![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
27. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Eidgenössische Steuerverwaltung (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_287/2018 vom 21. September 2018 | |
Regeste |
Art. 56 VwVG; Art. 98 BGG; Art. 86 Abs. 2-5 MWSTG; Art. 6 Ziff. 1, 8 Ziff. 1, 13 und 14 EMRK. Es ist mit der EMRK vereinbar, dass über den einspracheweise festgesetzten provisorisch geschuldeten Mehrwertsteuerbetrag keine verwaltungsunabhängige Instanz entscheiden kann. |
Abgaberechtliche Verpflichtungen sind, vorbehältlich des Steuerstrafrechts, von Art. 6 EMRK ausgenommen. Folglich gilt auch deren Vollstreckung nicht als zivilrechtlicher Anspruch im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, sodass kein konventionsrechtliches Recht auf Zugang zu einem Gericht besteht. Dies trifft auch auf Art. 86 Abs. 2 MWSTG zu, zumal es sich dabei um eine (die Hauptsache nicht präjudizierende) vorsorgliche Massnahme handelt (E. 3.3). |
Akzessorische Natur des Anspruchs auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK; E. 3.4) und des Diskriminierungsverbots (Art. 14 i.V.m. Art. 8 Ziff. 1 EMRK). Mangels hinreichender Rügen keine Prüfung von Art. 86 MWSTG unter diesen Gesichtspunkten (E. 3.5). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
![]() | 2 |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
| 3 |
(Auszug)
| 4 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
5 | |
Erwägung 2.2 | |
6 | |
2.2.2 Die Inlandsteuer wird jeweils für eine Steuerperiode erhoben, wobei als Steuerperiode das Kalenderjahr gilt (Art. 34 Abs. 1 und 2 ![]() | 7 |
8 | |
2.2.4 Mit dem Mehrwertsteuerrecht von 2009 wurde die Betreibung des provisorisch geschuldeten Steuerbetrags eingeführt (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 MWSTG). Inhalt dieser zeitnahen Vollstreckung, die aber eine Mahnung voraussetzt, ist nicht die Steuerforderung im technischen Sinn (verstanden als Differenz bzw. Produkt einer mathematischen Operation; Art. 36 Abs. 2 und Art. 37 Abs. 2 MWSTG), sondern der mutmassliche Steuerbetrag (créance provisoire; MOLLARD/OBERSON/TISSOT BENEDETTO, a.a.O., N. 490 zu Art. 86 MWSTG; ![]() | 9 |
1 Innert 60 Tagen nach Ablauf der Abrechnungsperiode hat die steuerpflichtige Person die in diesem Zeitraum entstandene Steuerforderung zu begleichen.
| 10 |
2 Erbringt die steuerpflichtige Person keine oder eine offensichtlich ungenügende Zahlung, so setzt die ESTV den für die jeweilige Abrechnungsperiode provisorisch geschuldeten Steuerbetrag nach vorgängiger Mahnung in Betreibung. Liegt keine oder eine offensichtlich ungenügende Abrechnung der steuerpflichtigen Person vor, so bestimmt die ESTV den provisorisch geschuldeten Steuerbetrag vorgängig nach pflichtgemässem Ermessen.
| 11 |
3 Durch Rechtsvorschlag eröffnet die steuerpflichtige Person das Verfahren um Rechtsöffnung. Für die Beseitigung des Rechtsvorschlages ist die ESTV im Verfügungs- und Einspracheverfahren zuständig.
| 12 |
4 Die Verfügung betreffend den Rechtsvorschlag kann innert 10 Tagen nach der Eröffnung mit Einsprache bei der ESTV angefochten werden. Der Einspracheentscheid ist unter Vorbehalt von Abs. 5 endgültig.
| 13 |
5 Hat die ESTV den in Betreibung gesetzten provisorisch geschuldeten Steuerbetrag nach pflichtgemässem Ermessen bestimmt, so kann gegen den Einspracheentscheid beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde geführt werden. Die Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung, es sei denn, das Gericht ordne diese auf begründetes Ersuchen hin an. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet endgültig.
| 14 |
6 Art. 85a SchKG ist nicht anwendbar.
| 15 |
7 Der Einzug eines Steuerbetrags nach Abs. 2 berührt die Festsetzung nach den Art. 72, 78 und 82 der endgültigen Steuerforderung nicht. Unterbleibt die Festsetzung der Steuerforderung wegen Untätigkeit der steuerpflichtigen Person, insbesondere weil diese weder Mängel nach Art. 72 korrigiert noch eine Verfügung nach Art. 82 verlangt, so gelten mit Eintritt der Festsetzungsverjährung auch die von der ESTV nach Abs. 2 bestimmten Steuerbeträge als Steuerforderung.
| 16 |
8 Anstelle einer Zahlung des Steuerbetrags kann die steuerpflichtige Person auch Sicherheiten gemäss Art. 93 Abs. 7 leisten.
| 17 |
9 Unmittelbar nach Eingang der Zahlung oder der Sicherheitsleistung zieht die ESTV die Betreibung zurück."
| 18 |
2.2.5 Der Bezug des provisorisch geschuldeten Steuerbetrags findet zumindest direktsteuerlich kein entsprechendes Gegenstück und ist als präliminares Verfahren sui generis ausgestaltet (BAUMGARTNER/CLAVADETSCHER/KOCHER, Vom alten zum neuen Mehrwertsteuerrecht, 2010, § 10 N. 132). Die Konzeption bringt zum Ausdruck, dass es um eine provisorische Zahlung geht (dies., a.a.O., ![]() | 19 |
20 | |
Erwägung 3 | |
21 | |
3.2 Eine vorfrageweise (konkrete) Rechtsetzungskontrolle des Bundesgesetzes ist zwar nicht ausgeschlossen, doch herrscht ein ![]() | 22 |
Erwägung 3.3 | |
23 | |
3.3.2 Hingegen bringt er in zwar knapper, aber vertretbarer Weise vor, einen Anspruch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK zu haben. Es liegt eine hinreichende Rüge ("grief défendable", "arguable claim") vor (Urteile des EGMR Ulay gegen Türkei vom 13. Februar 2018 [8626/06] § 61; Athanassoglou und andere gegen die Schweiz vom 6. April 2000 [27644/95] § 54; BGE 130 I 369 E. 7.1 S. 380; Urteil 2A.161/2006 vom 12. Oktober 2006 E. 4.2). Insoweit ist die Beschwerde zulässig. Es fragt sich daher, ob das streitbetroffene Verfahren (Art. 86 Abs. 3 und 4 MWSTG) überhaupt unter Art. 6 Ziff. 1 EMRK (unter dem Aspekt der "zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen") falle. Das Konventionsrecht verleiht in Art. 6 Ziff. 1 ![]() | 24 |
25 | |
3.3.4 Grundvoraussetzung für dieses Recht auf Zugang zu einem Gericht ist damit, dass überhaupt eine zivilrechtliche Streitigkeit ("zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen") besteht. Die Auslegung des Konventionsrechts ist konventionsautonom vorzunehmen (BGE 137 I 284 E. 2.1 S. 288; OLIVIER BIGLER, in: Convention européenne des droits de l'homme [CEDH] [nachfolgend: Comm. CEDH], 2018, N. 17 zu Art. 6 EMRK [volet civil]) und hat den Regeln von Art. 31 f. des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111) Rechnung zu tragen (BGE 139 I 16 E. 5.2.2 S. 30). Praxisgemäss gilt, dass der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK verwendete Begriff der "zivilrechtlichen" Ansprüche und Verpflichtungen ("droits et obligations de caractère civil" bzw. "civil rights") weiter greift als der Rechtsbegriff des Zivilrechts im Sinne des schweizerischen Rechts. Er bezieht sich nicht nur auf ![]() | 26 |
27 | |
28 | |
3.3.7 Für einen derartigen Dualismus finden sich in Praxis und Doktrin freilich keinerlei Anhaltspunkte. In Teilen der Lehre wird zwar die Meinung vertreten, die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK erstrecke sich auch auf das Verfahren zur Vollstreckung einer Entscheidung über einen zivilrechtlichen Anspruch (GRABENWARTER/ ![]() | 29 |
3.3.8 Hinzu kommt eine weitere Überlegung. Der Bezug des provisorisch geschuldeten Steuerbetrags hat landesrechtlich als vorsorgliche Massnahme zu gelten (vorne E. 2.2.5). Seit dem Urteil des EGMR Micallef gegen Malta vom 15. Oktober 2009 (17056/06) § 83 ff. hängt die Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK in einem Präliminarverfahren, dessen Hauptsache aber ohnehin "de caractère civil" sein müsste, namentlich davon ab, dass gesagt werden kann, das Vorverfahren sei präjudizierend für das Hauptverfahren. Die Dauer des Vorverfahrens als solche ist von keiner Bedeutung (BGE 141 I 241 E. 4.2.1 S. 247 f.). Mithin ist unerlässlich, dass erstens die Hauptsache zivilrechtlich und zweitens der vorläufige Entscheid für den zivilrechtlichen Anspruch determinierend ist (so HANSJÖRG SEILER, Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz [VwVG], in: Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], 2. Aufl. 2016, N. 143 zu Art. 55 VwVG betreffend die Anordnung der aufschiebenden Wirkung). Sodann ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (ausführlich zum Ganzen: BIGLER, Comm. CEDH, a.a.O., N. 31, 44 ff. und insb. 45 zu Art. 6 EMRK [volet civil]). Keine dieser Voraussetzungen ist vorliegend erfüllt. Die bloss wirtschaftliche Beeinträchtigung - soweit hier eine solche überhaupt vorläge - genügt für sich allein nicht, um Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur Anwendung zu bringen (Urteil des EGMR Sàrl du Parc d'Activités de Blotzheim gegen Frankreich vom 11. Oktober 2006 [48897/99] § 9; HARRIS/O'BOYLE/WARBRICK, Law of the European Convention on Human Rights, 3. Aufl. 2014, S. 391). Der abweichenden Auffassung, die der Steuerpflichtige in seiner ergänzenden Eingabe vom 8. April 2018 heranzieht (MAARTEN FETERIS, 50 jaar EVRM en het belanstingrecht, in: Nederlands ![]() | 30 |
31 | |
32 | |
Erwägung 3.4 | |
33 | |
3.4.2 Der Anspruch auf eine wirksame Beschwerde ist akzessorisch ausgestaltet, indem eine Verletzung von Art. 13 EMRK nur in Verbindung mit einer materiellen Garantie der EMRK vorgebracht werden kann (BGE 143 III 193 E. 6.1 S. 201; BGE 137 I 128 E. 4.4.3 S. 134). Was das Verhältnis zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK (unter dem Aspekt des Zugangs zu einem Gericht) betrifft, ist diese Norm weiter gefasst als Art. 13 EMRK (BGE 138 V 271 E. 3.1 S. 278; BGE 137 I 128 E. 4.4.1 S. 133; MEYER-LADEWIG/RENGER, HK EMRK, a.a.O., N. 41 zu Art. 13 EMRK). Es besteht jedenfalls keine vollständige Deckungsgleichheit (BGE 131 I 12 E. 1.2 S. 15 mit Hinweisen; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., § 24 N. 190). Liegt ein Anwendungsfall von Art. 6 Ziff. 1 EMRK vor, erübrigt sich die Prüfung von Art. 13 EMRK (Urteile des EGMR Ullens de Schooten und Rezabek gegen Belgien vom 20. September 2011 [3989/07 /38353/07] § 52; Castren-Niniou gegen Griechenland vom 9. Juni 2005 [43837/02] § 33). Sind die Voraussetzungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK hingegen in einem konkreten Fall nicht gegeben, bleibt es der beschwerdeführenden ![]() | 34 |
35 | |
36 | |
37 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |