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32. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Junge SVP Kanton Zürich, Jungfreisinnige Kanton Zürich und Lothe gegen Kantonsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_659/2020 vom 11. März 2021 | |
Regeste |
Art. 37 Abs. 1 KV/ZH; Art. 34 Abs. 1 BV; Voraussetzungen für die Dringlicherklärung eines kantonalen Gesetzes (Urnenabstimmungsgesetz/ZH). |
Angesichts der volatilen rechtlichen und gesundheitlichen Lage im Herbst 2020 bestand ein erhebliches Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung des Gesetzes, namentlich um die Beschluss- und Funktionsfähigkeit der zürcherischen Gemeinden sicherzustellen; die zeitliche Dringlichkeit ist gegeben (E. 2.5). |
Das Urnenabstimmungsgesetz betrifft angesichts der erheblich gefährdeten Gesundheit der Stimmberechtigten bei der Durchführung von Gemeindeversammlungen eine wichtige Angelegenheit; es liegen zwingende ausserordentliche Gründe vor, die eine Dringlicherklärung rechtfertigen (E. 2.6.2). Die Gemeinden haben bei der Wahl des geeigneten Instruments der Beschlussfassung (Gemeindeversammlung oder Urne) das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten (E. 2.7). | |
Sachverhalt | |
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§ 1. 1 Die Gemeindevorstände von Versammlungsgemeinden sind befugt, in Abweichung von §§ 10 Abs. 2 lit. a und b, 101 Abs. 2 und 128 Abs. 2 des Gemeindegesetzes vom 20. April 2015 (GG) zur Festsetzung des Budgets und des Steuerfusses sowie zur Genehmigung der Jahresrechnung eine Urnenabstimmung anzuordnen.
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2 Die Stimmberechtigten beschliessen über Budget und Steuerfuss in einer Vorlage.
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3 Beantragt der Gemeindevorstand einen gegenüber dem Vorjahr geänderten Steuerfuss, unterbreitet er den Stimmberechtigten in der Urnenabstimmung als Varianten
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a) ein Budget mit dem geänderten Steuerfuss und
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b) ein Budget mit dem Steuerfuss gemäss Vorjahr. ![]() | 6 |
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a) für weitere Geschäfte, die gestützt auf §§ 10 Abs. 2 lit. e und 15 Abs. 1 GG gemäss kantonalem Recht oder gemäss Gemeindeordnung in die Zuständigkeit der Gemeindeversammlung fallen,
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b) in Abweichung von § 16 GG für Vorlagen, die gemäss Gemeindeordnung in einer vorberatenden Gemeindeversammlung zu behandeln sind, ohne diese vorberatende Gemeindeversammlung durchzuführen.
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2 Unzulässig sind Urnenabstimmungen gemäss Abs. 1 lit. a für Erlass und Änderung der Bau- und Zonenordnung sowie von Gestaltungsplänen.
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§ 3. Dieses Gesetz gilt bis zum 31. März 2021.
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Der Kantonsrat hat dieses Gesetz gemäss Art. 37 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Zürichs (KV/ZH; SR 131.211) als dringlich erklärt. Es wurde am 27. November 2020 im Amtsblatt des Kantons Zürich veröffentlicht und trat am 30. November 2020 in Kraft.
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B. Am 30. November 2020 erhoben die Junge SVP Kanton Zürich, die Jungfreisinnigen Kanton Zürich und Camille Lothe gegen das Urnenabstimmungsgesetz Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie beantragen, die Dringlichkeitsklausel des angefochtenen Gesetzes sei aufzuheben. (...)
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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Die Beschwerdeführerinnen 1 und 2 sind im Kanton Zürich aktive politische Parteien mit juristischer Persönlichkeit. Sie sind somit zur Beschwerde befugt. Die Beschwerdeführerin 3 ist im Kanton Zürich stimmberechtigt und ebenfalls zur Beschwerde legitimiert.
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2. Die Beschwerdeführerinnen fechten die Dringlicherklärung des Urnenabstimmungsgesetzes an. Sie rügen eine Verletzung von Art. 37 Abs. 1 KV/ZH und indirekt von Art. 34 Abs. 1 BV. Sie machen geltend, die Voraussetzungen für die Dringlicherklärung des Urnenabstimmungsgesetzes seien nicht erfüllt. Es handle sich beim dringlich erklärten Gesetz nicht um eine gewichtige Angelegenheit und die ![]() ![]() | 22 |
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Steht die Verfassungsmässigkeit oder allgemein die Vereinbarkeit eines kantonalen Erlasses mit übergeordnetem Recht in Frage, so ist im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle massgebend, ob der betreffenden Norm nach anerkannten Auslegungsregeln ein Sinn beigemessen werden kann, der sie mit den angerufenen übergeordneten Normen vereinbar erscheinen lässt. Das Bundesgericht hebt eine kantonale Norm nur auf, wenn sie sich jeder Auslegung entzieht, die mit dem übergeordneten Recht vereinbar ist, nicht jedoch, wenn sie einer solchen in vertretbarer Weise zugänglich ist. Der blosse Umstand, dass die angefochtene Norm in einzelnen Fällen gegen übergeordnetes Recht verstossen könnte, führt für sich allein noch nicht zu deren Aufhebung ( BGE 143 I 426 E. 2 mit Hinweis).
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"1 Gesetze, deren Inkrafttreten keinen Aufschub erträgt, können vom Kantonsrat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder sofort in Kraft gesetzt werden.
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2 Wird das Referendum ergriffen, so findet die Volksabstimmung innert sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes statt.
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3 Wird das Gesetz abgelehnt, so tritt es unmittelbar nach der Volksabstimmung ausser Kraft."
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Betreffend die in der Genfer Kantonsverfassung vorgesehene Dringlichkeitsklausel hat das Bundesgericht in BGE 130 I 226 E. 3.2 festgehalten, dass diese - analog zu Art. 165 BV - restriktiv auszulegen ist. Dies rechtfertigt sich dadurch, dass mit der Dringlicherklärung vom ordentlichen Verfahren abgewichen wird und die Referendumsrechte der Stimmberechtigten im Einzelfall eingeschränkt werden. In der Lehre ist diesbezüglich von einem "Einbruch in die Referendumsrechte des Volkes" (HANGARTNER/KLEY, a.a.O., Rz. 2224) die Rede und von einer "Regelwidrigkeit", da der Grundsatz durchbrochen wird, wonach die Stimmberechtigten noch vor Inkrafttreten einer Novelle in den Gesetzgebungsprozess eingreifen dürfen (TSCHANNEN, a.a.O., N. 6 zu Art. 165 BV). Die gleichen Überlegungen treffen auf Art. 37 Abs. 1 KV/ZH zu, weshalb auch diese Bestimmung restriktiv auszulegen ist.
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Zur Zulässigkeit der Dringlicherklärung hält der Kommentar zum Art. 37 KV/ZH fest, das Inkrafttreten des Gesetzes dürfe keinen Aufschub ertragen. Das Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung müsse erheblich sein. Es müssten zwingende, ausserordentliche Gründe vorliegen. Die blosse Wünschbarkeit des sofortigen Inkrafttretens genüge nicht. Das Interesse an der Möglichkeit, ein Gesetz sofort anwenden zu können, sei gegen das Interesse an der Wahrung der demokratischen Mitwirkungsrechte der Stimmberechtigten im ordentlichen Referendumsverfahren abzuwägen. Das erstgenannte Interesse sei umso grösser, je schwerer die Nachteile wögen, wenn das Gesetz nicht sofort angewandt werden könne, und je grösser die Zahl der davon Betroffenen sei. Das Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung könne von vornherein nur bei Gesetzen überwiegen, die eine wichtige Sache beträfen (so CHRISTIAN SCHUMACHER, in: Kommentar zur Zürcher Kantonsverfassung, 2007, N. 13 zu Art. 37 KV mit Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind im Folgenden zu prüfen (vgl. BGE 130 I 226 E. 3).
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Nachdem die Covid-19-Pandemie Anfang des Jahres 2020 in der Schweiz ausgebrochen war und der Bundesrat deswegen am 18. März 2020 die ausserordentliche Lage gemäss Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (EpG; SR 818.101) erklärt hatte, sanken die täglich registrierten Fallzahlen während der Frühlingsmonate allmählich (vgl. zu den in der sog. ersten Welle ergriffenen Massnahmen auch Urteil 1C_169/2020 vom 22. Dezember 2020 E. 2.4). Anfang Herbst 2020 nahmen die Covid-19-Fallzahlen in der Schweiz jedoch wieder stark zu. Während die 14-Tages-Inzidenz (Anzahl der neu gemeldeten, laborbestätigten infizierten Personen in den letzten 14 Tagen, pro 100'000 Einwohnerinnen und Einwohner) am 1. September 2020 schweizweit 47.4 und am 1. Oktober 2020 59.31 betrug, belief sich diese Zahl einen Monat später, am 1. November 2020, auf 1109.59 und damit auf ein Vielfaches im Vergleich zu jener anfangs Oktober 2020. In der Woche des Erlasses des Urnenabstimmungsgesetzes durch den Kantonsrat war dieser Wert zwar im schweizweiten Vergleich wieder etwas gesunken (auf rund 772), die Lage im Kanton Zürich hatte sich jedoch im Vergleich zu anderen Kantonen weniger stark entschärft. So betrug im Kanton Zürich die 14-Tage-Inzidenz am 1. Oktober 2020 61.07, am 1. November 2020 804.99 und am 23. November 2020 immer noch 633.29; dieser Wert stieg im Übrigen bis zum 20. Dezember 2020 wieder bis auf 769.26 an (vgl. die auf www.covid19.admin.ch/de/overview publizierten Statistiken, Stand: 9. März 2021).
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Parallel zu den Neuansteckungen nahmen auch die Hospitalisierungen zu. Während der 7-Tage-Schnitt der täglichen neuen Hospitalisierungen in absoluten Zahlen am 1. Oktober 2020 23 (Schweiz) bzw. 3.29 (Zürich) betrug, stieg er bis zum 1. November 2020 auf 233.71 (Schweiz) bzw. 24.71 (Zürich). Danach sank diese Zahl zwar schweizweit langsam; im Kanton Zürich nahm der Wert jedoch weiter zu - kurz nach Verabschiedung des Urnenabstimmungsgesetzes durch den Kantonsrat, am 1. Dezember 2020, lag der 7-Tage-Schnitt der neuen täglichen Hospitalisierungen bei 25.71 und am 15. Dezember 2020 bei 35 (vgl. die auf www.covid19.admin.ch/de/overview publizierten Statistiken, Stand: 9. März 2021; die ![]() ![]() | 35 |
Auch die Anzahl coronabedingter Todesfälle folgte - zeitlich etwas verschoben - den Zahlen der Neuansteckungen und der Hospitalisierungen. Der 7-Tage-Schnitt der täglichen Todesfälle in absoluten Zahlen betrug am 1. Oktober 2020 1.57 (Schweiz) bzw. 0.14 (Zürich), am 1. November 2020 62.29 (Schweiz) bzw. 4.86 (Zürich) und am 1. Dezember 2020 84.86 (Schweiz) bzw. 11.29 (Zürich). Dieser Wert stieg im Kanton Zürich bis zum 23. Dezember 2020 bis auf 17.71 an und sank danach allmählich (vgl. die auf www.covid19.admin.ch/de/overview publizierten Statistiken, Stand: 9. März 2021).
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In der Botschaft vom 18. November 2020 zum Bundesbeschluss über den Assistenzdienst der Armee zur Unterstützung des zivilen Gesundheitswesens im Rahmen der Massnahmen zur Bekämpfung der zweiten Welle der Covid-19-Epidemie - und damit fünf Tage vor Erlass des hier umstrittenen Urnenabstimmungsgesetzes - fasste der Bundesrat die damalige epidemiologische Lage folgendermassen zusammen: "Seit Beginn der zweiten Welle, Ende September, sind die Covid-19-Fallzahlen dramatisch angestiegen und mit ihnen auch die Hospitalisationen und die Anzahl Patientinnen und Patienten auf Intensivpflegestationen (IPS)". Die hohe Positivitätsrate von anfangs November 2020 von annähernd 25 Prozent und die Verdoppelung der Fallzahlen alle sechs Tage (in gewissen Kantonen alle vier Tage) hätten die Dramatik der Situation gezeigt. Die Swiss National Covid-19 Science Task Force habe ausserdem damit gerechnet, dass die IPS in weniger als drei Wochen überlastet sein würden (BBl 2020 8805 ff., 8808).
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Der Bundesrat reagierte auf diese zweite Welle der Covid-19-Pandemie in der Schweiz mit verschiedenen, teilweise einschneidenden Massnahmen, wobei im Folgenden nur auf die weitgehenden Einschränkungen von Versammlungen einzugehen ist. Für den vorliegenden Fall ist ausserdem zu berücksichtigen, dass der Bundesrat die Verordnung vom 19. Juni 2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26) zwischen dem 1. Oktober 2020 und dem 2. November 2020 vier Mal an die sich verschärfende epidemiologische Lage anpasste. Während in der ![]() ![]() | 38 |
Während des gesamten Herbstes bzw. Winters 2020/2021, d.h. auch im Zeitpunkt des Erlasses des Urnenabstimmungsgesetzes, galten besondere Bestimmungen für Versammlungen politischer Körperschaften (Art. 6c Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage). So unterlagen Versammlungen von Legislativen auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene zwar keinen Beschränkungen der Personenzahl, jedoch der allgemeinen Maskentragepflicht sowie einer Schutzkonzeptpflicht (Erläuterungen zur Covid-19-Verordnung besondere Lage, Version vom 5. März 2021, S. 21).
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2.5.2 Die kantonalen Behörden begründen das Vorliegen zeitlicher Dringlichkeit des Gesetzes damit, dass Gemeinden möglichst rasch zu ermöglichen sei, von einer Gemeindeversammlung auf eine Urnenabstimmung umzustellen, um unerlässliche Beschlüsse noch ![]() ![]() | 42 |
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Gemäss den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen des Regierungsrats in seinem Bericht zum Antrag an den Kantonsrat war aufgrund der üblichen Vorlaufzeiten eine Urnenabstimmung frühestens am 31. Januar 2021 möglich; danach hätten Versammlungsgemeinden, die sich für die Durchführung einer Urnenabstimmung entschieden hätten, zwischen dem 1. und dem 31. Januar 2021 mangels Gemeindebudget nur noch die für die ordentliche und wirtschaftliche Verwaltungstätigkeit unerlässlichen Ausgaben tätigen können (§ 101 Abs. 3 GG/ZH). Dieser finanzpolitische Ausnahmezustand wäre in diesen Gemeinden mit jeder Verzögerung der Inkraftsetzung des Urnenabstimmungsgesetzes verlängert worden, was es aus ordnungspolitischer Sicht zu vermeiden galt. Sollte eine Versammlungsgemeinde ihren Steuerfuss bis Ende März nicht ![]() ![]() | 44 |
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2.6.2 Das Interesse an der sofortigen Inkraftsetzung kann von vornherein nur bei Gesetzen überwiegen, die eine wichtige Sache betreffen (SCHUHMACHER, a.a.O., N. 13 zu Art. 37 KV mit Hinweisen; vorne E. 2.3). Die Covid-19-Pandemie brachte für Menschenansammlungen eine hohe Gefahr einer weiteren Verbreitung des gefährlichen Virus und für die Rechtsetzung viele Unsicherheiten mit sich. Ab dem 29. Oktober 2020 ist ein sehr weitgehendes ![]() ![]() | 47 |
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2.7 Im Interesse, die Funktionsfähigkeit der Gemeinden aufrechtzuerhalten, die kommunalen politischen Rechte optimal zu gewährleisten und die Pandemie zu bekämpfen, erträgt das Inkrafttreten ![]() ![]() | 49 |
Die Gemeinden haben bei der Wahl des geeigneten Instruments der Beschlussfassung (Gemeindeversammlung oder Urne) jedoch das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten (Art. 5 Abs. 2 BV).
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