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35. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Solothurn und A. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_829/2014 vom 30. Juni 2016 | |
Regeste |
Art. 49 Abs. 1 und 2 StGB; Zusatzstrafe (retrospektive Konkurrenz). |
Die Zusatzstrafe ist die infolge Asperation mit der Grundstrafe reduzierte Strafe für die neu zu beurteilenden Taten (E. 2.4.4). | |
Sachverhalt | |
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B. Das Amtsgericht Bucheggberg-Wasseramt verurteilte X. am 4. September 2013 wegen mehrfacher Körperverletzung, Nötigung, mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher Vergewaltigung und Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 4 Jahren Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe zu einem Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 15. Juni 2011 (8 Jahre Freiheitsstrafe und eine Busse von Fr. 500.-). Von weiteren Vorwürfen sprach es ihn frei. Es verpflichtete ihn, A. eine Genugtuung von Fr. 15'000.- sowie eine Entschädigung und Schadensersatz von Fr. 3'246.45 zu zahlen.
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C. Die von X. erhobene Berufung gegen die Schuldsprüche wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Nötigung, Nötigung und die Genugtuung, soweit sie Fr. 2'000.- übersteigt, wies das Obergericht des Kantons Solothurn am 22. Mai 2014 ab und sprach ebenfalls eine vierjährige Zusatzstrafe aus.
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D. X. führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf der mehrfachen Vergewaltigung, mehrfachen sexuellen Nötigung und Nötigung freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Obergericht stellt in seiner Replik keinen Antrag in der Sache.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Strafzumessung. Die Vorinstanz verstosse gegen die Grundsätze der "reformatio in peius" und der "res iudicata" und verletze Art. 49 StGB. Sie erachte in Abweichung des rechtskräftigen Urteils des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 15. Juni 2011 eine Grundstrafe von 9 ![]() | 7 |
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Erwägung 2.3 | |
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2.3.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung greift das Asperationsprinzip nur, wenn mehrere gleichartige Strafen ausgesprochen werden. Ungleichartige Strafen sind kumulativ zu verhängen. Das Gericht kann eine Gesamtfreiheitsstrafe nur ausfällen, wenn es im ![]() | 10 |
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2.4.1 Aus der Entstehungsgeschichte und dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass Art. 49 Abs. 2 StGB keine erneute Überprüfung der in Rechtskraft erwachsenen Strafe erlaubt. Der Gesetzgeber hat sich in Anlehnung an die zu Art. 68 Ziff. 2 aStGB entwickelte bundesgerichtliche Rechtsprechung im Rahmen von Art. 49 Abs. 2 StGB bewusst gegen eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung unter Aufhebung des rechtskräftigen Ersturteils und für eine unabhängige Zusatzstrafe der noch nicht abgeurteilten Delikte entschieden (vgl. Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes] und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 2061 f. Ziff. 213.2 und 213.24; KOCH, a.a.O., S. 190; TRECHSEL/AFFOLTER-EIJSTEN, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 19 zu Art. 49 StGB). Das Gesetz bezeichnet die bei retrospektiver Konkurrenz auszusprechende Strafe, die sich der ![]() | 13 |
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Die neuerliche Rechtsprechung ist fortzuführen und zu präzisieren. Die Rechtskraft und Unabänderlichkeit der Grundstrafe kann nicht beschränkt werden, sondern umfasst deren Art, Dauer und Vollzugsform. Dass das Zweitgericht die Zusatzstrafe nach den zu Art. 49 Abs. 1 StGB entwickelten Grundsätzen zu bilden hat, erlaubt es ihm nicht, im Rahmen der retrospektiven Konkurrenz auf die rechtskräftige Grundstrafe zurückzukommen. Zwar hat es sich in die Lage zu versetzen, in der es sich befände, wenn es alle der Grund- und Zusatzstrafe zugrunde liegenden Delikte in einem einzigen Entscheid ![]() | 15 |
Ist der Täter nach Ansicht des Zweitgerichts durch ein rechtskräftiges Urteil zu milde oder zu hart bestraft worden, so kann es die seines Erachtens "falsche" Grundstrafe nicht über die Zusatzstrafe korrigieren. Könnte das die Zusatzstrafe aussprechende Gericht selber bestimmen, welche Strafe es anstelle des Erstgerichts ausgesprochen hätte, wenn ihm alle Delikte bekannt gewesen wären (so noch BGE 133 IV 150 E. 5.2.1; Urteil 6B_460/2010 vom 4. Februar 2011 E. 3.3.1, nicht publ. in: BGE 137 IV 57; vgl. auch: ACKERMANN, a.a.O., N. 173 ff. zu Art. 49 StGB; MATHYS, a.a.O., N. 386; KOCH, a.a.O., S. 193 f.), würde es faktisch - und nicht nur hypothetisch - in die Rechtskraft des Ersturteils eingreifen und statt einer Zusatzstrafe eine nachträgliche Gesamtstrafe ausfällen. Der hypothetischen Gesamtstrafe läge eine mit der tatsächlich ausgefällten, nicht übereinstimmende (höhere oder niedrigere) Grundstrafe zu Grunde, deren Differenz sich eins zu eins in der Zusatzstrafe niederschlagen würde. Der Täter würde über die Zusatzstrafe nachträglich für die bereits rechtskräftig beurteilten Taten schwerer bestraft oder privilegiert (unzutreffend insoweit: Urteil 6B_368/2010 vom 23. August 2010 E. 5.4). Dass das Dispositiv des rechtskräftigen Urteils unverändert bleibt, schliesst den faktischen Eingriff in die Grundstrafe und somit in die Rechtskraft des Ersturteils nicht aus. Beides will Art. 49 Abs. 2 StGB aber gerade ausschliessen. Zudem dürfte es dem Zweitgericht aufgrund einer nachträglichen Beurteilung anhand der Akten häufig kaum möglich sein, hinsichtlich der abgeurteilten Delikte eine den gesetzlichen Anforderungen von Art. 47, Art. 49 und Art. 50 StGB genügende Strafzumessung vorzunehmen (vgl. zur Begründungspflicht: Urteile 6B_45/2014 vom 24. April 2015 E. 1.4.1; 6B_417/2012 vom 14. Januar 2013 E. 4.3 mit Hinweisen; siehe auch BGE 135 IV 146 E. 2.4.1 S. 149 f. [zu Art. 89 Abs. 6 StGB]).
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2.4.3 Um feststellen zu können, ob die Voraussetzungen für eine Zusatzstrafe gemäss Art. 49 Abs. 2 StGB vorliegen, hat das Zweitgericht (zumindest bei Realkonkurrenz/Tatmehrheit, concours réel, concorso reale) zunächst sämtliche Einzelstrafen für die von ihm neu ![]() | 17 |
Die Einzelstrafen sind unter Einbezug aller straferhöhenden und strafmindernden Tatumstände (grundsätzlich) innerhalb des ordentlichen Strafrahmens des jeweiligen Straftatbestandes (und nicht desjenigen mit der abstrakt höchsten Strafandrohung) festzusetzen. Der Täter kann auch bei gleichzeitiger Beurteilung mehrerer Taten für das einzelne Delikte nicht stärker bestraft werden als gesetzlich durch den erfüllten Straftatbestand vorgesehen (vgl. BGE 136 IV 55 E. 5.8; Urteil 6B_510/2015 vom 25. August 2015). Die Anwendung des Strafrahmens eines anderen Tatbestandes ist ausgeschlossen. Dass ausnahmsweise eine Strafrahmenerweiterung zur Anwendung gelangen kann, wenn das Gericht mehrere zeitlich und sachlich eng miteinander verknüpfte Taten im Gesamtzusammenhang würdigt und hierfür eine "Einzelstrafe" ausspricht, (vgl. Urteil 6B_492/2015 vom 2. Dezember 2015 E. 4.2.1, nicht publ. in: BGE 141 IV 437 mit Hinweisen), erscheint nicht ausgeschlossen. Jedoch ist dies nur in den engen Grenzen denkbar, die für die Strafrahmenerweiterung bei der Gesamtstrafenbildung gelten (vgl. nachstehend E. 2.4.5).
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2.4.4 Die Zusatzstrafe ist die infolge Asperation mit der Grundstrafe reduzierte Strafe für die neu zu beurteilenden Taten. Um bei der Zusatzstrafenbildung dem Prinzip der Strafschärfung gemäss Art. 49 Abs. 2 StGB Rechnung zu tragen, hat das Zweitgericht die rechtskräftige Grundstrafe und die von ihm für die neu zu beurteilenden Taten auszusprechenden Strafen nach den Grundsätzen von ![]() | 19 |
Es ist zu unterscheiden, ob die Grundstrafe oder die neu zu beurteilenden Delikte die schwerste Straftat enthalten. Im ersten Fall ist die Grundstrafe aufgrund der Einzelstrafen der neu zu beurteilenden Delikte angemessen zu erhöhen. Anschliessend ist von der (gedanklich) gebildeten Gesamtstrafe die Grundstrafe abzuziehen, was die Zusatzstrafe ergibt. Liegt umgekehrt der Einzel- oder Gesamtstrafe der neu zu beurteilenden Taten die schwerste Straftat zugrunde, ist diese um die Grundstrafe angemessen zu erhöhen. Die infolge Asperation eintretende Reduzierung der rechtskräftigen Grundstrafe ist von der Strafe für die neu zu beurteilenden Delikte abzuziehen und ergibt die Zusatzstrafe. Bilden die Grundstrafe und die Strafe für die neu zu beurteilenden Delikte ihrerseits Gesamtstrafen, kann das Zweitgericht der bereits im Rahmen der jeweiligen Gesamtstrafenbildung erfolgten Asperation durch eine gemässigte Berücksichtigung bei der Zusatzstrafenbildung Rechnung tragen.
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2.4.5 Da im Rahmen der Gesamtstrafenbildung die Tat mit der abstrakt höchsten Strafandrohung die Einsatzstrafe bildet, muss die Gesamtstrafe als erhöhte Einsatzstrafe einerseits die gesetzlich vorgeschriebene Mindeststrafe für das schwerste Delikt (um mindestens eine Strafeinheit) überschreiten und darf andererseits nicht niedriger ausfallen als die höchste verwirkte Einzelstrafe. Der Täter würde ansonsten aufgrund mehrfacher Tatbegehung eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Strafminderung erfahren. Umgekehrt ist zu beachten, dass die fakultative Strafschärfung, d.h. die Möglichkeit, das Höchstmass der angedrohten schwersten Strafe um maximal die Hälfte im Rahmen des gesetzliches Höchstmasses zu erhöhen, dem Umstand ![]() | 21 |
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2.5.1 Die Vorinstanz beurteilt das Tatverschulden sämtlicher mit Urteil vom 15. Juni 2011 abgeurteilter Taten (von der versuchten ![]() | 25 |
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Hingegen verletzt die Vorinstanz Bundesrecht, indem sie für die Delikte zum Nachteil der Beschwerdegegnerin 2 von einem ![]() | 27 |
2.6 Die Vorinstanz hat die Zusatzstrafe neu zu bestimmen. Die vom Erstgericht ausgesprochene Strafe für die versuchte vorsätzliche Tötung als abstrakt schwerstes Delikt (Einsatzstrafe der Grundstrafe) ist um die Strafe für die neu zu beurteilenden Taten asperierend zu schärfen. Die Vorinstanz ist hierbei an die rechtskräftige Grundstrafe von 8 Jahren gebunden und darf diese im Rahmen der Zusatzstrafenbildung nicht erhöhen. Bei der Bestimmung der neuen Einzelstrafen hat die Vorinstanz das Verschulden innerhalb des ordentlichen Strafrahmens des jeweiligen Tatbestandes einzuordnen und zu beachten, dass Grund- und Zusatzstrafe selbstständige Strafen sind. Das Verbot der "reformatio in peius" gilt auch bei der Zusatzstrafenbildung. Die Vorinstanz kann demnach für die neu zu beurteilenden Taten nicht auf eine höhere Gesamtstrafe als 4 Jahre Freiheitsstrafe erkennen, auch wenn sich diese aufgrund des Unterschreitens der höchsten Einzelstrafe im angefochtenen Entscheid als bundesrechtswidrig erweist. (...)
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