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59. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau und Mitb. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_877/2014 vom 5. November 2015 | |
Regeste |
Art. 422, 423 Abs. 1, Art. 424 und 426 Abs. 1 und 3 lit. a StPO; Begriff der Verfahrenskosten; gesetzliche Regelung der Gebühren; interne Weisungen; Beleg von Auslagen. |
Die Kosten der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sind keine Auslagen im Sinne von Art. 422 StPO. Sie dürfen der verurteilten Person nicht gestützt auf Art. 426 Abs. 1 StPO auferlegt werden. Kosten für die Bewachung zu Sicherungszwecken während eines Spitalaufenthalts sind den Kosten der Untersuchungshaft gleichzustellen (E. 9.5.2). |
Begriff der Kosten im Sinne von Art. 422 Abs. 2 lit. d StPO. Für Leistungen der Polizei, welche diese aufgrund ihrer Stellung als Strafbehörde in einem konkreten Strafverfahren zu erbringen hat, dürfen der verurteilten Person - abgesehen von allfälligen Auslagen für Material u.Ä. - keine Auslagen verrechnet werden (E. 9.5.3). |
Umgang mit Kosten für die medizinische bzw. ärztliche Behandlung der verurteilten Person (E. 9.5.4) sowie mit Kosten für die Reinigung des Tatorts (E. 9.5.5). |
Art und Bemessungsgrundlagen der Gebühren müssen gesetzlich geregelt sein. Soweit für die Begründung des pflichtgemässen Ermessens bei der Festsetzung der Gebühren auf interne Weisungen verwiesen wird, müssen diese der betroffenen Person zugänglich gemacht werden (E. 9.5.6). Pflicht der Staatsanwaltschaft, Auslagen zu belegen (E. 9.7). | |
Sachverhalt | |
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B. Das Obergericht des Kantons Thurgau sprach X. am 12. Mai 2014 in teilweiser Gutheissung der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft des Mordes sowie der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren. Im Übrigen bestätigte es das erstinstanzliche Urteil und auferlegte X. die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr von Fr. 5'000.-. Die Berufung von X. wies es ab.
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Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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Am 14. Oktober 2010 um ca. 20 Uhr kam es zwischen X. und G.H., die den bald sechs Monate alten gemeinsamen Sohn C.H. auf dem Arm trug, in der Küche ihrer Wohnung zu einem verbalen Streit. Dieser nahm an Intensität zu, wobei sich beide Partner eines Messers behändigten. X. stach mit dem Messer kraftvoll auf G.H. ein, welche ihm zuvor leichte Verletzungen an der Hand zugefügt hatte. Als G.H. mit dem Kind auf dem Arm über das Wohnzimmer ins Freie flüchtete, liess X. das verbogene Messer auf den Küchenboden fallen, nahm ein zweites Messer, verfolgte die fliehende und um Hilfe rufende G.H., holte sie ein und stach, auch als diese bereits am Boden lag, weiter kraftvoll zu, bis sie tot war. Danach fügte er sich Verletzungen am Hals sowie - mit grösster Wahrscheinlichkeit - auch in der Bauchgegend zu und legte sich neben G.H. auf den ![]() | 4 |
C. X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil vom 12. Mai 2014 vollumfänglich aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei er des Totschlags (Art. 113 StGB) zum Nachteil von G.H. schuldig zu sprechen und mit einer angemessenen Freiheitsstrafe von maximal acht Jahren zu bestrafen. Bezüglich der weiteren Anklagepunkte sei er freizusprechen. Es seien ihm die Verfahrensgebühren des Untersuchungs- und des erstinstanzlichen Verfahrens sowie die tatsächlichen Strafuntersuchungsauslagen aufzuerlegen.
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D. Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft beantragen die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdegegner 2-5 liessen sich nicht vernehmen.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 9 | |
9.1 Der Beschwerdeführer beanstandet, die ihm auferlegten Untersuchungskosten seien übersetzt. Die Vorinstanz habe sich mit seiner Rüge in Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht befasst. Die Kostenauflage basiere auf einer unsubstanziierten Kostenauflistung der Staatsanwaltschaft, aus welcher nicht hervorgehe, wie sich die auferlegten Gebühren bestimmten und für was die sehr hohen angeblichen Strafuntersuchungsauslagen entstanden seien. Aus der Kostenauflistung ergebe sich immerhin, dass ein wesentlicher Teil der geltend gemachten Auslagen ("Bewachung", "Verlegung", "Bewachungspersonal", "Aufnahmepauschale Regionalgefängnis" etc.) als Strafvollzugskosten anzusehen und keine Auslagen im Sinne von Art. 422 Abs. 2 StPO seien. Weiter habe ihm die Vorinstanz Polizeikosten ("Untersuchungskosten Datensicherung", "Ausrücktaxe", "Kriminaltechnik") in der Höhe von Fr. 4'000.- auferlegt. Dabei handle es sich wohl nicht um tatsächlich entstandene Auslagen, sondern um Gebühren der Polizei, welche ohne gesetzliche Grundlage erhoben würden und ohne dass die Höhe dieser Gebühren überprüfbar sei. Zudem seien ihm Auslagen für die Reinigung des Tatorts in der Höhe von Fr. 774.70 überbunden worden. ![]() | 7 |
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Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft äusserten sich vor Bundesgericht nicht zur Rüge des Beschwerdeführers betreffend die Untersuchungskosten.
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9.3 Die Vorinstanz auferlegt dem Beschwerdeführer ohne nähere Begründung die gesamten von der Staatsanwaltschaft geltend gemachten Untersuchungskosten in der Höhe von Fr. 134'756.55, dies obschon der Beschwerdeführer in seiner Berufungserklärung vom 2. Dezember 2013 ausdrücklich auch die ihm belasteten Untersuchungskosten anfocht, wobei er für die Begründung auf seine ![]() | 10 |
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Erwägung 9.5 | |
9.5.1 Art. 422 Abs. 1 StPO unterscheidet zwischen Gebühren und Auslagen, die zusammen die Verfahrenskosten bilden. Die Gebühren werden vom Staat für die Inanspruchnahme einer staatlichen Leistung erhoben. Sie stellen eine öffentlich-rechtliche Gegenleistung für das Tätigwerden der Behörden dar (vgl. BGE 124 I 241 E. 4a; BGE 107 Ia 117 E. 2c; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, N. 1683; YVONA GRIESSER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/ Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 4 zu Art. 422 StPO; THOMAS DOMEISEN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 11 vor Art. 416-436 StPO). Die Gebühren im Sinne von Art. 422 Abs. 1 StPO decken den allgemeinen Aufwand des Staates (Besoldung, Räumlichkeiten etc.) für die Bereitstellung der Strafbehörden (NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts [nachfolgend: Handbuch], 2. Aufl. ![]() | 12 |
Die Auslagen erfassen demgegenüber die im konkreten Strafverfahren entstandenen notwendigen finanziellen Aufwendungen des Staates (GRIESSER, a.a.O., N. 6 zu Art. 422 StPO; SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 2 zu Art. 422 StPO). Zwar ist die Möglichkeit der Kostenauflage im Strafverfahren in der StPO abschliessend geregelt (vgl. Art. 423 Abs. 1 StPO; DOMEISEN, a.a.O., N. 8 vor Art. 416-436 StPO; JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2013, N. 5048). Die Auflistung der Auslagen in Art. 422 Abs. 2 StPO ist dennoch nur beispielhaft ("namentlich") zu verstehen (SCHMID, Praxiskommentar, a.a.O., N. 3 zu Art. 422 StPO; GRIESSER, a.a.O., N. 7 zu Art. 422 StPO; DOMEISEN, a.a.O., N. 6 zu Art. 422 StPO; KÜNG, a.a.O., S. 419; JEANNERET/KUHN, a.a.O., N. 5053). Zu den Auslagen im konkreten Straffall nach Art. 422 Abs. 1 StPO gehören etwa auch Zeugenentschädigungen oder Auslagen im Zusammenhang mit ![]() | 13 |
Vom Staat verursachte unnötige Kosten zählen nicht zu den von der beschuldigten Person zu tragenden Auslagen (vgl. Art. 426 Abs. 3 lit. a StPO; GRIESSER, a.a.O., N. 6 zu Art. 422 StPO). Auch Aufwendungen, die der beschuldigten Person, der Privatklägerschaft oder Dritten in einem Strafverfahren entstanden sind, stellen keine Verfahrenskosten im Sinne von Art. 422 StPO dar (DOMEISEN, a.a.O., N. 2 zu Art. 422 StPO).
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9.5.2 Art. 493 Abs. 2 lit. b des Vorentwurfs vom Juni 2001 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung (VE-StPO) zählte die Kosten der Untersuchungs- und Sicherheitshaft noch ausdrücklich zu den Auslagen. Art. 494 Abs. 3 VE-StPO sah jedoch vor, dass diese Kosten nur den Beschuldigten auferlegt werden, die sich in günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden oder entsprechende Anwartschaften besitzen. Im Vernehmlassungsverfahren wurde ein gänzlicher Ausschluss der Möglichkeit der Überwälzung der Kosten der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft auf die verurteilte Person gefordert (vgl. Bundesamt für Justiz, Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens über die Vorentwürfe zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung und zu einem Bundesgesetz über das Schweizerische Jugendstrafverfahren, Februar 2003, S. 87). In der vom Parlament diskussionslos übernommenen Bestimmung von Art. 422 Abs. 2 StPO sind die Kosten der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft nicht mehr aufgelistet. Auch Art. 426 Abs. 1 StPO sieht - anders als noch Art. 494 Abs. 3 VE-StPO - den Vorbehalt der "günstigen wirtschaftlichen Verhältnisse" nur noch für die Kosten der amtlichen Verteidigung vor. Die herrschende Lehre geht daher zutreffend davon aus, dass die Kosten der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft keine von der verurteilten Person gestützt auf Art. 422 i.V.m. Art. 426 Abs. 1 StPO zu tragenden Auslagen sind (SCHMID, Handbuch, a.a.O., N. 1776 Fn. 39 und N. 1784; ders., Praxiskommentar, a.a.O., N. 3 zu Art. 426 StPO; OBERHOLZER, a.a.O., N. 1684; GRIESSER, a.a.O., N. 19 zu Art. 422 StPO; DOMEISEN, a.a.O., N. 19 zu Art. 422 StPO; RUCKSTUHL/DITTMANN/ARNOLD, Strafprozessrecht, 2011, N. 1096 Fn. 686; DANIEL JOSITSCH, Grundriss des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, N. 740; MARK PIETH, Schweizerisches Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2012, S. 242 Fn. 11; KÜNG, a.a.O., S. 419 f.; anderer Meinung JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse [CPP], 2012, N. 1299, wonach es dem ![]() | 15 |
Die Kosten für die Bewachung zu Sicherungszwecken (Verhinderung einer Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr, vgl. Art. 221 Abs. 1 StPO) während eines Spitalaufenthalts sind den Kosten der Untersuchungshaft gleichzustellen, da nicht entscheidend sein kann, an welcher Örtlichkeit die beschuldigte Person für die ![]() | 16 |
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Unklar ist, ob die Vorinstanz diesen Grundsätzen Rechnung trägt, da aus der Kostenauflistung der Staatsanwaltschaft zum Teil nicht hervorgeht, ob es sich bei den polizeilichen Kosten um Auslagen oder Gebühren handelt. Für den Fall, dass dem Beschwerdeführer Gebühren für die polizeiliche Tätigkeit auferlegt wurden, macht dieser zu Recht geltend, die Vorinstanz gebe keine gesetzliche Grundlage an.
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9.5.4 Der Beschwerdeführer trägt gemäss dem angefochtenen Entscheid zudem Kosten für Medikamente und seine medizinische bzw. ärztliche Behandlung. Nicht ersichtlich ist, inwiefern darin Kosten des Strafverfahrens im Sinne von Art. 422 StPO erblickt werden können, da diese grundsätzlich unabhängig von einem Strafverfahren anfallen und mit der Strafuntersuchung in keinem Zusammenhang stehen. Solche Kosten sind mit der betroffenen Person daher gleich abzurechnen, wie wenn nie ein Strafverfahren eröffnet worden wäre. Verfügt diese nicht über die erforderlichen Mittel, muss ![]() | 19 |
Soweit die medizinischen Kosten die von den Strafanstalten sicherzustellende (im Kostgeld der Vollzugseinrichtungen inbegriffene) medizinische oder psychiatrische Grundversorgung während der Untersuchungshaft betreffen, könnten diese allenfalls als Kosten der Untersuchungshaft qualifiziert werden. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sie nicht in Anwendung von Art. 422 i.V.m. Art. 426 Abs. 1 StPO der verurteilten Person auferlegt werden dürfen (oben E. 9.5.2).
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Als Strafuntersuchungskosten nach Art. 422 StPO gelten Auslagen für medizinische Untersuchungen im Zusammenhang mit der Strafuntersuchung (z.B. bei Verdacht auf intrakorporalen Drogenschmuggel, sog. Bodypacking). Solche stehen hier jedoch nicht zur Diskussion.
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