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4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kanton Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_45/2007 vom 30. November 2007 | |
Regeste |
Art. 2 Abs. 1 OHG; opferhilferechtlicher Begriff der Straftat. | |
Sachverhalt | |
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Das am 10. Oktober 2003 gestellte Gesuch um opferhilferechtliche Entschädigung und Genugtuung wurde mit Verfügung vom 17. Oktober 2003 von der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, bis zum Abschluss des Straf- und Staatshaftungsverfahrens sistiert.
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Mangels Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Polizeibeamten stellte die Bezirksanwaltschaft Zürich das Strafverfahren ein. Der gegen die ![]() | 3 |
In der Folge wies die Kantonale Opferhilfestelle das Gesuch um Opferhilfeleistungen mit Verfügung vom 1. Juni 2006 ab. Sie begründete diesen Entscheid damit, dass aufgrund der Ergebnisse des Strafverfahrens keine Straftat vorliege. Der Gesuchsteller habe daher keine opferhilferechtlichen Ansprüche, weshalb es sich erübrige, den Ausgang des Staatshaftungsverfahrens abzuwarten. Gegen diese Verfügung erhob X. Beschwerde und beantragte neben deren Aufhebung die Gewährung von Sofort- und Langzeithilfe sowie Entschädigungs- und Genugtuungsleistungen, eventualiter Sofort- und Beratungshilfe für die Durchsetzung seiner Ansprüche. Des Weitern stellte er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung. Mit Urteil vom 2. Februar 2007 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, die Beschwerde ab. Es schützte den Standpunkt der Kantonalen Opferhilfestelle, mangels Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Beamten liege keine Straftat vor. Die Polizeibeamten hätten bei ihrer Aktion vom 4. November 2001 im Sinne eines Sachverhaltsirrtums geglaubt, in Ausübung ihrer Amtspflicht zu handeln, und seien - unter Berücksichtigung dieses Sachverhaltsirrtums - gesetzmässig und verhältnismässig vorgegangen. Somit liege ein Rechtfertigungsgrund vor, und X. komme demzufolge nicht Opfereigenschaft im Sinne des OHG zu. Ferner wies das Sozialversicherungsgericht das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ab.
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B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X. beim Bundesgericht die Aufhebung des Urteils des Sozialversicherungsgerichts, die Zusprechung von Sofort- und Langzeithilfe sowie Entschädigung und Genugtuung, eventuell die Zusprechung von Sofort- und Beratungshilfe für die Durchsetzung seiner opferhilferechtlichen Ansprüche.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 5 | |
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5.3 Beim Sachverhaltsirrtum handelt es sich um einen Vorsatzmangel (vgl. GUIDO JENNY, in: Alexander Niggli/Hans Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I, Rz. 8 zu Art. 19 aStGB). Dieser ist in Art. 19 des zur Zeit der zu beurteilenden Handlungen der Polizeibeamten in Kraft stehenden Fassung des StGB (gleichermassen in Art. 13 des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches) folgendermassen normiert: Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt der Richter die Tat zugunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat (Art. 19 Abs. 1 aStGB, Art. 13 Abs. 1 StGB). Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Verübung der Tat mit Strafe bedroht ist (Art. 19 Abs. 2 aStGB, Art. 13 Abs. 2 StGB). Dem Sachverhaltsirrtum gleichgestellt ist der Fall, dass der Täter irrigerweise einen Sachverhalt für gegeben hält, der, läge er wirklich vor, sein Verhalten als gerechtfertigt erscheinen liesse (Putativrechtfertigung). Zwar handelt der Täter in dieser Konstellation nicht ohne tatbestandsmässigen Verwirklichungswillen. Jedoch richtet sich der Wille des Täters nicht auf die Verwirklichung von Unrecht, sondern auf die Ausübung eines Rechts, so dass es im Ergebnis gleich wie beim Sachverhaltsirrtum an dem für vorsätzliches Verhalten charakteristischen Handlungsunwert fehlt. Der Täter haftet aber für fahrlässige Begehung, wenn er den Irrtum bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte vermeiden können und eine entsprechende Strafdrohung besteht (vgl. BGE 129 IV 6 E. 3.2 S. 14; BGE 125 IV 49 E. 2e S. 56 ff.; BGE 123 IV 97 E. 2c S. 98 f.; BGE 106 IV 1 E. 2a S. 3; BGE 102 IV 65 E. 2 S. 67 f.; JENNY, a.a.O., Rz. 12 zu Art. 19 aStGB; GÜNTER STRATENWERTH/WOLFGANG WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch - Handkommentar, Bern 2007, Rz. 4 zu Art. 13 StGB; KURT SEELMANN, Strafrecht - Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Basel/ Genf/München 2005, S. 80 f.; ANDREAS DONATSCH/BRIGITTE TAG, Strafrecht I - Verbrechenslehre, 8. Aufl., Zürich 2006, S. 214 f.).
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Das Sozialversicherungsgericht schloss sich dem vom Obergericht vertretenen Standpunkt an, dass die Polizeibeamten einerseits im Sinne eines Sachverhaltsirrtums glaubten, in Ausübung ihrer Amtspflicht zu handeln, und andererseits - unter Berücksichtigung dieses Irrtums - gesetzmässig und verhältnismässig vorgegangen seien. Somit sei ein Rechtfertigungsgrund für die physische Beeinträchtigung des Beschwerdeführers gegeben. Eine Straftat liege nicht vor, weshalb dem Beschwerdeführer keine Opferstellung zukomme. Es stellt sich vorliegend die Frage, ob trotz mangelnder Fahrlässigkeit der Polizeibeamten bezüglich ihres Irrtums über die Person des zu Verhaftenden und über den fehlenden Rechtfertigungsgrund für ihr Handeln entgegen der Auffassung des Sozialversicherungsgerichts unter opferhilferechtlichen Gesichtspunkten die Opferstellung des Beschwerdeführers bejaht werden muss.
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Das Bundesgericht legte in den Entscheiden BGE 122 II 315 (E. 3c S. 320) und BGE 122 II 211 (E. 3b S. 215) dar, dass die Körperverletzung oder Tötung für die Begründung der Opferstellung nicht genügt, sondern diese mindestens fahrlässig begangen worden sein muss. In nachfolgenden Entscheiden vertiefte und bestätigte das ![]() ![]() | 12 |
Im vorliegenden Fall steht eine Körperverletzung zur Diskussion, welche die Polizeibeamten dem Beschwerdeführer im Zuge der Festnahme zufügten. Wie oben dargelegt (E. 5.3) irrten sich die Beamten in der Person des zu Verhaftenden und dementsprechend im Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes der Amtspflicht nicht aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit. Infolgedessen konnte ihnen der Übergriff nicht als fahrlässig begangene Körperverletzung strafrechtlich zur Last gelegt werden (Art. 19 Abs. 2 aStGB e contrario). Da vorliegend somit nur der objektive, nicht aber der subjektive Tatbestand des Körperverletzungsdelikts erfüllt war, liegt keine Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG vor und ist die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers zu verneinen.
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5.5 Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlass. Im revidierten Opferhilfegesetz vom 23. März 2007 (BBl 2007 S. 2299; Ablauf der Referendumsfrist am 12. Juli 2007) wurde der Begriff des Opfers als Grundsatz unverändert übernommen (vgl. die Botschaft vom 27. Dezember 2005 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten, BBl 2005 S. 7203). Gemäss Art. 1 Abs. 1 des noch nicht in Kraft stehenden revidierten OHG hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe). Art. 1 Abs. 3 des revidierten OHG bestimmt, dass der Anspruch auf Opferhilfe unabhängig davon besteht, ob der Täter oder die Täterin ermittelt worden ist (lit. a), sich schuldhaft verhalten hat (lit. b) oder vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat (lit. c). Neu ist die ausdrückliche Erwähnung im Gesetzestext, dass es für die Opferqualifikation nicht darauf ankommt, ob auf der subjektiven Tatbestandsseite Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorliegt. Dem Wortlaut von Art. 1 des revidierten OHG ist indessen nicht zu entnehmen, dass der Begriff der Straftat als objektiv und subjektiv tatbestandsmässiges, rechtswidriges Verhalten eine Veränderung erfahren hätte. Auch die Materialien zum neuen OHG lassen nicht auf einen Verzicht auf die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes schliessen. Im Gegenteil wurde Art. 1 des revidierten OHG redaktionell auf die heute herrschende Lehre und Rechtsprechung abgestimmt, wonach Vorsatz ![]() | 14 |
5.6 Nach dem Gesagten liegt keine Straftat im Sinne des Opferhilfegesetzes vor und ist die Voraussetzung der Opfereigenschaft zur Geltendmachung opferhilferechtlicher Ansprüche somit nicht erfüllt. Dies betrifft nicht nur die Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche gemäss Art. 11 ff. OHG, sondern auch die erst vor dem Sozialversicherungsgericht gestellten Begehren um Sofort- und weitere Hilfe der kantonalen Opferhilfestelle im Sinn von Art. 3 Abs. 2 bis 4 OHG. Hilfeleistungen der Opferberatungsstelle kämen nur in Frage, solange das Vorliegen einer Straftat nicht geklärt ist (BGE 125 II 265 E. 2c/aa S. 270). Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet und ist insoweit abzuweisen.
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5.7 Wie (...) erwähnt, entspringt das Opferhilfegesetz nicht dem Gedanken der Staatshaftung, sondern der Hilfeleistung an Opfer von Straftaten. Eine andere Frage ist, ob der Kanton Zürich gestützt auf das kantonale Staatshaftungsrecht für das Handeln seiner Beamten (kausal) einzustehen hat. Diese Frage gehört indessen nicht zum vorliegenden Verfahrensgegenstand, weshalb sie offengelassen wird.
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