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Bearbeitung, zuletzt am 29.05.2020, durch: A. Tschentscher, Michelle Ammann | |||
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2. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Migrationsamt und Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_828/2011 vom 12. Oktober 2012 | |
Regeste |
Art. 8 EMRK; Art. 5, 190 und 121 Abs. 3-6 (Fassung vom 28. November 2010 ["Ausschaffungsinitiative"]) in Verbindung mit Art. 197 Ziff. 8 BV; Art. 62 lit. b, Art. 63 Abs. 1 lit. a und b sowie Abs. 2 AuG; direkte Anwendbarkeit neuer verfassungsrechtlicher Vorgaben, die im Widerspruch zu geltendem Gesetzes- und Völkerrecht stehen? |
Übersicht über die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und der bundesgerichtlichen Praxis zu beachtenden Kriterien bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit aufenthaltsbeendender Massnahmen von straffällig gewordenen Ausländerinnen und Ausländern (E. 2 und 3). Die mit der Ausschaffungsinitiative am 28. November 2010 in die Bundesverfassung aufgenommenen Abs. 3-6 von Art. 121 sind aufgrund einer der praktischen Konkordanz verpflichteten Auslegung und mangels hinreichender Bestimmtheit nicht direkt anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung durch den Gesetzgeber; sie haben keinen Vorrang vor den Grundrechten oder den Garantien der EMRK. Den vom Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten Wertungen kann insoweit Rechnung getragen werden, als dies zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht bzw. zu Konflikten mit dem Beurteilungsspielraum führt, den der EGMR den einzelnen Konventionsstaaten bei der Umsetzung ihrer Migrations- und Ausländerpolitik zugesteht (E. 4 und 5). | |
Sachverhalt | |
1 | |
Am 18. Juni 2010 wurde X. wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Das Strafgericht befand, dass er sich ohne Notlage am organisierten Drogenhandel und insbesondere an der geplanten Umsetzung von rund einem Kilogramm Heroin beteiligt habe. Das Migrationsamt des Kantons Thurgau widerrief am 30. März 2011 die Niederlassungsbewilligung von X. und wies ihn aus der Schweiz weg. Die hiergegen ergriffenen kantonalen Rechtsmittel blieben ohne Erfolg.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut und hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 14. September 2011 auf.
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Aus den Erwägungen: | |
2.1 Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, wenn der Ausländer zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe, d.h. zu einer solchen von mehr als einem Jahr, verurteilt worden ist, wobei mehrere unterjährige Strafen bei der Berechnung nicht kumuliert werden dürfen (Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG [SR 142.20]; BGE BGE 135 II 377 E. 4.2 S. 381; BGE 137 II 297 E. 2). Indessen spielt keine Rolle, ob die Sanktion bedingt, teilbedingt oder unbedingt ausgesprochen wurde (Urteil 2C_515/2009 vom 27. Januar 2010 E. 2.1). Ein Widerruf ist überdies möglich, wenn der Ausländer in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen oder diese gefährdet hat (Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG). Die Praxis geht hiervon aus, wenn die ausländische Person durch ihr Handeln besonders hochwertige Rechtsgüter verletzt oder in Gefahr gebracht hat, sich von strafrechtlichen Massnahmen nicht beeindrucken lässt und sich im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zeigt, dass sie auch künftig weder gewillt noch fähig ist, sich an die Rechtsordnung zu halten (BGE 137 II 297 E. 3 S. 302 ff.; ![]() ![]() | 4 |
Erwägung 2.2 | |
2.2.1 Nach Art. 63 AuG kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden. Die Massnahme muss - wie jedes staatliche Handeln - verhältnismässig sein (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV; Art. 96 AuG). Zur Beurteilung der Frage, ob dies der Fall ist, sind namentlich die Schwere des Delikts und des Verschuldens des Betroffenen, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das Verhalten des Ausländers während diesem, der Grad seiner Integration bzw. die Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie die ihm und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen (BGE 135 II 377 E. 4.3). Die Niederlassungsbewilligung eines Ausländers, der sich schon seit langer Zeit hier aufhält, soll zwar nur mit besonderer Zurückhaltung widerrufen werden, doch ist dies bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn er hier geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben im Land verbracht hat (vgl. das Urteil 2C_562/2011 vom 21. November 2011 E. 3.3 [Widerruf der Niederlassungsbewilligung eines hier geborenen 43-jährigen Türken] und das Urteil des EGMR Trabelsi gegen Deutschland vom 13. Oktober 2011 [Nr. 41548/06], §§ 53 ff., bezüglich der Ausweisung eines in Deutschland geborenen, wiederholt straffällig gewordenen Tunesiers). Bei schweren Straftaten, Rückfall und wiederholter Delinquenz besteht - überwiegende private oder familiäre Bindungen vorbehalten - auch in diesen Fällen ein schutzwürdiges öffentliches Interesse daran, die Anwesenheit des Ausländers zur Aufrechterhaltung der Ordnung bzw. Verhütung von (weiteren) Straftaten zu beenden (vgl. das Urteil 2C_903/2010 vom 6. Juni 2011 E. 3.1, nicht publ. in BGE 137 II 233; BGE 130 II 176 E. 4.4.2 S. 190 [vier Jahre Zuchthaus; Raub, Brandstiftung, Betrug usw.]; BGE 122 II 433 E. 3 [Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt bzw. dreieinhalb Jahre Zuchthaus; Mord, qualifizierter Raub, ![]() ![]() | 5 |
2.2.2 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens) sind im Rahmen der Beurteilung der Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Massnahmen bei Ausländern der zweiten Generation die gleichen Elemente ausschlaggebend wie nach der bundesgerichtlichen Praxis, nämlich: (1) Die Art und Schwere der vom Betroffenen begangenen Straftaten, wobei besonders ins Gewicht fällt, ob er diese als Jugendlicher oder als Erwachsener begangen und es sich dabei um Gewaltdelikte gehandelt hat oder nicht; (2) die Dauer des Aufenthalts im Land; (3) die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Betroffenen während dieser; (4) die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsland; (5) sein gesundheitlicher Zustand sowie (6) die mit der aufenthaltsbeendenden Massnahme verbundene Dauer der Fernhaltung (vgl. etwa die EGMR-Urteile Emre gegen die Schweiz vom 22. Mai 2008 [Nr. 42034/04] §§ 64 ff. [Verurteilung zu insgesamt 18 Monaten Freiheitsentzug wegen Drohung, Körperverletzung, Tätlichkeiten, Diebstahls usw. - Verletzung von Art. 8 EMRK] und Boultif gegen die Schweiz vom 2. August 2001 [Nr. 54273/00] §§ 46 ff. [Verurteilung wegen Raubes zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren- Verletzung von Art. 8 EMRK]). Nach der Praxis des EGMR überwiegt bei Betäubungsmitteldelikten (ohne Konsum) regelmässig das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts, falls keine besonderen persönlichen oder familiären Bindungen im Aufenthaltsstaat bestehen; ist die betroffene Person ledig und kinderlos, setzt sich tendenziell das öffentliche Fernhalteinteresse durch, sofern das Strafmass drei Jahre Freiheitsstrafe erreicht oder weitere erhebliche Delikte hinzukommen (vgl. KARL-GEORG MAYER, Systemwechsel im Ausweisungsrecht - der Schutz "faktischer Inländer" mit und ohne familiäre Bindungen nach dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], Verwaltungs-Archiv 101/2010 S. 482 ff., dort 537). Im Urteil Balogun gegen Vereinigtes Königreich vom 10. April 2012 (Nr. 60286/09) verneinte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK bei der Ausweisung eines ![]() ![]() | 6 |
2.2.3 In Ausgangslagen, welche mit der vorliegenden vergleichbar sind, hat das Bundesgericht den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung bisweilen als unverhältnismässig bezeichnet (vgl. die Urteile 2A.422/2005 vom 9. November 2005 [bedingte Gefängnisstrafe von 18 Monaten wegen Transports von 5 Kilogramm Kokain, einmalige Delinquenz, als Erwachsener vor 14 Jahren in die Schweiz gekommen, hier verheiratet und Kind]; 2C_98/2009 vom 10. Juni 2009 [in der Schweiz geboren, Delinquenz als Jugendlicher und Verurteilung zu 10 Monaten Freiheitsstrafe u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten]). Bei schwereren Verurteilungen hat das Bundesgericht den Bewilligungswiderruf teilweise aber auch geschützt (Urteile 2C_771/2011 vom 29. März 2012 [seit 6. Altersjahr, über 20 Jahre in der Schweiz; ledig; kinderlos; wiederholte Straffälligkeit, zuletzt Verurteilung zu 5 Jahren Freiheitsstrafe u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten]; 2C_501/2011 vom 8. Dezember 2011 [seit 5. Altersjahr, über 20 Jahre in der Schweiz; ledig; kinderlos; wiederholte Straffälligkeit; schwerste Verurteilung zu 30 Monaten Freiheitsstrafe u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten]) und dies selbst dann, wenn der betroffene Ausländer in der Schweiz Ehefrau und Kinder hatte (Urteile 2C_265/2011 vom 27. September 2011 [in der Schweiz geboren; mit Schweizerin verheiratet; 1 Kind; mehrere Verurteilungen, zuletzt zu 30 Monaten u.a. wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz]; 2C_526/2011 vom 17. November 2011 [seit 15. Altersjahr, rund 11 Jahre in der Schweiz; verheiratet; zwei Kinder; Verurteilung zu 30 Monaten Freiheitsstrafe wegen Einfuhr von ca. 1 Kilogramm Heroin]; 2C_935/2010 vom 7. Juni 2011 [seit ![]() ![]() | 7 |
Erwägung 3 | |
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3.2 In der Strafuntersuchung zeigte sich der Beschwerdeführer kooperativ und geständig. Seit Juli 2010 arbeitet er für eine Fassadenbau AG. Im Frühjahr 2011 gründete er mit seinem Vater und Bruder ein eigenes Malergeschäft, das er übernehmen möchte. Ende Juli 2011 hat er sich mit einer hier geborenen, niederlassungsberechtigten Landsfrau verlobt. In den rund 16 Jahren, während denen er sich in der Schweiz aufhielt, hat er sich - abgesehen von seiner einmaligen Straffälligkeit - sozialisieren und integrieren können. In Mazedonien verfügt er über keine Familienangehörigen mehr, nachdem seine Verwandten praktisch alle in der Schweiz leben. Zwar kennt er seine Heimat von Ferienbesuchen her, doch ist er des Mazedonischen nicht mächtig und spricht er nur lückenhaft Albanisch; die deutsche ![]() ![]() | 9 |
Erwägung 4 | |
4.1 Nichts anderes ergibt sich aus den Absätzen 3-6 von Art. 121 BV, welche mit der Volksabstimmung vom 28. November 2010 in die Verfassung aufgenommen wurden und seither in Kraft stehen (AS 2011 1199). Danach verlieren Ausländerinnen und Ausländer unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie unter anderem wegen "Drogenhandels" rechtskräftig verurteilt worden sind (Art. 121 Abs. 3 lit. a BV). Die betroffenen Personen sind von der zuständigen Behörde aus der Schweiz auszuweisen und mit einem Einreiseverbot von 5-15 Jahren zu belegen; im Wiederholungsfall ist das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen (Art. 121 Abs. 5 BV). Nach einem Teil der Lehre sind der Verlust des Aufenthaltsrechts und die Ausweisung unter den genannten Voraussetzungen zwingend und eine Prüfung der Verhältnismässigkeit im Einzelfall ausgeschlossen (vgl. ASTRID EPINEY, Ausschaffungsinitiative und Freizügigkeitsabkommen, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden [ZGRG]1/2010 S. 3 ff., 6 f.; GÄCHTER/KRADOLFER, Von schwarzen Schafen, Gedanken zur Ausschaffungsinitiative aus juristischer Sicht, Asyl 1/2008 S. 12 ff., 17; JAAG/PRIULI, Ausschaffungsinitiative und Freizügigkeitsabkommen, Jusletter 8. November 2010 Rz. 11, 28, 42; LORENZ LANGER, Menetekel oder Musterlösung? Das amerikanische Ausländerrecht und die Umsetzung der schweizerischen Ausschaffungsinitiative, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht [SZIER] 2011 S. 195 ff., 228 f.;PÉREZ/BREMER/HOFMANN, Verfassungskonform völkerrechtswidrig: Schafft die Schweiz sich aus?, in: Schweiz und Europa - Auswirkungen auf Wirtschaft, Recht und Gesellschaft, 2011, S. 31 ff., dort 38, 47; JOHANNES REICH, Verletzt die "Ausschaffungsinitiative" zwingende Bestimmungen des Völkerrechts?, ZSR 127/2008 I S. 499 ff., dort 514 f.; derselbe, Direkte Demokratie und völkerrechtliche Verpflichtungen im Konflikt, Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht [ZaöRV] 68/2008 S. 979 ff., dort1018 f.; a.M. YVO HANGARTNER, Unklarheiten bei Volksinitiativen, Bemerkungen aus Anlass des neuen Art. 121 Abs. 3-6 BV [im ![]() ![]() | 10 |
Erwägung 4.2 | |
4.2.1 Verfassungsbestimmungen regeln meist Grundsätzliches und weisen häufig eine geringe Normdichte auf. Die Verfassung bildet keine Einheit, sondern oft eine historisch gewachsene Struktur punktueller, nicht immer bewusst verbundener und aufeinander abgestimmter Prinzipien, Garantien und Aufträge. Solange der Verfassungsgeber einer einzelnen Norm nicht ausdrücklich Vorrang einräumt, ist auslegungsmässig grundsätzlich von einer Gleichwertigkeit der Regelungen auszugehen (vgl. BGE 128 II 1 E. 3d S. 10 f.; vgl. PIERRE TSCHANNEN, Verfassungsauslegung [im Folgenden: Verfassungsauslegung], in: Verfassungsrecht der Schweiz, Thürer/Aubert/Müller [Hrsg.], 2001, S. 149 ff., dort 153). Die Verfassung ist neben dem bei der Auslegung des einfachen Gesetzesrechts anzuwendenden Methodenpluralismus (vgl. BGE 131 I 74 E. 4.1 S. 80; hierzu: WIEDERKEHR/RICHLI, Praxis des allgemeinen Verwaltungsrechts, Bd. I, 2012, Rz. 941 ff.; HÄFELIN/HALLER/KELLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 8. Aufl. 2012, Rz. 128 ff.; PÉREZ/BREMER/HOFMANN, A.A.O., S. 39; PIERRE TSCHANNEN, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft [im Folgenden: Staatsrecht], 3. Aufl. 2011, § 4 Rz. 5 f.) mit Blick auf die Strukturprinzipien, die Völkerrechtskonformität und eine minimale Einheit zu interpretieren (TSCHANNEN, Verfassungsauslegung, a.a.O., S. 158 f.). Sie soll ein Mindestmass an Widerspruchsfreiheit aufweisen, weshalb einzelne Bestimmungen nicht ausschliesslich im Sinne von Initianten (vgl. WIEDERKEHR/RICHLI, a.a.O., Rz. 942) - isoliert und punktuell betrachtet - verstanden werden können.
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4.2.2 Die Verfassungsinterpretation ist einem möglichst schonenden Ausgleich der verschiedenen Verfassungs- und Grundrechtsinteressen verpflichtet; sie soll praktische Konkordanz schaffen (vgl. BGE 129 I 173 E. 5.1; BGE 126 III 129 E. 8a; TSCHANNEN, Staatsrecht, a.a.O., § 4 Rz. 38 ff.; derselbe, Verfassungsauslegung, a.a.O., S. 158 f.; RHINOW/SCHEFER, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 520 ff.; HANGARTNER, Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S. 473; KONRAD HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 [Neudruck 1999], Rz. 70 ff.; REICH, a.a.O., S. 516). ![]() ![]() | 12 |
Dass eine Verfassungsbestimmung absolut gelten und im Einzelfall keiner Abwägung mit anderen Interessen zugänglich sein soll, ist zwar nicht ausgeschlossen (BGE 138 II 281 E. 6.2 mit Hinweisen); es kann sogar sein, dass der neue Verfassungstext bei gegenläufigen Grundrechtsinteressen die erforderliche Güterabwägung selber vornimmt und zum Ausdruck bringt, dass das eine Grundrecht dem anderen vorgeht und dieses im Konfliktfall verdrängt (BGE 128 I 63 E. 5). Dies ist aber nicht leichthin anzunehmen, erst recht nicht, wenn eine Verfassungsnorm in Widerspruch zu grundrechtlichen Ansprüchen gerät, welche in für die Schweiz verbindlichen Menschenrechtspakten garantiert sind (dazu E. 5).
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4.2.3 Verfassungsbestimmungen können genügend bestimmt sein, um mit ihrem Inkrafttreten ohne ausführende Gesetzgebung - ganz oder teilweise - mit Wirkungen auch für Private unmittelbar Anwendung zu finden (vgl. HANGARTNER, Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S. 472; derselbe, Unmittelbare Anwendbarkeit völker- und verfassungsrechtlicher Normen, ZSR 126/2007 I S. 137 ff., dort 154 ff.). Ob dies der Fall ist, muss auslegungsmässig ermittelt werden, wobei den diesbezüglich bestehenden verfassungsrechtlichen Besonderheiten Rechnung zu tragen ist (vgl. TSCHANNEN, Staatsrecht, a.a.O., 3. Aufl. 2011, § 4 Rz. 6 ff. mit Hinweisen; JULIA SZEMERÉDY, Verfassungsauslegung als methodologisches Grundproblem im Lichte der ![]() ![]() | 14 |
Erwägung 4.3 | |
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4.3.2 Eine direkte Anwendbarkeit setzte aufgrund des Legalitäts prinzips voraus, dass Tatbestand und Rechtsfolgen genügend genau formuliert sind, sodass der Einzelne sein Verhalten danach richten kann (BGE 125 I 361 E. 4a S. 364). Dies mag zwar für einzelne der in Art. 121 Abs. 3 BV genannten Verhaltensweisen der Fall sein, doch bildet die Abstimmung der gestützt auf Art. 121 Abs. 3-6 BV zu einer Aufenthaltsbeendigung führenden Straffälligkeit wertungsmässig ein erst noch zu konkretisierendes Gesamtsystem, aus dem nicht rechtsprechungsmässig einzelne Delikte herausgelöst werden können, soll es nicht zu Widersprüchen zwischen dem alten (Art. 62 ff. AuG) und dem neuen System (Art. 121 Abs. 3-6 BV) der ausländerrechtlichen Konsequenzen strafbaren Verhaltens kommen. Die Art. 121 Abs. 3-6 BV sind nicht hinreichend klar formuliert, um ihre direkte Anwendbarkeit begründen zu können, zumal eine solche in Widerspruch zu anderen verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben - insbesondere den die schweizerische Verfassungsordnung prägenden Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns (Art. 5 BV: Bindung an das Recht, Verhältnismässigkeit, Treu und Glauben, Beachtung des Völkerrechts) und des Respekts der verfassungsmässigen ![]() ![]() | 16 |
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4.3.4 Bei Art. 121 Abs. 3 BV handelt es sich als Ganzes ohne die erforderliche Feinabstimmung auf Gesetzesstufe deshalb um eine wertungsmässig offene Norm, die dem Gesetzgeber einen Konkretisierungsspielraum belässt. Ihr Verhältnis zu den anderen Verfassungsbestimmungen und -prinzipien bedarf der Klärung. Diese kann - aus Gründen der Gewaltenteilung - zurzeit nicht durch das ![]() ![]() | 18 |
Erwägung 5 | |
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5.1 Im Falle eines Normenkonflikts zwischen dem Völkerrecht und einer späteren Gesetzgebung geht die Rechtsprechung grundsätzlich vom Vorrang des Völkerrechts aus; vorbehalten bleibt gemäss der "Schubert"-Praxis der Fall, dass der Gesetzgeber einen Konflikt mit dem Völkerrecht ausdrücklich in Kauf genommen hat (BGE 99 Ib 39 E. 3 und 4 ["Schubert"]; BGE 125 II 417 E. 4d S. 425 ["PKK"]; 133 V 367 E. 11.1.1; BGE 136 III 168 E. 3.3.4). Die Rechtsprechung hat die Anwendung der "Schubert-Praxis" im Falle eines Widerspruchs zu Menschenrechtskonventionen (BGE 125 II 417 E. 4d; BGE 131 II 352 E. 1.3.1; BGE 136 II 241 E. 16.1) verneint; die Frage in einem Einzelfall aber auch offengelassen (BGE 136 III 168 E. 3.3.4). In einem jüngsten Entscheid zur Problematik hat das Bundesgericht den Vorrang des Völkerrechts bzw. die Bindung an dieses bestätigt (BGE 138 II 524 E. 5.1): Besteht ein echter Normkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor (BGE 135 II 243 E. 3.1 S. 249; BGE 125 II 417 E. 4d S. 425); dies gilt selbst für Abkommen, die nicht Menschen- oder Grundrechte zum Gegenstand haben (BGE 136 II 241 E. 16.1 S. 255; BGE 122 II 485 E. 3a S. 487; vgl. auch MÜLLER, Minarettverbot, a.a.O., Rz. 10 und ![]() ![]() | 20 |
Erwägung 5.2 | |
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5.2.3 Dies ist wie dargelegt hier nicht der Fall (vgl. E. 3). Mit der EMRK und der Möglichkeit der Individualbeschwerde hat die Schweiz nicht nur die konventionsmässigen materiellen Garantien, sondern auch deren Durchsetzungsmechanismus und die Pflicht übernommen, im Nachgang zu den Urteilen des EGMR die jeweils erforderlichen individuellen und allgemeinen Massnahmen zu treffen, um künftige ähnliche Konventionsverletzungen - nötigenfalls auch durch eine Anpassung des nationalen Rechts - zu verhindern (vgl. Art. 1 und 46 EMRK; Art. 61 des Reglements des EGMR [Fassung vom 1. September 2012]; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., § 16 Rz. 8 ff., zu den "infringement proceedings": Rz. 10 ff.; MEYER-LADEWIG, a.a.O., Rz. 25 f., 37 und insbesondere 41 zu Art. 46 EMRK; XAVIER-BAPTISTE ![]() ![]() | 23 |
5.3 Das Bundesgericht ist auch bei Berücksichtigung von Art. 121 Abs. 3 BV hieran gebunden. Es hat die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebenden Vorgaben weiterhin umzusetzen (vgl. Art. 190 BV). Es kann in der durch diese gebotenen Interessenabwägung der vom Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten Wertung insoweit Rechnung tragen, als dies zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht bzw. zu Konflikten mit dem Beurteilungsspielraum führt, den der EGMR den einzelnen Konventionsstaaten bei der Umsetzung ihrer Migrations- und Ausländerpolitik zugesteht. In diesem Rahmen kann die erforderliche Interessenabwägung jedoch nicht schematisierend auf einzelne im Verfassungsrecht mehr oder weniger klar umschriebene Anlasstaten reduziert werden, ohne dass der Strafhöhe und den weiteren zur Rechtfertigung des mit der Aufenthaltsbeendigung verbundenen Eingriffs in das Privat- und Familienleben erforderlichen Aspekten Rechnung getragen wird (vgl. auch REICH, a.a.O., S. 517). ![]() | 24 |
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