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1. Urteil des Kassationshofes vom 21. Januar 1955 i.S. Wenger gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | |
Regeste |
1. Art. 13 StGB. Der Richter darf den Sachverhalt, den er als Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit würdigt, auch ohne psychiatrisches Gutachten oder in Abweichung von einem solchen feststellen (Erw. 1). | |
Sachverhalt | |
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Am 26. April 1949 beschloss der Regierungsrat des Kantons Bern, Wenger wegen Liederlichkeit, Haltlosigkeit und geistiger Minderwertigkeit in die Arbeitsanstalt Lindenhof einzuweisen. Nach Ablauf eines Jahres wurde Wenger mit der Weisung, vorerst während mindestens zwei Monaten im Gutshof Enggistein zu arbeiten, bedingt entlassen und unter Schutzaufsicht gestellt. Vier Tage nach seinem Eintritt in den Hof versuchte er am 10. April 1950 in Worb, eine Handharmonika im Werte von Fr. 800.-- zu erschwindeln. Er begann nachts zu streunen, knüpfte mit einem schlecht beleumdeten, geistig und körperlich zurückgebliebenen Mädchen ein intimes Verhältnis an und schwindelte ihm Fr. 140.-- ab. Schliesslich lief er von Enggistein fort und trat in der Nacht vom 5./6. Mai freiwillig in die Heil- und Pflegeanstalt Münsingen ein, eine Geisteskrankheit vortäuschend. Die Anstaltsdirektion bestätigte das Gutachten vom 27. Dezember 1945. In der ![]() | 2 |
Da Wenger den Tannenhof schon am 16. Dezember 1951 eigenmächtig wieder verliess und nach Birsfelden zog, wurde er im Februar 1952 administrativ in die Arbeitsanstalt Lindenhof zurückversetzt. Am 25. März 1952 wies man ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Waldau ein, weil er gedroht hatte, er werde alle zur Domäne Witzwil gehörenden Scheunen in Brand stecken, sobald sie mit Getreide gefüllt sein würden. Die Diagnose der früheren Gutachten wurde bestätigt.
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Ab 16. Mai 1952 war Wenger in der Arbeitsanstalt St. Johannsen. Da er einen Fluchtversuch unternahm, beschloss der Regierungsrat des Kantons Bern am 6. Juni 1952, ihn in die Verwahrungsanstalt Thorberg zu versetzen. Wegen Platzmangels blieb Wenger aber zunächst im Bezirksgefängnis Bern. Zufolge Verwechslung mit einem anderen Wenger entliess man ihn dort am 23. Juni 1952, ![]() | 4 |
B.- In der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 1952 brach Wenger in Unterbach in eine Baukantine ein. Er stahl Zigaretten, Schokolade und Bargeld sowie von einem Lastwagen einen Zündschlüssel. Hierauf floh er nach Basel und Rheinfelden. Am Abend des 26. Juni 1952 zog er zu einem Landwirt in Effingen. Am folgenden Tage betastete er dem achtjährigen Töchterchen seines Gastgebers den Geschlechtsteil und versuchte ihm den Finger in die Scheide zu stossen. Am 28. Juni 1952 stahl er seinem Gastgeber Fr. 75.-. Am Abend des gleichen Tages mietete er in einem Gasthof in Mumpf ein Zimmer, und am folgenden Morgen borgte er beim Stiefsohne des Wirtes ein Kleid und ein Paar Schuhe. Er behielt diese Sachen, kehrte nicht zurück und blieb auch die Miete für das Zimmer schuldig. Am 29. Juni 1952 betrog er ein Mädchen um Fr. 50.-. Am 2. Juli 1952 stahl er in Thielle ein Fahrrad und verkaufte es in Le Landeron für Fr. 35.-. In der Nacht vom 2./3. Juli 1952 wurde er in Hellsau verhaftet. Bei der Einvernahme vom 5. Juli 1952 durch den Untersuchungsrichter schilderte er eingehend, wie er in der Nähe von Serrières einen unbekannten Österreicher während einer Kahnpartie getötet, beraubt und in den See geworfen habe. Die Überprüfung ergab, dass diese Angaben erfunden waren, was Wenger schliesslich auch gestand.
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C.- Im Strafverfahren wurde Wenger psychiatrisch begutachtet. Der Sachverständige Dr. Hans Bührer kam am 7. August 1952 zum Schluss, der Angeschuldigte sei zur Zeit seiner Taten vollständig fähig gewesen, das Unrecht seiner Handlungen einzusehen und gemäss Einsicht zu handeln. Wenger sei körperlich und geistig gesund. Er sei ein moralisch defekter Psychopath. Sein Zustand erfordere keine ärztliche Behandlung und Wenger müsse auch nicht in einer Heil- oder Pflegeanstalt versorgt werden (Art. 15 StGB). Er gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Er sei in hohem Grade gemeingefährlich und müsse daher ![]() | 6 |
Das Amtsgericht Oberhasli, dem Gutachten folgend, erachtete Wenger als voll zurechnungsfähig, erklärte ihn wegen der in der Zeit vom 24. Juni bis 5. Juli 1952 begangenen strafbaren Handlungen des Diebstahls, der Veruntreuung, der Sachbeschädigung, des Betruges, der Zechprellerei, der Irreführung der Rechtspflege und der Unzucht mit einem Kinde schuldig, verurteilte ihn zu vier Jahren Zuchthaus und stellte ihn für vier Jahre in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit ein.
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D.- Das Obergericht des Kantons Bern, an das Wenger hinsichtlich der Strafzumessung appellierte, setzte am 24. April 1953 die Strafe auf zwei Jahre Gefängnis, abzüglich 41 Tage Untersuchungs- und Sicherheitshaft, herab, stellte den Strafvollzug ein und beschloss, Wenger gemäss Art. 14 StGB in einer Pflegeanstalt zu verwahren.
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Das Obergericht führte aus, den Schlussfolgerungen des Sachverständigen könne nicht in allen Teilen beigepflichtet werden. Zwar seien nicht alle kriminellen Psychopathen vermindert zurechnungsfähig, sondern es sei im Einzelfalle zu prüfen, ob der Täter fähig gewesen sei, das Unrecht der Tat einzusehen und gemäss dieser Einsicht zu handeln. Die Zurechnungsfähigkeit sei aber jedenfalls dann vermindert, wenn die Psychopathie nach Art und Grad zu einem völlig abnormen Geisteszustand führe, d.h. in ihren Auswirkungen einer Geisteskrankheit gleichkomme. Wenger sei eine hochgradig moralisch defekte Person. Seine seit frühester Jugend zu Tage tretende Assozialität, seine Gefühlsroheit und Hemmungslosigkeit beim Begehen der Straftaten bewiesen das genügend. Die Einzelheiten jedoch zeigten, dass er mehr als ein blosser Psychopath sei. Es sei schon auffällig, dass er sich nicht nur in diesem Verfahren, sondern schon im Jahre 1944 vor der Polizei fälschlicherweise des Mordes bezichtet habe. Seine Geltungssucht wirke krankhaft. Er gebe sich immer wieder ![]() ![]() | 9 |
E.- Wenger führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrage, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an diese Instanz zurückzuweisen. Er macht geltend, da das Obergericht dem Gutachten des Dr. Bührer nicht habe folgen wollen, hätte es ein Obergutachten einholen sollen; indem es das nicht getan und ohne genügende Grundlage angenommen habe, der Beschwerdeführer habe seine Taten im Zustande verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen, habe es Art. 11 StGB verletzt. Sodann habe es Art. 14 StGB zu Unrecht angewendet. Diese Bestimmung setze ausser verminderter Zurechnungsfähigkeit und Gemeingefährlichkeit des Täters dessen Heil- oder Pflegebedürftigkeit voraus. Der Beschwerdeführer aber habe nach den psychiatrischen Gutachten weder eine Heilbehandlung noch Pflege nötig. Das Obergericht nehme das auch gar nicht an; die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung verneine es sogar ausdrücklich.
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F.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: | |
1. Indem das Obergericht entgegen dem Sachverständigen Dr. Bührer angenommen hat, der Beschwerdeführer habe die ihm zur Last gelegten Taten im Zustande verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen, hat es nicht gegen eidgenössisches Recht verstossen. Weder Art. 11 StGB noch eine andere Bestimmung des Bundesrechts verbietet dem Richter, einen bestimmten biologisch-psychologischen ![]() | 12 |
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InBGE 73 IV 151hat der Kassationshof angenommen, es sei dann im Sinne dieser Bestimmung notwendig, den die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdenden vermindert zurechnungsfähigen Täter in einer Heil- oder ![]() | 14 |
Diese Rechtsprechung entspricht dem wahren Sinne des Art. 14 Abs. 1 StGB indessen nicht und ist denn auch schon in einem Urteil vom 28. September 1951 in Sachen Rittermann aufgegeben worden.
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Es fehlt ein Grund, der den Gesetzgeber bewogen haben könnte, die Verwahrung Unzurechnungsfähiger oder vermindert Zurechnungsfähiger, die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden, nur dann zu gestatten, wenn sie behandlungs- oder pflegebedürftig sind. Mit den Behandlungs- und den Pflegebedürftigen befasst sich Art. 15, lautend: "Erfordert der Zustand des unzurechnungsfähigen oder vermindert zurechnungsfähigen Täters seine Behandlung oder Versorgung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, so ordnet der Richter diese Behandlung oder Versorgung an. - Der Richter stellt den Strafvollzug gegen den verurteilten vermindert Zurechnungsfähigen ein." Neben dieser Bestimmung wäre Art. 14 überflüssig, wenn er voraussetzte, dass die Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt wegen Behandlungs- oder Pflegebedürftigkeit des Täters notwendig sei. Die Einweisung kann und muss, wenn diese Voraussetzung zutrifft, schon nach Art. 15 erfolgen. Nur weil Verwahrung die "strengere Form" sei als die Versorgung (vgl. ZStrR 62 59), kann Art. 14 nicht aufgestellt worden sein, umsoweniger als dieser Sinn nur zwischen den Zeilen herausgelesen werden müsste. Art. 14 hätte auch nicht etwa die über Art. 15 hinausgehende Wirkung, dass der Eingewiesene nach der Heilung oder nach dem Hinfall der Pflegebedürftigkeit noch weiter verwahrt werden dürfte. Nach der Heilung des Täters ist die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nicht mehr gefährdet, und wenn Fälle denkbar sind, in denen nach Hinfall der Pflegebedürftigkeit ![]() ![]() | 16 |
Ein gegenteiliger Schluss lässt sich nicht daraus ziehen, dass Art. 14 StGB bestimmt, die Verwahrung sei in einer "Heil- oder Pflegeanstalt" zu vollziehen. Es ist nicht zu ersehen, weshalb diese Norm die Behandlungs- oder Pflegebedürftigkeit nur in so verkappter Form zur Voraussetzung der Verwahrung erheben würde, statt sie ausdrücklich zu verlangen, wie Art. 15 Abs. 1 StGB es tut. Die Worte in Art. 14 Abs. 1 "und ist es notwendig, ihn in einer Heil- oder Pflegeanstalt zu verwahren", haben einen vernünftigen Sinn auch dann, wenn die Betonung nicht auf "Heil" und "Pflege", sondern auf "notwendig" und "verwahren" gelegt wird: Der die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdende unzurechnungsfähige oder vermindert zurechnungsfähige Täter soll nur dann nach Art. 14 verwahrt werden, wenn diese Verwahrung (auf unbestimmte Zeit) notwendig ist. Kann die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung anders behoben werden, z.B. durch Vollzug einer langen Freiheitsstrafe, Verwahrung nach Art. 42, Bevormundung, Massnahmen nach kantonalem Verwaltungsrecht, Beaufsichtigung durch Angehörige, so soll der Richter Art. 14 nicht anwenden.
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Gewiss leuchtet nicht ohne weiteres ein, weshalb in einer "Heil- oder Pflegeanstalt" auch Personen verwahrt werden sollen, die weder geheilt werden können, noch gepflegt werden müssen. Es gibt denn auch Psychiater, die es für unzweckmässig halten, gewisse Kategorien solcher Rechtsbrecher in die von ihnen geleiteten Anstalten einzuweisen (vgl. BLEULER, ZStrR 58 14; WYRSCH, ZStrR 59 13 f., 68 19 ff.; DUKOR, ZStrR 59 292; KIELHOLZ, ZStrR 60 238). Geradezu sinnlos ist diese Ordnung jedoch nicht. Dass dem zu Verwahrenden die Zurechnungsfähigkeit ganz oder teilweise fehlt, kann allein schon als genügender Grund erachtet worden sein, unter den vorhandenen Anstalten die Heil- und die Pflegeanstalten, die ![]() | 18 |
Der Bundesrat, der in zwei Entscheidungen vom 21. Oktober 1946 und 26. April 1947 i.S. Keller von der Auffassung ausgegangen ist, die Verwahrung nach Art. 14 StGB setze voraus, dass der Täter einer Heilbehandlung oder der Pflege bedürfe (ZStrR 62 59, 399), hat denn auch am 27. Dezember 1954 in einem Meinungsaustausch mit dem Kassationshof dessen gegenteiligen neuen Rechtsprechung beigepflichtet.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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