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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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44. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 24. August 1998 i.S. Erben P. gegen Kantonales Steueramt Zürich und Bundessteuer-Rekurskommission des Kantons Zürich (Revisionsgesuch) | |
Regeste |
Art. 50 EMRK, Art. 53 EMRK; Art. 113 Abs. 3 BV, Art. 114bis Abs. 3 BV; Art. 139a OG; Haftung der Erben für die vom Erblasser verschuldete Busse (Art. 130 Abs. 1 BdBSt); Revision des bundesgerichtlichen Urteils wegen Feststellung einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (i.c. Art. 6 Ziff. 2) durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. |
Verhältnis von Art. 139a OG zu Art. 50 EMRK. Die Revision nach Art. 139a OG ist nur zulässig, wenn Wiedergutmachung nicht anderweitig möglich ist. Der Schuldvorwurf, der den Gesuchstellern nach dem Urteil des Gerichtshofes zu Unrecht gemacht wurde, weil sie für die vom Erblasser verschuldete Busse haftbar erklärt wurden (Art. 130 Abs. 1 BdBSt), kann nur durch Wiederaufnahme des staatlichen Verfahrens beseitigt werden (E. 2). |
Die EMRK-widrige Norm ist nicht mehr anzuwenden, auch wenn der Gerichtshof nur den in Anwendung dieser Norm ergangenen individuell-konkreten Anwendungsakt als konventionswidrig bezeichnet hat. Verhältnis von Art. 139a OG zu Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 BV (E. 3). |
Rückerstattung der Steuerbusse; Verzinsung (E. 4). | |
Sachverhalt | |
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Am 19. September 1990 bestätigte die Bundessteuer-Rekurskommission des Kantons Zürich diese Nachsteuer- und Bussenauflage. Eine gegen diesen Entscheid gerichtete Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil vom 5. Juli 1991 ab.
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Die Erben erhoben gegen dieses Urteil eine Individualbeschwerde bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte. Sie rügten darin, es werde ihnen ohne persönliches Verschulden eine Busse auferlegt; das verletze die Vermutung der Schuldlosigkeit gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Zudem beklagten sie sich darüber, dass ihnen die besonderen Verfahrensgarantien nach Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK bisher nicht gewährt worden seien. Mit Bericht vom 18. April 1996 verneinte die Europäische Kommission für Menschenrechte eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 2 EMRK, weil die Beschwerdeführer nicht als "wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte" anzusehen seien. Eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erblickte die Kommission jedoch in der fehlenden Öffentlichkeit der Verhandlung.
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Die Sache wurde durch die Kommission beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte innerhalb der Frist von drei Monaten anhängig gemacht (Art. 32 Ziff. 1, 47 EMRK). Mit Urteil vom 29. August 1997 erkannte der Gerichtshof:
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1. mit sieben zu zwei Stimmen, dass Art. 6 Ziff. 2 (der Konvention) im vorliegenden Fall Anwendung findet und verletzt worden ist;
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2. einstimmig, dass die behauptete Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 und 3 der Konvention nicht zu prüfen ist;
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3. einstimmig,
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a) dass der beklagte Staat den Beschwerdeführern innert drei Monaten Fr. 7'000.- für die im Verfahren vor den Strassburger Organen erwachsenen Kosten und Auslagen zu bezahlen hat;
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b) dass dieser Betrag nach Ablauf dieser Frist und bis zur Bezahlung um einen jährlichen Zins von 5% zu erhöhen ist.
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Am 15. September 1997 ersuchten die Erben gestützt auf Art. 139a OG um Revision des Urteils des Bundesgerichts vom 5. Juli 1991 und um Rückerstattung der bezahlten Busse.
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Das Bundesgericht heisst das Revisionsgesuch gut, hebt das Urteil vom 5. Juli 1991 auf und entscheidet über die Verwaltungsgerichtsbeschwerde neu. Es heisst die Beschwerde gut, soweit sie sich gegen ![]() | 11 |
Aus den Erwägungen: | |
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b) Art. 139a OG, auf den das Revisionsgesuch sich stützt, wurde mit der Änderung vom 4. Oktober 1991 eingeführt und steht seit dem 15. Februar 1992 in Kraft. Die Vorschrift bildete im Zeitpunkt der Einreichung des Revisionsgesuchs (15. September 1997), nicht jedoch im Zeitpunkt, da das hier angefochtene Urteil des Bundesgerichts gefällt wurde (5. Juli 1991), geltendes Recht, so dass sich die intertemporalrechtliche Frage stellt.
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Ziff. 3 Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 4. Oktober 1991 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) bestimmt:
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Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts und des Eidgenössischen Versicherungsgerichts anwendbar, auf ein Beschwerde- oder Berufungsverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist.
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Die Revision nach Art. 139a OG wird vom Vorbehalt, den die Schlussbestimmung für Beschwerden und Berufungen aufstellt, nicht erfasst. Revisionsgesuche sind somit auch dann nach neuem Verfahrensrecht zu beurteilen, wenn der angefochtene Entscheid unter dem alten Recht gefällt worden ist, die Frist zur Anfechtung dieses Entscheides jedoch erst unter dem neuen Recht abläuft. So verhält es sich hier. Dass Ziff. 3 Abs. 1 der Schlussbestimmung die Revisionsgesuche nicht ausdrücklich erwähnt, rechtfertigt es nicht, eine Lücke anzunehmen und Revisionsgesuche gleich zu behandeln wie Berufungen und Beschwerden. Mit der Änderung vom 4. Oktober 1991 wollten Bundesrat und Parlament die zur Entlastung des Bundesgerichts unerlässlichen Massnahmen, aber auch die für die Einhaltung der Konventionsgarantien notwendigen Anpassungen der Verfahrensgesetze des Bundes möglichst rasch einführen, ![]() | 16 |
c) Auf das Revisionsgesuch, das auch den übrigen formellen Anforderungen genügt, ist somit einzutreten.
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1 Die Revision eines Entscheides des Bundesgerichts oder einer Vorinstanz ist zulässig, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte oder das Ministerkomitee des Europarates eine Individualbeschwerde wegen Verletzung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und deren Protokolle gutgeheissen hat und eine Wiedergutmachung nur durch Revision möglich ist.
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2 Stellt das Bundesgericht fest, dass die Revision geboten, aber eine Vorinstanz zuständig ist, so überweist es ihr die Sache zur Durchführung des Revisionsverfahrens.
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3 Die kantonale Vorinstanz hat auch dann auf das Revisionsgesuch einzutreten, wenn das kantonale Recht diesen Revisionsgrund nicht vorsieht.
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c) Weitere Voraussetzung für eine Gutheissung des Revisionsgesuchs nach Art. 139a Abs. 1 OG ist, dass keine andere Möglichkeit der Wiedergutmachung (als jene der Revision) besteht. Diese Voraussetzung ist insbesondere im Zusammenhang mit Art. 50 EMRK zu sehen, wonach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Entschädigung zuspricht, wenn die innerstaatlichen Gesetze nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestatten. In den Materialien zu Art. 139a OG wird ausgeführt, in manchen Fällen werde das Urteil bzw. der Entscheid der europäischen Behörden, allenfalls zusammen mit der Leistung einer Geldsumme als Schadenersatz oder Genugtuung, genügen. Nur wenn dies nicht zutreffe, solle das schweizerische Verfahren wieder aufgerollt werden (Botschaft des Bundesrates vom 18. März 1991 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, BBl 1991 II 529; vgl. BGE 123 I 283 E. 3a).
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Der Schuldvorwurf, der den Gesuchstellern nach dem Urteil des Gerichtshofes zu Unrecht gemacht worden ist, kann auf dem Weg der Entschädigung nicht oder nur unvollkommen wieder gutgemacht werden. Vollkommene Gutmachung ist nur durch Verfahrenswiederaufnahme nach innerstaatlichem Recht möglich, wenn damit der Schuldvorwurf beseitigt werden kann. Der Gerichtshof hat in seinem Entscheid den Gesuchstellern lediglich eine Entschädigung für das Verfahren vor den Strassburger Instanzen zugesprochen, nicht jedoch für das Unrecht, das ihnen durch die Konventionsverletzung erwachsen ist. Er hat damit die Voraussetzungen für ein Vorgehen nach Art. 50 EMRK zumindest vorläufig - implizit - verneint. Einer vollkommenen Wiedergutmachung durch Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens steht damit nichts im Weg. Das Gesuch ist somit grundsätzlich begründet und die Revision nach Art. 139a OG zu gewähren.
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a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, die Haftung der Erben für die vom Erblasser verschuldete Steuerbusse verstosse gegen die Konvention. Diese Feststellung beschränkt sich zwar auf den im Einzelfall ergangenen "innerstaatlichen Vollzugsakt", das heisst auf das vor den Strassburger Organen angefochtene Urteil des Bundesgerichts, doch wurde dieses unmittelbar durch eine "bestimmte Gesetzeslage determiniert", nämlich Art. 130 Abs. 1 BdBSt, den das Bundesgericht anzuwenden hatte (vgl. JÖRG POLAKIEWICZ, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Berlin, Heidelberg usw. 1993, S. 215 ff., besonders 253 ff.). Gemäss dieser Vorschrift haften die Erben "bis zur Höhe ihrer Erbteile solidarisch für die vom Erblasser hinterzogene Steuer und von ihm verwirkten Bussen ohne Rücksicht auf ein eigenes Verschulden." Diese Bestimmung erweist sich nach den Motiven, die der Gerichtshof seinem Entscheid zu Grunde gelegt hat, als konventionswidrig. Wortlaut und Sinn von Art. 130 Abs. 1 BdBSt sind klar, so dass ein mit der Konvention im Einklang stehendes Resultat sich auch nicht durch eine "konventionsfreundliche" Auslegung des Gesetzes erzielen lässt. Die Schweiz kann somit ihren Verpflichtungen aus Art. 50 und 53 EMRK nur nachkommen, wenn sie diese Norm nicht anwendet. Das muss gelten, obschon der Gerichtshof zum Gesetz nicht ausdrücklich Stellung genommen, sondern den individuell-konkreten Anwendungsakt als konventionswidrig bezeichnet hat. Nur in seltenen Fällen stellen nämlich die EMRK-Organe ausdrücklich fest, dass das Gesetz selbst die Konvention verletze (MARK E. VILLIGER, Die Wirkungen der Entscheide der EMRK-Organe im innerstaatlichen Recht, namentlich in der Schweiz, ZSR 104/1985 I S. 495). Es ist nicht anzunehmen, dass der Bundesgesetzgeber bei der Einführung von Art. 139a OG die Wiedergutmachung durch Revision auf die Fälle beschränkt haben ![]() | 27 |
Diese Auslegung von Art. 139a OG steht zu Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 BV nicht im Widerspruch. Nach diesen Bestimmungen ist das Bundesgericht nicht nur an die Bundesgesetzgebung, zu welcher auch der Bundesratsbeschluss vom 9. Dezember 1940 über die Erhebung einer direkten Bundessteuer gehört (BGE 117 Ib 367 E. 1a), sondern auch an die von der Bundesversammlung genehmigten Staatsverträge gebunden. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist somit für das Bundesgericht nicht weniger verbindlich als die Bundesgesetzgebung. Die Verfassungsbestimmungen lösen jedoch den Konflikt nicht, der sich ergibt, wenn ein Bundesgesetz einem Staatsvertrag, hier der Europäischen Menschenrechtskonvention, widerspricht (vgl. BGE 117 Ib 367 E. 2). Insofern stellt Art. 139a OG eine Sondernorm dar, die nach ihrem Sinn und Zweck es dem Richter verbietet, ein Gesetz weiterhin anzuwenden, wenn auf Grund einer Entscheidung des Gerichtshofes oder des Ministerkomitees festgestellt worden ist, dass es der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht.
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b) Ist aber Art. 130 Abs. 1 BdBSt auf Grund der Entscheidung des Gerichtshofes insoweit unanwendbar geworden, so können die Gesuchsteller und Beschwerdeführer nicht für die Bezahlung der vom Erblasser verwirkten Busse haftbar erklärt werden. Ihre Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist gutzuheissen, soweit sie sich gegen die Steuerbusse richtet.
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Hingegen ist die mit Entscheid der Bundessteuer-Rekurskommission vom 19. September 1990 auf Fr. 8'870.40 festgesetzte Nachsteuer zu bestätigen mit den Erwägungen, die das Bundesgericht bereits im Entscheid vom 5. Juli 1991 (E. 2a) angestellt hat. Auch der Gerichtshof konnte darin, dass die Erben für die Nachsteuer solidarisch haftbar erklärt wurden, keine Menschenrechtsverletzung erkennen. Insoweit wird der aufgehobene Entscheid durch den Revisionsgrund nicht berührt und ist das Bundesgericht an sein früheres Urteil und dessen Erwägungen gebunden. Die Beschwer-deführer verlangen denn auch - mit Recht - keine Revision des Entscheides in Bezug auf die Nachsteuern.
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