![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
16. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. Mai 1970 i.S. Bosshard gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | |
Regeste |
1. Art. 269 Abs. 1 BStP. |
2. Art. 204 Ziff. 1 StGB. |
a) Die Vorführung eines Films in einem Kinotheater fällt unter den Begriff der öffentlichen Ausstellung (Abs. 1). Öffentlich ist die Vorführung auch, wenn nur Personen über 18 Jahren zugelassen und die Besucher vor gewagten Szenen gewarnt werden (Erw. 2). |
b) Der Film "Ich bin neugierig" in der Fassung, die in Biel gezeigt wurde, ist nicht unzüchtig (Erw. 3 und 4). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
Der Film ist von der schwedischen Zensurbehörde trotz gewissen Bedenken, die hauptsächlich den politischen Teil betrafen, ungekürzt freigegeben worden, während er in Norwegen verboten und in Deutschland sowie Frankreich nach Vornahme verschiedener Kürzungen öffentlich vorgeführt wurde.
| 2 |
B.- Beat Bosshard zeigte den Film "Ich bin neugierig" vom 15. Mai 1968 an in dem von ihm geleiteten Kino "Studio" in Biel. Zuvor waren von der schweizerischen Verleihfirma im sozialkritischen Teil wie auch in Sexualszenen des Filmes einige Kürzungen vorgenommen worden. Bosshard schnitt eine weitere Beischlafsszene heraus und setzte auf den Rat des Gerichtspräsidenten und des Untersuchungsrichters, die er zu einer Vorbesichtigung eingeladen hatte, die Altersgrenze der Kinobesucher auf 18 Jahre fest. In der Presse und auf Anschlägen vor dem Kino warnte er ausserdem unreife und empfindliche Personen vor dem Besuch des Films, der schockieren wolle und gewagte Szenen zeige.
| 3 |
Am 17. Juni 1968 wurde der Film auf Weisung des stellvertretenden Generalprokurators des Kantons Bern beschlagnahmt und gegen Bosshard eine Strafuntersuchung wegen unzüchtiger Veröffentlichung (Art. 204 StGB) eingeleitet.
| 4 |
5 | |
Gegen diesen Freispruch appellierte der Generalprokurator. Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern erklärte daraufhin Bosshard am 16. September 1969 der unzüchtigen Veröffentlichung schuldig, nahm jedoch wegen Rechtsirrtums (Art. 20 StGB) von einer Bestrafung Umgang. Ferner verfügte das Obergericht, dass die als unzüchtig betrachteten Darstellungen des Geschlechtsaktes beim Königsschloss, im Teich und auf dem Baum herauszuschneiden und zu vernichten seien, sofern für die unverzügliche Rücksendung der Filmkopie an den schwedischen Verleiher keine Gewähr bestehe.
| 6 |
D.- Der Generalprokurator und der Angeschuldigte Bosshard führen Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils. Der Generalprokurator verlangt die Bestrafung des Angeschuldigten, dieser seine Freisprechung und die Freigabe des beschlagnahmten Films.
| 7 |
Jeder der Beschwerdeführer beantragt die Abweisung der Beschwerde des andern.
| 8 |
Der Kassationshof zieht in Erwägung: | |
9 | |
![]() | 10 |
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist nach ständiger Rechtsprechung nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung beschwert wird und ein rechtliches Interesse an ihrer Aufhebung oder Abänderung hat. Diese Voraussetzung ist entgegen der früheren Annahme auch dann erfüllt, wenn der Richter den Angeklagten nach der Schuldigerklärung von Strafe befreit oder von Strafe Umgang nimmt (nicht hieher gehören die Fälle, in denen das Gesetz selber wie z.B. in Art. 33 Abs. 2 StGB ein Verhalten als straflos erklärt und deshalb richtigerweise auf Freisprechung zu erkennen ist). Die bisher vertretene Auffassung, dass der Angeklagte bei einer Schuldigerklärung, die ohne Strafsanktion bleibt, nicht schlechter gestellt sei als im Falle der Freisprechung (BGE 80 IV 277), verkennt die Tragweite des Schuldspruches, der feststellt, dass der Angeschuldigte eine strafbare Handlung begangen hat.
| 11 |
![]() | 12 |
Auf die Beschwerde des Angeschuldigten, den die Vorinstanz der unzüchtigen Veröffentlichung nach Art. 204 Ziff. 1 StGB schuldig erklärte, jedoch gestützt auf Art. 20 StGB wegen Rechtsirrtums von Strafe befreite, ist somit einzutreten.
| 13 |
14 | |
Die hier allein in Frage kommende Vorführung eines Films in einem Kinotheater fällt unter den Begriff der öffentlichen Ausstellung (LOGOZ, Art. 204 StGB, Ziff. 3, S. 355; Botschaft des Bundesrates vom 25. November 1924 in BBl 1924 III 1027). Öffentlich ist die Vorführung, wenn die Wahrnehmung der Filmbilder einem unbestimmten Personenkreis zugänglich gemacht wird (BGE 89 IV 134), eine Voraussetzung, die im vorliegenden Falle erfüllt ist. Das Merkmal der Öffentlichkeit entfällt nicht schon durch die Anordnung irgendeiner Begrenzung des Zuschauerkreises, sondern erst, wenn dieser eindeutig umschrieben und überprüfbar wird (vgl. BGE 87 IV 84). Es genügte daher nicht, dass nur Personen über 18 Jahren zugelassen wurden und unter diesen, wie in der Beschwerde geltend gemacht wird, bloss solche, die einen Film von der Art des gezeigten ansehen wollten, indem das Publikum in der Reklame und in Anschlägen vor den gewagten Szenen gewarnt wurde. Durch Massnahmen solcher Art wird der Kreis der Besucher entgegen der Meinung des Beschwerdeführers Bosshard nicht bestimmbar und die Vorstellung nicht zur geschlossenen.
| 15 |
3. Als unzüchtig im Sinne von Art. 204 StGB gilt nach ![]() | 16 |
Den Entscheidungen des Kassationshofes liegt im allgemeinen die Auffassung zugrunde, dass für die Grenzziehung zwischen unzüchtigen Gegenständen und solchen, die gewagt, aber noch erlaubt sind, das Sittlichkeits- und Schamgefühl des normal empfindenden Bürgers, der weder besonders empfindsam noch sittlich verdorben ist, massgebend sei (BGE 83 IV 24, BGE 86 IV 19, BGE 87 IV 74 und 83, BGE 89 IV 200). Wiederholt hat der Kassationshof, namentlich bei Werken der Kunst und Literatur, aber darauf hingewiesen, dass bei der Beurteilung des Charakters einer Veröffentlichung auch die gesamten Begleitumstände wie der Ort und die Art der Veröffentlichung sowie der Kreis der Personen, für den sie bestimmt ist, zu berücksichtigen seien. So wurde bereits in einem nicht veröffentlichten Urteil vom 9. Oktober 1953 i.S. Spillmann erklärt, dass es auf die Anschauungen der Kreise, denen das Werk angeboten oder vorgeführt wird, ankomme. In dem in BGE 86 IV 21 veröffentlichten Entscheid hat sodann der Kassationshof anerkannt, dass es nicht das gleiche sei, ob ein Aktbild in einem allgemein zugänglichen Schaufenster eines Verkaufsladens oder in einer Kunstgalerie für Kunstinteressenten ausgestellt wird. In einer weiteren Entscheidung vom 14. Juli 1961 wurde von der Auffassung ausgegangen, dass erotische Werke der Literatur, die das Schamgefühl des Durchschnittsbürgers verletzen können, unter Umständen dann nicht unter das Verbot des Art. 204 StGB fallen, wenn ![]() | 17 |
Filmvorführungen in Kinotheatern unterscheiden sich von Druckerzeugnissen, Skulpturen u. dgl. schon dadurch, dass die Gefahr der Weiterverbreitung der Bilder an Unbefugte nicht besteht. Zudem stellt sich die Frage des Jugendschutzes immer dann nicht, wenn zur Vorführung nur Personen im Alter von mindestens 18 Jahren zugelassen werden und die Einhaltung dieser Begrenzung einer Kontrolle unterzogen wird. Im Gegensatz zu allgemein zugänglichen Schriften und Bildern entfällt bei Filmvorführungen auch weitgehend die Gefahr, dass das Publikum gegen seinen Willen mit Darstellungen sexuellen Inhalts konfrontiert wird, namentlich wenn die Kinobesucher durch entsprechende Anzeigen zum voraus auf Gegenstand und Charakter des Filmes aufmerksam gemacht werden. Erwachsene Personen, die unter solchen Voraussetzungen wissentlich der Vorführung eines Filmes mit gewagten Szenen beiwohnen, finden sich in der Regel damit ab oder nehmen doch keinen Anstoss daran und sind infolgedessen auch weniger schutzbedürftig, so dass in derartigen Fällen die Toleranzgrenze weitergezogen werden darf als bei Veröffentlichungen, bei denen Möglichkeiten der Sicherung und Kontrolle fehlen.
| 18 |
In Betracht zu ziehen ist auch die Tatsache, dass die zeitbedingten Anschauungen der Allgemeinheit über Moral und Sitte sich in der jüngsten Vergangenheit geändert haben. Abgesehen davon, dass Sexualität in ständig steigendem Masse in den Dienst der Werbung, Anregung und Unterhaltung einbezogen wird und sexuell betonte Darstellungen nicht mehr als ungewöhnlich empfunden werden, ist unverkennbar, dass auf dem Gebiete der Sexualmoral, wie Meinungsäusserungen von Moraltheologen, Pädagogen, Sexualforschern usw. zeigen, eine Neubesinnung im Gange ist, die sich darin auswirkt, dass geschlechtliche Vorgänge offen und frei erörtert werden und in Sexualfragen eine versachlichte und natürliche Betrachtungsweise Platz gegriffen hat. Diesem allgemeinen Wandel in der Einstellung zur Sexualität und der damit verbundenen Herabsetzung der Empfindlichkeit kann sich auch die Rechtsprechung nicht verschliessen. Der Strafrichter hat demnach in Fällen, die nicht ![]() | 19 |
20 | |
Die Vorinstanz, die zutreffend davon ausgeht, dass die Vorführung von Beischlafsszenen in Filmen nicht zum vorneherein unerlaubt ist, erachtet die beanstandeten Szenen hauptsächlich deswegen als gegen das sittliche Empfinden verstossend, weil sie sich in der freien Natur abspielen und nach unserer Rechtsauffassung ![]() | 21 |
Wird der Film in der Bieler Fassung, in dem der gesellschaftskritische Teil trotz gewissen Kürzungen immer noch überwiegt, nach den in Ziff. 3 dargelegten Überlegungen beurteilt und dem Wandel der allgemeinen Anschauungen wie auch den Wirkungen der getroffenen Sicherungsvorkehren Rechnung getragen, so führt die Gesamtwürdigung zum Schluss, dass die eingeklagten Vorführungen den in geschlechtlichen Dingen zu wahrenden Anstand nicht in grober Weise verletzen und infolgedessen nicht als unzüchtig zu bewerten sind. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Angeschuldigte von der Anklage der unzüchtigen Veröffentlichung freizusprechen mit der Folge, dass der beschlagnahmte Film freizugeben ist.
| 22 |
Demnach erkennt der Kassationshof:
| 23 |
24 | |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |