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23. Urteil des Kassationshofes vom 1. Mai 1963 i.S. Lischer und Mühlemann gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. | |
Regeste |
Art. 2 Abs. 2 StGB. |
Eine Ausnahme bildet die Bestimmung des Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG, die für Fälle, wo die Störung des Verkehrs auf einer Verletzung von Verkehrsregeln beruht, an die Stelle von Art. 237 StGB getreten ist. | |
Sachverhalt | |
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B.- Am 15. Januar 1963 büsste das Amtsgericht Entlebuch Lischer wegen Verletzung von Art. 25 Abs. 1 MFG mit Fr. 20.-, Mühlemann wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 2 StGB) mit Fr. 40.-. Es warf Lischer vor, vor dem Abschwenken nach links nicht angehalten zu haben, um den vortrittsberechtigten Mühlemann vorbeizulassen. Mühlemann legte es Missachtung von Art. 25 und 26 Abs. 4 MFG zur Last. Er habe zu nahe aufgeschlossen und deshalb sein Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig anhalten können, als Lischer nach links abschwenkte. Ausserdem habe er sein Fahrzeug nicht beherrscht. Durch seine mangelnde Rücksichtnahme auf den andern Strassenbenützer habe er sich der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs schuldig gemacht.
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C.- Lischer und Mühlemann führen Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragen, das Urteil des Amtsgerichtes sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde Lischers sei abzuweisen; mit Bezug auf Mühlemann sei die Sache zur Ergänzung der tatsächlichen Feststellungen und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Der Kassationshof hat im nicht veröffentlichten Urteil vom 9. Mai 1951 i.S. Demierre die Auffassung vertreten, ein nur für die Dauer bestimmter tatsächlicher Verhältnisse erlassenes Gesetz (sog. Zeitgesetz) sei auf die unter seiner Herrschaft begangenen Taten auch nachher noch anzuwenden. In einem solchen Falle entfielen nur die ![]() | 5 |
a) Dem Art. 2 Abs. 2 StGB liegt der Gedanke zugrunde, dass nicht mehr oder milder bestraft werden soll, weil die Tat zufolge Änderung der Rechtsanschauung nicht mehr bzw. weniger strafwürdig erscheint. Das trifft auf Zeitgesetze oft schon der Natur der Sache nach nicht zu. Zeitgesetze zeichnen sich dadurch aus, dass sie zum vornherein nur für eine bestimmte Zeit erlassen werden oder ![]() | 6 |
Soweit man der Frage überhaupt Beachtung geschenkt hat, ist übrigens auch vom schweizerischen Schrifttum anerkannt worden, dass Zeitgesetze bei sinngemässer Auslegung des Art. 2 Abs. 2 StGB von der Norm auszunehmen sind (s. insbes. Komm. THORMANN/VON OVERBECK, Art. 2 N. 17; HALTER, Das zeitliche Geltungsgebiet des StGB, S. 61; GLETTIG, Das schweiz. Clearingstrafrecht, S. 43; vgl. ferner ZÜRCHER, ZStR 27 268; HAFTER, ebenda 253; VON OVERBECK ZStR 56 363; ZBJV 56 285). Bis zur Einfügung einer Sondervorschrift für Zeitgesetze (§ 2a Abs. 3) in das deutsche Strafgesetzbuch im Jahre 1935 ist in der vorherrschenden Lehre und Rechtsprechung Deutschlands ebenfalls die Meinung vertreten worden, dass bei Änderung oder Aufhebung solcher Gesetze der Satz vom ![]() | 7 |
b) Eine Beschränkung des Art. 2 Abs. 2 StGB auf Gesetzesänderungen, denen ein Wandel strafrechtlicher Anschauungen zugrunde liegt, drängt sich auch auf bei Verwaltungsgesetzen, die nicht bloss für eine bestimmte Zeit oder für die Dauer von Ausnahmeverhältnissen erlassen werden, sondern grundsätzliche Regelungen treffen und daher auf die Dauer angelegt sind. Hier wie dort kann sich der Grundsatz des mildern Rechts von vorneherein nur auf die Strafbestimmungen beziehen, denn bloss diese können "milder" sein. Verhaltensnormen, wie z.B. die Verkehrsregeln, können zweckmässig oder unzweckmässig, so oder anders, aber nicht strenger oder milder sein. Dasselbe gilt von einem Inbegriff von Verhaltensnormen, die auf einander abgestimmt sind und zusammen eine bestimmte Ordnung ausmachen. Das Strassenverkehrsgesetz als Kernstück der Verkehrsgesetzgebung hält die Verkehrsregeln und die Strafbestimmungen denn auch deutlich auseinander, womit allerdings nicht gesagt werden will, die Systematik des Gesetzes sei für die Trennung der beiden Arten von Bestimmungen schlechthin massgebend. Dass sich der Satz vom mildern Recht nur auf die Strafbestimmungen beziehen kann, erhellt auch aus Art. 101 SVG. Im sog. stellvertretenden Strafrecht sind schweizerische Strafbestimmungen anzuwenden, aber auf die Verletzung der am Orte der Widerhandlung und zur Zeit der Begehung für den Täter geltenden Verkehrsregeln des Auslands. Ein Führer, der in England rechts fährt und dadurch einen Unfall verursacht, müsste in der Schweiz freigesprochen werden, wenn die Anwendung "schweizerischer Strafbestimmungen" auch die schweizerischen Verkehrsregeln mitumfassen würde.
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Werden sowohl ausserstrafrechtliche Verhaltensnormen ![]() | 9 |
Eine Ausnahme bildet die Bestimmung des Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG, die für Fälle, wo die Störung des Verkehrs auf einer Verletzung von Verkehrsregeln beruht, an die Stelle von Art. 237 StGB getreten ist (ob auch für vorsätzliche Verkehrsstörungen oder nur für fahrlässige, wie DUBS in der Festgabe für Max Gerwig, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 55, S. 10, annimmt, steht dabei noch offen). Hier betrifft die Gesetzesänderung eine Strafbestimmung des StGB, die von den kantonalen Gerichten sehr unterschiedlich gehandhabt wurde und deshalb einer Neuregelung rief. Es verhält sich dabei unter dem Gesichtspunkt des Art. 2 Abs. 2 StGB nicht anders, als wenn z.B. die Bestimmung über die fahrlässige Tötung, Art. 117, oder diejenige über die fahrlässige Körperverletzung, Art. 125, geändert worden wäre. Demgemäss ist Art. 2 Abs. 2 StGB auch anwendbar auf das Verhältnis von Art. 237 StGB zu Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG.
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Die Anwendung des Art. 2 Abs. 2 StGB auf blosse ![]() | 11 |
Freilich hat es der Gesetzgeber bei Zeitgesetzen wie bei andern Verwaltungsgesetzen in der Hand, durch Übergangsbestimmungen nicht nur die Rückwirkung eines Gesetzes und damit Art. 2 Abs. 2 StGB auszuschliessen, sondern in das neue Recht Vorbehalte zugunsten des alten aufzunehmen. Er hat von dieser Möglichkeit auch in neuerer Zeit noch Gebrauch gemacht (vgl. z.B. Art 41 Abs. 5 BG über die wirtschaftliche Kriegsvorsorge, vom 30. September 1955, AS 1956 85; Art. 11 Abs. 4 BB über wirtschaftliche Massnahmen gegenüber dem Ausland, vom 28 September 1956, AS 1956 1553; Art. 68 Abs. 4 des Getreidegesetzes, vom 20. März 1959, AS 1959 995). Unterlässt er es, so entbindet dies den Richter nicht der Pflicht, anhand der dem Art. 2 Abs. 2 StGB innewohnenden Wertungen und dessen Zweckgedankens zu prüfen, ob die Anwendung der Norm auf Verstösse gegen ein Verwaltungsgesetz, wie hier, eine sachlich richtige Lösung darstelle.
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Das Amtsgericht wirft ihm nicht vor, dass er die beabsichtigte Richtungsänderung nicht rechtzeitig angezeigt oder dass er den Lauf zu spät gemässigt hätte, sondern nur, dass er hätte anhalten sollen, um Mühlemann links überholen zu lassen. Der Beschwerdeführer wendet ein, dass er hiezu keinen Anlass hatte, weil er noch nicht nach links abgeschwenkt habe. Der Einwand scheitert indes an den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts, wonach Lischer nach links abzubiegen im Begriffe war und Mühlemann nicht mehr anzuhalten vermochte, als er das Abbiegemanöver feststellte. Diese Feststellungen betreffen tatsächliche Verhältnisse und binden daher den Kassationshof. Dieser hat als Tatsache hinzunehmen, dass Lischer nach links abzubiegen begonnen hatte. Bevor er dies tat, hätte der Beschwerdeführer sich aber vergewissern sollen, dass er ein nachfolgendes Fahrzeug, das ihn überholen könnte, nicht gefährde. Zu dieser Vorsicht hatte er umsomehr Anlass, als er wusste, dass ihm ein Personenwagen mit grösserer Geschwindigkeit folgte. Indem Lischer diese Vorsichtsmassnahme unterliess, verstiess er gegen Art. 25 Abs. 1 MFG.
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Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Die Kantonsstrasse Luzern-Bern ist an der Unfallstelle bloss 6.50 m, jede Fahrbahn also nur 3.25 m breit. Mühlemann verblieb daher nicht genügend Raum, um Lischer rechts zu überholen, als dieser gegen die Leitlinie hielt. Lischer hätte daher nicht einspuren dürfen, sondern sich gemäss Art. 26 Abs. 1 MFG an den rechten Strassenrand halten und das Linksabschwenken bis nach der Durchfahrt Mühlemanns aufschieben müssen.
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Ein Fahrzeug kann indes ein anderes nicht überholen, ohne zunächst zu diesem aufzuschliessen. Da das Amtsgericht nicht behauptet, Mühlemann habe Art. 46 Abs. 1 MFV verletzt, ist der Vorwurf, zu nahe aufgeschlossen zu haben, nicht verständlich. Gewiss stiess der Wagen Mühlemanns gegen das Heck des Volkswagens, aber nicht weil Mühlemann Art. 46 Abs. 1 MFV missachtet hätte, sondern weil er auf das Überholmanöver verzichtete und nach rechts auszuweichen versuchte, als Lischer nach links abzuschwenken begann und ihm dadurch die Fahrbahn abschnitt.
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Das will jedoch nicht heissen, Mühlemann treffe keine Schuld. Das Amtsgericht scheint einleitend anzunehmen, Lischer habe, wie behauptet, den Richtungsanzeiger schon 80 m vor der Tankstelle gestellt. Es wirft Mühlemann aber nicht vor, dies wegen mangelnder Aufmerksamkeit zu spät bemerkt zu haben, offenbar weil es die Behauptung ![]() | 16 |
Durch sein pflichtwidriges Verhalten hatMühlemann die Insassen des Volkswagens konkret gefährdet. Dass er nach Art. 90 Ziff. 2 SVG milder zu bestrafen wäre, macht er nicht geltend und ist bei einer Busse von Fr. 40.- auch nicht anzunehmen. Er ist deshalb zu Recht nach Art. 237 Ziff. 2 StGB bestraft worden.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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