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41. Urteil des Kassationshofes vom 4. November 1966 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen Nötzli. | |
Regeste |
Art. 31 Abs. 1 StGB. |
a) Der rechtskräftige Strafbefehl ist ein Urteil erster Instanz (Bestätigung der Rechtsprechung). |
b) Vor seiner Rechtskraft ist der Strafbefehl nicht ein Urteil erster Instanz (Änderung der Rechtsprechung). |
2. Im Fall der Anfechtung des Strafbefehls kann deshalb der Strafantrag noch bis zur Verkündung des Urteils der ersten Instanz im ordentlichen Verfahren zurückgezogen werden. Bei Nichtanfechtung des Strafbefehls ist hingegen der Rückzug des Strafantrags nur bis zum Eintritt der Rechtskraft des Strafbefehls zulässig. | |
Sachverhalt | |
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B.- Gegen den Einstellungsbeschluss legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein mit dem Antrag auf Bestrafung der Angeschuldigten.
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Mit Urteil vom 19. August 1966 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung ab.
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C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache zur Bestrafung der Angeschuldigten.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung: | |
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a) In der bisherigen Rechtsprechung (BGE 78 IV 151, BGE 81 IV 15 und 83) ist entschieden worden, Urteil im Sinne dieser Bestimmung sei jeder Entscheid der zuständigen Behörde, der verbindlich darüber erkennt, ob der Beschuldigte sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat, und der gegebenenfalls die Rechtsfolgen bestimmt, die diese Handlung nach sich zieht. Nicht nötig sei eine vorherige mündliche Verhandlung, an welcher der Berechtigte Gelegenheit haben müsse, den Strafantrag zurückzuziehen. Die Bestimmung wolle das Markten zwischen Täter und Verletztem um den Rückzug des Strafantrags ausschliessen, nachdem der Staat über die Rechtsfolgen der Tat entschieden habe. Sie stelle denn auch auf die Verkündung des Urteils ab, durch welche die Parteien erführen, wie es um die Sache stehe. Auch ein Entscheid, der nur unter der Voraussetzung Recht schaffe, dass er nicht angefochten werde, könne Urteil sein. Indem Art. 31 Abs. 1 StGB von einem Urteil erster Instanz spreche, sei er gerade ![]() | 6 |
b) Soweit sie auf Strafbefehle angewendet wurde, kann diese Rechtsprechung, die im übrigen in dieser Hmsicht von verschiedenen kantonalen Gerichten nicht befolgt wird und in der Literatur auf Kritik gestossen ist, nicht ohne Einschränkung aufrecht erhalten werden.
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Die schon in BGE 69 I 73 und BGE 74 IV 15 vertretene Auffassung, dass der unangefochten in Rechtskraft erwachsene Strafbefehl ein Urteil sei, ist zwar nach wie vor begründet; denn in diesem Fall steht der Strafbefehl in jeder Hinsicht einem richterlichen Urteil gleich. Hingegen kann das für den noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl nicht gelten. Die bisher befolgte gegenteilige Rechtsprechung verkennt die Natur des Strafbefehlsverfahrens. Dieses ursprünglich von der Praxis für die rationellere Bewältigung der wachsenden Zahl leichterer Delikte entwickelte summarische Verfahren ist, jedenfalls begriffsmässig, ein Verfahren ohne Hauptverhandlung. Die zum Erlass des Strafbefehls zuständige Behörde setzt darin die Strafe auf Grund des im Vorverfahren durch die untersuchende Behörde zusammengetragenen Beweismaterials fest. Diese summarische Beurteilung von Tat und Täter steht unter dem Vorbehalt, dass der Angeschuldigte sich dem Urteilsspruch unterzieht. Will er das nicht, so kann er, nach dem Strafbefehlsverfahren, die Durchführung des ordentlichen Strafverfahrens, beginnend mit der Hauptverhandlung vor der ersten Instanz, verlangen. Das Strafbefehlsverfahren ist also selbst nicht ein Verfahren erster Instanz, sondern ein diesem vorgelagertes besonderes Verfahren zur vereinfachten Erledigung bestimmter Straffälle. Führt es zum Ziel, dann entfällt das erstinstanzliche Verfahren, und der rechtskräftig gewordene Strafbefehl tritt an die Stelle des erstinstanzlichen Urteils; das ganze Verfahren ist beendet und die Sache abgeurteilt, ein Rückzug des Strafantrags ist deshalb nicht mehr zulässig. Wird jedoch der Strafbefehl angefochten, so findet das ordentliche Verfahren vor der ersten Instanz statt, als ob ein Strafbefehlsverfahren gar nicht bestünde.
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Vielfach erhält der Geschädigte im Strafbefehlsverfahren weder Gelegenheit mitzuwirken noch Akteneinsicht zu nehmen; ![]() | 9 |
c) Die Gesetzesmaterialien zeigen, dass diese Auslegung, die dem Wortlaut des Art. 31 Abs. 1 StGB entspricht, auch mit den Absichten des Gesetzgebers übereinstimmt. Vom Anfang der Vorarbeiten an wurde stets vom ordentlichen Gerichtsverfahren, nicht vom Strafbefehlsverfahren ausgegangen. Das wurde im Vorentwurf 1916 (Art. 32 Abs. 1), der mit dem bundesrätlichen Entwurf 1918 (Art. 30 Abs. 1) wörtlich übereinstimmt, ausdrücklich gesagt, indem der Rückzug des Strafantrags zugelassen wurde, "solange das Urteil des Gerichts erster Instanz noch nicht verkündet ist". Diese Formulierung wurde vorher nie ausdrücklich verwendet oder diskutiert und muss von der Redaktionskommission der Zweiten Expertenkommission, welche das Ergebnis der Kommissionsberatungen nachträglich noch abänderte (Vorbemerkung von Bundesrat Müller zum Vorentwurf 1916 S. IV) eingefügt worden sein. Diese Verdeutlichung wäre wohl nicht vorgenommen worden, wenn nicht zuvor ausschliesslich vom Gerichtsverfahren die Rede gewesen wäre. Der Nationalrat übernahm die Formulierung (StenBull Sonderausgabe NR S. 97 f.). Der Ständerat liess sie jedoch ohne diesbezügliche Diskussion fallen, wahrscheinlich aus stilistischen Gründen; denn er wollte den Rückzug zulassen, "solange das Dispositiv des Urteils erster Instanz ![]() | 10 |
Dass ausschliesslich das ordentliche Gerichtsverfahren in Frage stand, zeigen auch die Abänderungsanträge. Diese bezogen sich alle auf das Problem, bis zu welchem prozessualen Zeitpunkt der Rückzug des Strafantrags zulässig sein sollte, und gingen, entsprechend den sehr unterschiedlichen kantonalen Gesetzgebungen (HAFTER, Lehrbuch des schweiz. Strafrechts 2. Aufl. S. 140 f.) weit auseinander. Der Vorschlag Correvon, der Rückzug müsse nur bis vor Beginn der Hauptverhandlung erfolgen können, wurde auf Antrag Gautiers abgelehnt. Dieser führte aus: "Le projet tient compte, avec raison, du cas où le lésé retirera sa plainte en toute connaissance de cause, éclairé qu'il aura été par les débats" (Prot. 1. ExpK I S. 28 f.). Der Nationalrat wollte den letzten Termin für den Rückzug von der Verkündung auf die Fällung des Urteils vorverlegen, was vom Ständerat abgelehnt wurde, weil ein deutlicher, nach aussen erkennbarer Zeitpunkt erforderlich sei (StenBull a.a.O.). Anscheinend aus ähnlichen Überlegungen wurde die Anregung Bolli, auf den Schluss der Parteiverhandlungen abzustellen, nicht weiter verfolgt (Prot.Komm. StR, 19. Februar 1929, S. 20). Ein Antrag Thormann, umgekehrt den Rückzug noch bis zur Verkündung des Urteils der zweiten Instanz zuzulassen, wurde verworfen, weil ein Spielen des Privaten mit den Gerichtsorganen verhindert werden müsse, zumal die Antragsdelikte vielfach zur Sicherung pekuniärer Vorteile benützt würden (Prot. 2. ExpK I S. 172-179). Die Möglichkeit einer missbräuchlichen Ausbeutung des Antragsrechts wurde jedoch "angesichts der Vorteile der Lösung" des Art. 31 Abs. 1 StGB bewusst in Kauf genommen (StenBull NR S. 98, Berichterstattung Seiler).
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d) Als neues, wesentliches Moment kommt nun zudem noch die Revision des Art. 268 Ziff. 1 BStP durch das Bundesgesetz ![]() | 12 |
Dieser Zweck der Revision würde weitgehend vereitelt, wenn der nicht rechtskräftige Strafbefehl als Urteil erster Instanz gälte. Das untere Gericht im ordentlichen Verfahren wäre nämlich im Falle einer Einsprache gegen den Strafbefehl bereits zweite Instanz, und seine Urteile könnten deshalb mit der Nichtigkeitsbeschwerde beim eidg. Kassationshof angefochten werden. Auch wegen dieser der ratio von Art. 268 Ziff. 1 BStP zuwiderlaufenden Konsequenzen muss die bisherige Praxis aufgegeben werden.
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Zusammenfassend kann also im Fall der Anfechtung des Strafbefehls der Strafantrag noch bis zur Verkündung des Urteils der ersten Instanz im ordentlichen Verfahren zurückgezogen werden. Im Falle der Nichtanfechtung eines Strafbefehls ist hingegen ein Rückzug des Strafantrages nur bis zum Eintritt seiner Rechtskraft zulässig.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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