Beschwerde ab.
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D. Gegen den Beschluss des Obergerichts hat A. am 28. April 2015 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie die Feststellung, dass seine Festhaltung im Rahmen der Einkesselung und der anschliessende Polizeigewahrsam am 1. Mai 2011 rechtswidrig gewesen seien, ihn namentlich in seinen Rechten auf persönliche Freiheit bzw. Bewegungsfreiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV, Art. 11 EMRK) sowie Meinungs- und Informationsfreiheit bzw. Freiheit der Meinungsäusserung (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK) verletzt und einen unzulässigen Freiheitsentzug dargestellt bzw. sein Recht auf Freiheit verletzt hätten (Art. 31 BV, Art. 5 EMRK). (...) Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese nach Vornahme weiterer Abklärungen und Durchführung eines Beweisverfahrens neu ![]() | 4 |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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3.2 Gemäss § 3 des kantonalen Polizeigesetzes vom 23. April 2007 (PolG; LS 550.1) trägt die Polizei durch geeignete Massnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei (Abs. 1). Sie trifft insbesondere Massnahmen zur Verhinderung von Straftaten und zur Abwehr von unmittelbar drohenden Gefahren für Menschen, Tiere, Umwelt und Gegenstände sowie zur Beseitigung ![]() | 9 |
Die Vorinstanz erblickte in § 3 Abs. 1 und 2 sowie § 21 Abs. 1 und 3 PolG eine genügende gesetzliche Grundlage für die Festnahme sowie den Gewahrsam des Beschwerdeführers. Das diesbezügliche Vorgehen der Polizei sei rechtmässig und verhältnismässig gewesen.
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3.5.1 Die umstrittenen polizeilichen Massnahmen waren zur Erreichung der angestrebten Ziele geeignet. Sie können auch als erforderlich gelten, zumal nicht ersichtlich ist, inwiefern die Polizei insoweit ebenso geeignete, aber weniger stark in die Grundrechte des Beschwerdeführers eingreifende Massnahmen hätte ergreifen können. ![]() | 16 |
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Den gewichtigen privaten Interessen des Beschwerdeführers, sich frei bewegen, sich mit anderen Personen versammeln und seine Meinung ungehindert äussern zu können, standen sehr erhebliche öffentliche Interessen entgegen. Die Erfahrungen vergangener Jahre hatten gezeigt, dass es im Anschluss an den offiziell bewilligten Anlass zum "Tag der Arbeit" am 1. Mai in der Stadt Zürich regelmässig zu schweren Ausschreitungen kam, die nicht nur bedeutende Sachbeschädigungen zur Folge hatten, sondern auch mit Verletzungen bei Demonstranten, Einsatzkräften sowie unbeteiligten Personen einhergingen. Aufgrund ihrer Einschätzung der aktuellen Situation ![]() | 18 |
Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass nur eine konkrete Gefahr für schwere Ausschreitungen derart schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen kann. Dies gilt umso mehr, wenn davon ausgegangen werden muss, dass die polizeilichen Massnahmen unvermeidbar auch Personen treffen, von denen konkret keine Gefahr ausgeht. Wie bereits ausgeführt, gingen die Polizeikräfte vorliegend zulässigerweise von einer hohen Wahrscheinlichkeit für schwere Ausschreitungen aus. Das entbindet die Behörden allerdings auch künftig nicht davon, im Rahmen von vergleichbaren Einsätzen jeweils sorgfältig abzuwägen, ob die Wahrscheinlichkeit für schwere Ausschreitungen derart hoch ist, dass die mit dem Einsatz verbundenen Grundrechtseinschränkungen gerechtfertigt erscheinen. Für die Annahme, es bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit für schwere Ausschreitungen, bedarf es konkreter Hinweise und Anzeichen, welche von den zuständigen Rechtsmittelbehörden gegebenenfalls müssen überprüft werden können. Allein der Verweis auf die Erfahrungen vergangener Jahre genügt nicht.
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3.6 Der Beschwerdeführer geht ohne Weiteres davon aus, die rund zweieinhalbstündige Festhaltung im Rahmen der Einkesselung sowie die anschliessende knapp dreieinhalbstündige Festhaltung zur sicherheitspolizeilichen Überprüfung stellten gesamthaft betrachtet nicht nur einen Eingriff im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV dar, sondern auch einen Freiheitsentzug im Sinne der Minimalgarantie von Art. 5 EMRK, was vom Bundesgericht im bereits erwähnten Urteil 1C_350/2013 vom 22. Januar 2014 ausdrücklich offengelassen worden ist (a.a.O., E. 3.6.2). Der Beschwerdeführer bringt in diesem Zusammenhang namentlich vor, der mit den umstrittenen ![]() | 20 |
3.6.1 Zwar ist Art. 31 BV in weitem Masse Art. 5 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie des Bundesgerichts nachgebildet (BGE 136 I 87 E. 6.2.5 S. 107). Dies schliesst allerdings nicht aus, dass im Einzelfall bestimmte, die Bewegungsfreiheit einschränkende Massnahmen zwar als Freiheitsentzug im Sinne von Art. 31 BV einzustufen sind, nicht aber als Freiheitsentzug im Sinne der Minimalgarantie von Art. 5 EMRK. Während Art. 5 EMRK einen abschliessenden Katalog zulässiger Haftmotive beinhaltet (Ziff. 1 lit. a-f), bestimmt die Bundesverfassung insoweit nur, dass ein Freiheitsentzug einzig in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen rechtmässig sei und sofern er auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise erfolge (Art. 31 Abs. 1 BV; vgl. dazu E. 3.3 hiervor). Der Katalog zulässiger Haftmotive gemäss Art. 5 Ziff. 1 lit. a-f EMRK gelangt dementsprechend nur dann zur Anwendung, wenn auch ein Freiheitsentzug im Sinne der Minimalgarantie von Art. 5 EMRK vorliegt.
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Neben der Dauer einer Massnahme sind allerdings weitere Kriterien zu berücksichtigen, wie Art, Wirkungen und Modalitäten der Durchführung der Massnahme. Von Bedeutung sind namentlich auch der spezifische Kontext, in dem gehandelt wird, bzw. die konkreten Umstände der Freiheitsbeschränkung (Urteile Birgean, § 88 f. und Austin gegen Vereinigtes Königreich vom 15. März 2012, ![]() | 23 |
Ob eine bestimmte, die Bewegungsfreiheit einschränkende Massnahme als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 EMRK einzustufen ist, kann sodann nicht völlig losgelöst von der Zielsetzung der Massnahme beurteilt werden. Liegt der Schwerpunkt der Zielsetzung der in Frage stehenden Massnahme nicht in der Beschränkung der Bewegungsfreiheit an sich, sondern stellt sich diese lediglich als unumgängliche Nebenfolge dar, spricht dies gegen eine Einstufung der Massnahme als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 EMRK (vgl. GRABENWARTER/PABEL, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 233 f.).
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3.6.3 Wie bereits im Urteil 1C_350/2013 vom 22. Januar 2014 ausgeführt, stellte die Festhaltung des Beschwerdeführers im Polizeikordon allein keinen Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 EMRK dar, zumal die Einkesselung nicht mehr als rund zweieinhalb Stunden dauerte und sich der Beschwerdeführer während dieser Zeit auf dem abgesperrten Areal ohne erhebliche Beeinträchtigung weiterhin bewegen konnte (a.a.O., E. 3.6.1). Die anschliessende Behandlung des Beschwerdeführers durch die Polizei hingegen führte zu einer recht erheblichen Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit (vgl. E. 3.5.2 hiervor sowie Urteil 1C_350/2013 vom 22. Januar 2014 E. 3.6.2). Was den spezifischen Kontext betrifft, in welchem die Bewegungsfreiheit des Beschwerdeführers eingeschränkt wurde, ist zu bedenken, dass die Polizei nicht einer einzelnen Person oder einer kleinen Gruppe von Personen gegenüberstand, sondern einer grossen Anzahl von Personen, die sich am 1. Mai 2011 an einem bestimmten Ort versammelt haben, von welchem aus sich in den vergangenen Jahren am gleichen Datum immer wieder unbewilligte, mit gewalttätigen Ausschreitungen verbundene Demonstrationen ![]() | 25 |
Auch unter Beachtung des spezifischen Kontextes, in welchem die Polizei zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum Schutz der Öffentlichkeit handelte, sowie unter Mitberücksichtigung des Umstands, dass die Verbringung des Beschwerdeführers in die Polizeikaserne die vertiefte Identitätskontrolle bzw. die sicherheitspolizeiliche Überprüfung bezweckte, war die Beschränkung der Freiheit des Beschwerdeführers gesamthaft betrachtet so gravierend, dass die Schwelle zum Freiheitsentzug im Sinne der Minimalgarantie von Art. 5 EMRK überschritten worden ist. Damit stellt sich die Frage, ob sich der Freiheitsentzug auf einen in Art. 5 Ziff. 1 EMRK vorgesehenen Zweck stützen lässt.
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Der Beschwerdeführer befand sich im Anschluss an den offiziell bewiligten Anlass zum "Tag der Arbeit" am 1. Mai 2011 nicht zufällig im Raum Kanzleiareal/Helvetiaplatz, sondern folgte einem Aufruf, sich zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort zu versammeln. Zwar macht er geltend, an einer allfälligen unbewilligten Demonstration habe er sich nicht beteiligen wollen. Dass sich von seinem Aufenthaltsort aus in den vergangenen Jahren am gleichen Datum immer wieder unbewilligte, mit gewalttätigen Ausschreitungen verbundene Demonstrationen gebildet haben, war aber allgemein bekannt und ![]() | 28 |
Die Verbringung des Beschwerdeführers in die Polizeikaserne diente der vertieften Identitätsfeststellung und damit der Prüfung, ob sich der Beschwerdeführer bereits strafbar gemacht hat. Seine Festhaltung zur Erforschung dieser Möglichkeit erscheint gerechtfertigt, zumal sie wie soeben dargelegt aus einem konkreten Anlass erfolgte (vgl. GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., S. 245).
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Die polizeiliche Festhaltung des Beschwerdeführers ist somit als im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt gewesen. Einer solchen Auslegung von Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK entspricht auch der Gedanke, dass die Polizei - wenn sie wie vorliegend konkrete Hinweise hat, dass von einer Personengruppe eine ernsthafte Gefahr für Drittpersonen ausgeht - in der Lage sein muss, angemessene Massnahmen zum Schutz der gefährdeten privaten Interessen zu treffen. Nach Sinn und Zweck der Konvention darf nicht eine allzu restriktive Auslegung von Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK dazu führen, dass die Polizei eine ernsthafte und konkrete Gefährdung von Grundrechten von Drittpersonen tatenlos hinnehmen muss.
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3.6.5 Im Übrigen erweist sich die polizeiliche Festhaltung des Beschwerdeführers auch gestützt auf Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK als gerechtfertigt. Nach dieser Bestimmung darf die Freiheit einer Person ![]() | 31 |
Bereits indem sich der Beschwerdeführer im Anschluss an den offiziell bewilligten Anlass zum "Tag der Arbeit" am 1. Mai 2011 auf einen entsprechenden Aufruf hin im Raum Kanzleiareal/Helvetiaplatz mit weiteren Personen versammelt hat, hat er sich der strafbaren Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration verdächtig gemacht, auch wenn deswegen gegen ihn in der Folge kein Strafverfahren eröffnet worden ist. Objektiv betrachtet bestand nach dem bereits Ausgeführten zudem begründeter Anlass zur Annahme, dass er sich an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen könnte, womit seine Festhaltung im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK notwendig war, um ihn an der Begehung der befürchteten Straftaten zu hindern.
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Zwar ist die präventive Festnahme von Personen und Personengruppen aufgrund eines allgemeinen Verdachts nicht zulässig. Unter den bereits beschriebenen Umstände erschien der Verdacht, dass der Beschwerdeführer eine Straftat begehen werde, allerdings hinreichend konkret, zumal auch Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK nicht derart restriktiv auszulegen ist, dass eine konkrete und ernsthafte Gefährdung von Grundrechten von privaten Drittpersonen durch zu erwartende Straftaten tatenlos hingenommen werden muss. (...)
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