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30. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Erben des J. und Mitb. sowie Verein für Asbestopfer und Mitb. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Glarus und Mitb. (Beschwerde in Strafsachen ) |
6B_627/2007 / 6B_629/2007 vom 11. August 2008 | |
Regeste |
Verfolgungsverjährung; Beginn der Verjährung; Art. 71 aStGB, Art. 98 lit. a StGB. | |
Sachverhalt | |
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Wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu eigenem Nachteil reichte am 28. August 2006 F. eine weitere Strafanzeige ebenfalls gegen S.A., T.A. und weitere, unbekannte Täter ein.
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B. Nach Durchführung verschiedener Untersuchungshandlungen stellte das Verhöramt des Kantons Glarus am 9. Oktober 2006 die gegen S.A., T.A. und unbekannte Tatverdächtige bei der Eternit (Schweiz) AG, bei der SUVA, beim ehemaligen Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft und beim Arbeitsinspektorat des Kantons Glarus angehobene Strafuntersuchung wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung und Körperverletzung im Zusammenhang mit Asbestexpositionen ein.
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C. Die gegen die Einstellung des Strafverfahrens von den Anzeigeerstattern in zwei Eingaben erhobenen Beschwerden wies das Kantonsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom 12. September 2007 ab, soweit es auf sie eintrat.
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Im Wesentlichen bestätigte das Kantonsgericht die Rechtsauffassung des Verhöramtes, wonach die beanzeigten Straftaten verjährt seien.
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D. Mit zwei Eingaben vom 12. bzw. 13. Oktober 2007 haben die Erben der im Laufe des kantonalen Verfahrens verstorbenen J. und S. (6B_627/2007) sowie der Verein für Asbestopfer, E.M. und F. (6B_629/2007) Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache zwecks Weiterführung der Untersuchung an das Verhöramt des Kantons Glarus zurückzuweisen. Diesen Antrag verbinden der Verein für Asbestopfer, E.M. und F. mit 27 Detailanträgen für die weitere Untersuchung.
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In den Vernehmlassungen stellt S.A. Antrag, die beiden Beschwerden abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. T.A. beantragt, auf die Beschwerden nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen. Die Eternit (Schweiz) AG beantragt, die Beschwerde 6B_627/2007 abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei, und auf die Beschwerde 6B_629/2007 nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen. Die SUVA stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde 6B_627/2007 und Nichteintreten, eventuell Abweisung der Beschwerde 6B_629/2007. Das Bundesamt für Umwelt, das Kantonale Arbeitsinspektorat und auch das Kantonsgericht des Kantons Glarus stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerden. Schliesslich verzichtet das Verhöramt des Kantons Glarus auf Stellungnahme.
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Aus den Erwägungen: | |
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Die Verjährung beginnt:
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a) mit dem Tag, an dem der Täter die strafbare Handlung ausführt;
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b) wenn der Täter die strafbare Tätigkeit zu verschiedenen Zeiten ausführt, mit dem Tag, an dem er die letzte Tätigkeit ausführt;
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c) wenn das strafbare Verhalten dauert, mit dem Tag, an dem dieses Verhalten aufhört.
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In der ursprünglichen Fassung des Gesetzes von 1937 (Art. 71 StGB) wie auch nach der heutigen Fassung (Art. 98 lit. a StGB) steht an der Stelle des Begriffs der strafbaren Handlung der Begriff der strafbaren Tätigkeit.
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4.2 Da die Verjährung mit dem Tag beginnt, an dem der Täter die strafbare Handlung beziehungsweise Tätigkeit ausführt (Art. 71 Abs. 1 aStGB [Fassung 2001], Art. 98 lit. a StGB), ist nach Lehre und Rechtsprechung der Zeitpunkt des tatbestandsmässigen Verhaltens, nicht der Zeitpunkt des Eintritts des allenfalls zur Vollendung des Delikts erforderlichen Erfolgs massgebend (BGE 101 IV 20 E. 3; HANS SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, 1. Bd., 4. Aufl., Bern 1982, S. 248; PAUL LOGOZ, Commentaire du Code pénal suisse, Partie générale, 2. Aufl., Neuenburg/Paris 1976, Art. 71 StGB N. 1; THORMANN/VON OVERBECK, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Allgemeiner Teil I, Zürich 1940, Art. 71 StGB N. 1; VITAL SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Zürich 1964, S. 219, Nr. 411; ERNST HAFTER, Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 1946, S. 435; JOSÉ HURTADO POZO, Droit pénal, Partie générale, Basel 2008, S. 536, ![]() | 18 |
Allerdings haben Fallkonstellationen, bei denen eine Straftat verjährt war, bevor der Erfolg eingetreten und damit der Straftatbestand erfüllt war, in der Literatur auch zu Irritationen Anlass gegeben. So hat zunächst HANS WALDER (Probleme bei Fahrlässigkeitsdelikten, ZBJV 104/1968 S. 186 ff.) das Ergebnis, dass eine Handlung verjähren kann, bevor sie strafbar sei, als paradox bezeichnet und erwogen, danach zu differenzieren, ob der Täter bewusst oder unbewusst fahrlässig gehandelt hat; bei bewusster Fahrlässigkeit wäre für den Beginn der Verjährung der Erfolgseintritt massgebend, bei unbewusster Fahrlässigkeit weiterhin das Ende des gefährlichen Tuns. WALDER räumt aber ein, dass eine solche Interpretation gleichfalls Bedenken begegnet und der Gesetzestext unbestreitbar an der Ausführung und nicht am Erfolg anknüpft (a.a.O., S. 188). Neuerdings haben DANIEL JOSITSCH/SARAH SPIELMANN (Die Verfolgungsverjährung bei fahrlässigen Erfolgsdelikten, AJP 2007 S. 189 ff.) die Meinung vertreten, der Wortlaut verlange bei fahrlässigen Erfolgsdelikten nicht zwingend, die Verjährung mit der Tathandlung laufen zu lassen. Das Gesetz gehe nämlich auch davon aus, dass eine strafbare Handlung vorliegen müsse, so dass es möglich erscheine, die Verjährung erst laufen zu lassen, wenn Strafbarkeit gegeben sei (a.a.O., S. 194), zumal es auch mit Sinn und Zweck des Rechtsinstituts der Verjährung unvereinbar wäre, von einer heilenden Wirkung des Zeitablaufs auszugehen, wenn noch kein Delikt vorliege und der Rechtsfrieden noch gar nicht gestört sei (a.a.O., S. 195). Freilich würde eine Gesetzesauslegung, die für den Beginn der Verjährungsfrist an der Erreichung der Strafbarkeitsgrenze anknüpft, dazu führen, dass zwar fahrlässige Erfolgsdelikte nicht verjähren könnten, bevor der Erfolg eintritt, vielmehr die Verjährungsfrist erst dann zu laufen beginnt, vorsätzlich begangene Erfolgsdelikte hingegen schon. Zwar liessen sich diese, da Strafbarkeit schon beim Überschreiten der Versuchsgrenze gegeben ist, ![]() | 19 |
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4.3.1 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Auszurichten ist die Auslegung auf die ratio legis, die zu ermitteln dem Gericht allerdings nicht nach den subjektiven Wertvorstellungen der Richter aufgegeben ist, sondern nach den Vorgaben des Gesetzgebers. Die Auslegung des Gesetzes ist zwar nicht entscheidend historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten, da sich die Zweckbezogenheit des rechtsstaatlichen Normverständnisses nicht aus sich selbst begründen lässt, sondern aus den Absichten des Gesetzgebers abzuleiten ist, die es mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungselemente zu ermitteln gilt. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben (BGE 133 III 175 E. 3.3.1; BGE 133 V 314 E. 4.1; BGE 128 I 34 E. 3b). Sinngemässe Auslegung kann auch zu Lasten des Beschuldigten vom Wortlaut abweichen. Im Rahmen solcher Gesetzesauslegung ist auch der Analogieschluss erlaubt. Dieser dient dann lediglich als Mittel sinngemässer Auslegung. Der Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 1 StGB) verbietet bloss, über den dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird (BGE 128 IV 272 E. 2 mit Hinweis).
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4.3.3 Rechtsvergleichend fällt allerdings auf, dass das deutsche Reichsgericht bei vergleichbarem Gesetzeswortlaut (§ 67 Abs. 4 des Reichsstrafgesetzbuches [RStGB]: "Die Verjährung beginnt mit dem Tage, an welchem die Handlung begangen ist, ohne Rücksicht auf ![]() | 23 |
4.3.4 Die vom Wortlaut abweichende bzw. diesen "berichtigende" Auslegung des Reichsgerichts (ALBERT MÖSL, Leipziger Kommentar, 9. Aufl., N. 2 zu § 67; JAGUSCH, a.a.O., S. 529) mag Anlass geben zu überdenken, ob die wörtliche Auslegung des Gesetzes durch das Bundesgericht und die herrschende schweizerische Lehre der aus der ratio legis abzuleitenden Funktion der Verjährung widerspricht. Das Institut der Verjährung versteht sich zwar nicht von selbst, doch entspricht die Auffassung, dass Straftaten, abgestuft nach der Schwere der Tat, nach gewisser Zeit nicht mehr verfolgt werden sollen, in unserem Rechtskreis allgemeiner Überzeugung. Nach Ablauf einer gewissen Zeit erscheint eine Bestrafung weder als kriminalpolitisch notwendig noch als gerecht. Das Bedürfnis nach Ausgleich begangenen Unrechts durch Verhängung einer Strafe schwindet mit der Zeit und damit auch die dadurch angestrebte Bewährung der Rechtsordnung wie auch die Notwendigkeit spezialpräventiver Einwirkung auf den Täter durch Abschreckung und Besserung (DONATSCH/TAG, a.a.O., ![]() | 24 |
Die Gründe für eine Verjährung von Straftaten, auf die hier interessierende Problematik grosser zeitlicher Differenz zwischen Tathandlung und Erfolg angewendet, führen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar lässt sich 1) sagen, dass mit dem Eintritt des Erfolgs der Rechtsfriede nachhaltig gestört ist und das Bedürfnis nach Ausgleich auch keineswegs verblasst, wenn die Tathandlung lange Zeit zurückliegt. Anders aber verhält es sich 2) mit der vom Strafrecht bezweckten Einwirkung auf den Täter, wofür der Zeitablauf seit der Tathandlung bedeutsam ist. Beweisschwierigkeiten bestehen 3) zwar mit Bezug auf den Erfolg keine, für die hierfür ursächliche Tathandlung aber sehr wohl. Jahr und Tag nach der Handlung erhöhen sich nicht nur die Beweisschwierigkeiten für die Strafverfolgungsbehörde, auch für den mutmasslichen Täter sind Entlastungsbeweise regelmässig nicht mehr greifbar. Dieser Problematik muss das Strafrecht Rechnung tragen. Angesichts all dessen lässt sich jedenfalls nicht sagen, dass es der Funktion der Ratio der Verjährung geradezu widerspricht, diese nicht erst ab Erfolg, sondern schon mit der Tathandlung laufen zu lassen.
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4.3.5 Im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung sind auch die Anforderungen zu berücksichtigen, welche sich an die gesetzliche Regelung aus Grundrechtsgarantien ergeben. Hierbei fällt zunächst der Anspruch aus Art. 6 EMRK auf Zugang zu einem Gericht in Betracht. Diesen Zugang gewährt die Konvention allerdings nicht voraussetzungslos. Vielmehr kann er an sachliche Bedingungen geknüpft werden. Als solche können die Regeln über die Verjährung ohne weiteres gelten. Immerhin dürfen ![]() | 26 |
Zu keinem anderen Ergebnis führen auch die Anforderungen, welche sich aus den grundrechtlichen Ansprüchen auf Achtung des Lebens (Art. 2 EMRK) und auf Achtung der Privatsphäre (Art. 8 EMRK) ergeben. Die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern es leiten sich aus ihnen auch Schutzpflichten des Staates gegen Beeinträchtigungen durch Private ab. Art. 2 EMRK verlangt in Abs. 1, dass das Recht auf Leben gesetzlich geschützt wird. Daraus folgt zwar nicht, dass der Staat jede Möglichkeit der Gewaltanwendung durch Private zu verhindern verpflichtet wäre, wozu er auch gar nicht in der Lage ist. Dem Gesetzgeber steht auch grosses Ermessen in der Beurteilung zu, mit welchen gesetzgeberischen Mitteln er den Schutz seiner Bürger gewährleisten will. Zum Schutz hochwertiger Rechtsgüter kann er aber verpflichtet sein, auch strafrechtliche Sanktionen vorzusehen (Urteile EGMR i.S. X und Y gegen Niederlande vom 26. März 1985, Serie A, Band 91, Ziff. 27; i.S. M.C. gegen Bulgarien ![]() | 27 |
Wenn der schweizerische Gesetzgeber für die Verjährung am Handlungsunrecht anknüpft, so beruht dies auf sachlichen Gründen. Es führt zwar dazu, dass unter besonderen Umständen, wenn die Handlung weit zurückliegt, eine Straftat nicht verfolgt werden kann. Das kann aber mit den erheblich erschwerten Verteidigungsmöglichkeiten des mutmasslichen Täters Jahr und Tag nach einem behaupteten Fehlverhalten und der eingeschränkten Bedeutung spezialpräventiver Einwirkung auf den Täter lange Zeit nach der vorgeworfenen Handlung gerechtfertigt werden. Jedenfalls bedeutet eine am Handlungsunrecht anknüpfende Verjährungsregelung nicht, dass der Schutz des Lebens mittels strafrechtlicher Mittel den generalpräventiven Erfordernissen nicht genügen würde und dadurch Art. 2 EMRK verletzt wäre.
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