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47. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_385/2011 vom 23. September 2011 | |
Regeste |
Art. 37 Abs. 1 SVG, Art. 12 Abs. 2 VRV, Art. 181 StGB; Nötigung durch andere Beschränkung der Handlungsfreiheit, Konkurrenz zu SVG-Delikten. | |
Sachverhalt | |
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Die kantonalen Instanzen sprachen X. für diesen Sachverhalt der mehrfachen Nötigung sowie der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die unangefochten gebliebene Qualifikation dieses Verhaltens als grobe Verkehrsregelverletzung.
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3.2 Unter Hinweis auf die erstinstanzlichen Ausführungen erwägt die Vorinstanz, durch das mehrfache Abbremsen habe der Beschwerdeführer A. keine andere Möglichkeit gelassen, als ebenfalls zum Stillstand zu kommen. Damit habe er dessen Handlungsfreiheit eingeschränkt und ihn zu einem Handeln bestimmt, das dieser sonst nicht vorgenommen hätte. Der Beschwerdeführer habe nicht aufgrund der Verkehrssituation, sondern aus rein schikanösen Motiven gehandelt und damit überdies in grober Weise die Verkehrsregeln verletzt. Die Rechtswidrigkeit der Nötigung sei gegeben. Während Art. 181 StGB die freie Willensbildung und -betätigung schütze, ![]() | 6 |
Erwägung 3.3 | |
3.3.1 Wegen Nötigung nach Art. 181 StGB wird bestraft, wer jemanden durch Gewalt, Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden. Die Tatbestandsvariante der "anderen Beschränkung der Handlungsfreiheit" ist restriktiv auszulegen. Dieses Zwangsmittel muss, um tatbestandsmässig zu sein, das üblicherweise geduldete Mass an Beeinflussung in ähnlicher Weise eindeutig überschreiten, wie es für die ausdrücklich genannten Nötigungsmittel der Gewalt und der Androhung ernstlicher Nachteile gilt (BGE 134 IV 216 E. 4.1 mit Hinweisen). Es muss ihnen in seiner Intensität bzw. Wirkung ähnlich sein (BGE 119 IV 301 E. 2a mit Hinweis). Als Nötigung gilt z.B. die Verhinderung eines öffentlichen Vortrags durch organisiertes und mit Megafon unterstütztes "Niederschreien", ebenso die Bildung eines "Menschenteppichs" und die Sabotage einer Bahnschranke, die je den Strassenverkehr behinderten, sowie die Blockierung des Haupteingangs eines Verwaltungsgebäudes oder die Blockade des Autobahnverkehrs während eineinhalb Stunden (Zusammenfassung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in BGE 134 IV 216 E. 4.2 und BGE 129 IV 6 E. 2.2 f.).
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Unrechtmässig ist eine Nötigung, wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist, wenn das Mittel zum erstrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis steht oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich zulässigen Mittel und einem erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist (BGE 134 IV 216 E. 4.1 mit Hinweisen).
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3.3.2 Das Bundesgericht hat sich bislang nicht dazu geäussert, ob Beeinträchtigungen der freien Willensbetätigung im Strassenverkehr, namentlich bei Schikanestopps oder dem nicht verkehrsbedingten Ausbremsen nachfolgender Fahrzeuge, rechtlich als Nötigung zu qualifizieren sind. Obwohl diese Verhaltensweisen wiederholt Gegenstand kantonaler Entscheide waren, die bis an das Bundesgericht gelangten, musste es aus prozessualen Gründen weder zur rechtlichen Qualifikation dieser Fahrmanöver als Nötigung noch zur Frage des Konkurrenzverhältnisses zu SVG-Delikten Stellung nehmen (z.B. ![]() | 9 |
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Für die Einhaltung des angemessenen Abstandes hat im Regelfall der Fahrer des hinteren Fahrzeugs zu sorgen (BGE 115 IV 248 E. 3a; BGE 81 IV 47 E. 3a und 302 E. 1; Urteil 6B_451/2010 vom 13. September 2010 E. 3.4 mit Hinweisen). Nach Art. 37 Abs. 1 SVG hat jedoch der Lenker, der anhalten will, nach Möglichkeit auf die nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen. Dieser Artikel erfasst nach seinem Wortlaut nur das freiwillige und voraussehbare Halten. An der Freiwilligkeit und möglichen Rücksichtnahme gebricht es, wenn ein Fahrzeuglenker wegen äusserer Umstände, bspw. verkehrsbedingt durch einen anderen Verkehrsteilnehmer, wegen eines plötzlich auf der Fahrbahn auftauchenden Hindernisses, wie ein Wirbeltier (BGE 115 IV 248 E. 4b und 5b S. 253 mit Hinweis und S. 254), durch Verkehrsregelung (HANS GIGER, SVG - Strassenverkehrsgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2008, N. 1 zu Art. 37 SVG) oder aus fahrzeugtechnischen Gründen sofort bremsen muss. Brüskes Bremsen und Halten sind nur gestattet, wenn kein Fahrzeug folgt und im Notfall (Art. 12 Abs. 2 VRV). In BGE 117 IV 504 mit dem Regestentitel "Art. 12 Abs. 2 VRV; brüskes Bremsen (Schikanestop)" erwog das Bundesgericht, nebst dem grundlos scharfen oder einigermassen kräftigen Bremsen aus Böswilligkeit mit dem Zweck, den nachfolgenden Lenker zu erschrecken oder gar eine Auffahrkollision zu provozieren (BGE 99 IV 100), bremse auch brüsk, wer - wenn ein ![]() | 11 |
3.4 Nach den vorinstanzlichen Feststellungen bremste der Beschwerdeführer in Y. mitten auf der Fahrbahn auf der Höhe der Verzweigung H./K. sein Fahrzeug unvermittelt und ohne verkehrsbedingten Grund bis zum Stillstand ab. Um eine Kollision zu vermeiden, musste A., der Lenker des nachfolgenden Personenwagens, eine Vollbremsung vornehmen. Nur wenige Meter nachdem der Beschwerdeführer seine Fahrt fortgesetzt hatte, nahm er erneut einen solchen Schikanestopp bis zum Stillstand vor, wodurch es zur Kollision mit dem Fahrzeug von A. kam. Unabhängig vom zeitlichen Aspekt haben die Manöver des Beschwerdeführers das üblicherweise geduldete Mass ebenso eindeutig überschritten, wie es bei der Ausübung von Gewalt oder dem Androhen eines ernstlichen Nachteils der Fall ist. Die durch die schikanösen Vollbremsungen ausgelösten Zwangsituationen waren von einer solchen Intensität, dass sie die freie Willensbetätigung von A. einschränkten. Ein solcher Schikanestopp bis ![]() | 12 |
Erwägung 3.5 | |
3.5.1 Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, dass zwischen der Nötigung und der Verletzung von Verkehrsbestimmungen in der Regel unechte Konkurrenz besteht, wenn ein Verkehrsteilnehmer durch seine Fahrweise einen anderen Strassenbenützer zu einem bestimmten Verhalten nötigt. Zur Begründung wird angeführt, er sei nur wegen der Verletzung der einschlägigen Verkehrsregel(n) zu bestrafen, da diese insbesondere der Vermeidung von Beschränkungen anderer Verkehrsteilnehmer dienen (ANDREAS DONATSCH, Strafrecht III, 9. Aufl. 2008, S. 414 f. mit Hinweis auf das dem BGE 111 IV 167 zugrunde liegende Urteil des Berner Obergerichts; BERNARD CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. I, 3. Aufl. 2010, N. 48 zu Art. 181 StGB). Oder es wird begründet, eine Verletzung der Verkehrsregeln werde durch die Nötigung konsumiert, wenn sie ![]() | 13 |
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Geschütztes Rechtsgut von Art. 181 StGB ist die Handlungsfreiheit bzw. die Freiheit der Willensbildung und -betätigung des Einzelnen (BGE 129 IV 6 E. 2.1 mit Hinweisen). Geschützt ist auch die Freiheit, den Willen der automobilen Fortbewegung zu betätigen (BGE 134 IV 216 E. 4.4.3 mit Hinweis). Beim vorliegend massgeblichen Art. 90 Ziff. 2 SVG handelt es sich zwar um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, indessen schützt er nicht das gleiche Rechtsgut wie die Nötigung (zum Verhältnis zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten am Beispiel von Urkunden- und Vermögensdelikten BGE 129 IV 53 E. 3.5 f.). Mit den Verkehrsregeln soll insbesondere die Verkehrssicherheit auf öffentlichen Strassen gewährleistet werden. Der Beschwerdeführer hat mit seinen Bremsmanövern zum einen die Handlungsfreiheit von A. verletzt, zum anderen abstrakt weitere Verkehrsteilnehmer gefährdet. Sein Verhalten betrifft sowohl unterschiedliche Rechtsgüter als auch verschiedene Rechtsgutträger. Demgemäss verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie ihn der mehrfachen Nötigung sowie der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig spricht, mithin echte Idealkonkurrenz annimmt.
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