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14. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A.X. und B.X. je gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern und C.X. (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_527/2016 / 6B_535/2016 vom 23. Dezember 2016 | |
Regeste |
Art. 32, 33 Abs. 3 und Art. 55a StGB, Art. 11 Abs. 1 und Art. 320 Abs. 4 StPO; Verfahrenseinstellung gestützt auf Art. 55a StGB; Grundsatz "ne bis in idem"; Unteilbarkeit des Strafantrags und des Rückzugs desselben. |
Das Ersuchen um Verfahrenssistierung bzw. die Zustimmung zum Antrag der zuständigen Behörde auf Verfahrenssistierung (Art. 55a Abs. 1 lit. b StGB) und das unbenutzte Verstreichenlassen der Frist für den Widerruf der Zustimmung zur Verfahrenssistierung (Art. 55a Abs. 2 StGB) kommen dem Rückzug eines Strafantrags gleich. Sind Tätlichkeiten des Ehegatten zu beurteilen, an welchen sich Dritte beteiligt haben sollen, ist angesichts des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Strafverfolgung bei Antragsdelikten auch das Strafverfahren gegen die Beteiligten einzustellen (E. 5.1-5.3). Aufklärungspflicht der Behörden über die Unteilbarkeit der Strafverfolgung verneint (E. 5.4). | |
Sachverhalt | |
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B. Das Obergericht des Kantons Bern wies die Anträge von A.X., B.X. und D. auf Einstellung des Strafverfahrens wegen Tätlichkeiten mit Beschluss vom 26. März 2015 ab und bestätigte mit Urteil ![]() | 2 |
Das Obergericht hält folgenden Sachverhalt für erwiesen:
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Die Ehegatten A.X. und C.X. schafften sich während der Ehe den Hund "E." an. Als der eheliche Haushalt Ende April 2012 aufgehoben wurde, war der Hund im Einverständnis beider Ehegatten zunächst bei A.X. untergebracht. Am 17. Juni 2012 holte C.X. den Hund bei dessen Mutter zu einem Spaziergang/einer Wanderung ab und brachte ihn nicht mehr zurück. Zwei Tage später liess sie A.X. über seinen Vater ausrichten, dass eine Begegnung mit dem Hund nur unter Beisein einer Drittperson stattfinden könne. Am 22. Juni 2012 um ca. 6.30 Uhr begab sich A.X. gemeinsam mit seiner Schwester B.X. und deren Kollegin D. zur Liegenschaft, in der C.X. mit dem Hund lebte. Sie beabsichtigten, C.X. beim Verlassen des Hauses abzufangen und ihr den Hund gegen ihren Willen wegzunehmen, damit ihn die Familie X. dauerhaft behalten konnte. Als C.X. um ca. 7.40 Uhr mit dem Hund das Haus verliess und um die Hausecke bog, traf sie auf die dort wartenden B.X. und D. B.X. löste die Leine von der Halskette des Hundes, wobei die Halskette zu Boden fiel. Als C.X. realisierte, dass man ihr den Hund wegnehmen wollte, riss sie diesen an sich, umklammerte ihn und legte sich zumindest teilweise auch richtiggehend auf ihn. B.X. ergriff C.X. an den Fussgelenken und versuchte zusammen mit D., sie vom Hund wegzuziehen. A.X., der sich umgehend an den Ort des Geschehens begeben hatte, als er seine Schwester schreien hörte, versuchte C.X.s Arme vom Hund zu lösen. D. drückte ihr die Hand auf den Mund, um sie am Schreien zu hindern, und versuchte, sie unter den Armen zu kitzeln, damit sie den Hund loslässt. Da es nicht gelang, den Hund aus der Umklammerung von C.X. zu lösen, entfernte sich B.X. in der Absicht, ihren eigenen Hund aus dem Auto zu holen, der "E." zu sich locken sollte. A.X. versuchte, dem Hund die am Boden liegende Halskette wieder anzulegen. Dabei kam es zu einem Handgemenge zwischen den Ehegatten. C.X. setzte daraufhin einen Pfefferspray, den sie auf sich trug, gegen das Gesicht von A.X. ein. Dieser konnte den Hund schliesslich durch Zurufen an sich locken und mitnehmen.
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C. A.X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern vom 26. März 2015 und das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 7. April 2016 ![]() | 5 |
D. B.X. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, sie sei vom Vorwurf der Tätlichkeiten freizusprechen und die Zivilklage von C.X. sei zurückzuweisen, eventualiter abzuweisen.
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E. Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft verzichteten auf Stellungnahmen. C.X. beantragt die Abweisung der Beschwerden, soweit darauf einzutreten sei.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerden gut, soweit darauf einzutreten ist.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Das Regionalgericht erwog an der von der Vorinstanz zitierten Stelle des erstinstanzlichen Urteils, der Tatbestand der häuslichen Gewalt sei bloss ein relatives Antragsdelikt. In Bezug auf den Beschwerdeführer 1 sei ursprünglich kein Strafantrag erforderlich gewesen (Art. 126 Abs. 2 lit. b StGB). Somit habe die Beschwerdegegnerin 2 keinen Strafantrag zurückziehen, sondern lediglich die Zeitspanne verstreichen lassen können, während welcher sie gemäss Art. 55a Abs. 2 StGB die Wiederaufnahme des Verfahrens hätte verlangen können. Sie habe keine Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt. Ob dies einem Rückzug des Strafantrags für weitere Beteiligte gemäss Art. 33 Abs. 3 StGB gleichzusetzen sei, könne offengelassen werden. Für die Auslegung der Einstellungsverfügung betreffend häusliche Gewalt sei nicht allein der Wortlaut, sondern auch der Gesamtkontext ausschlaggebend. Der Staatsanwalt habe die beiden Verfahren (Raub einerseits, häusliche Gewalt andererseits) u.a. mit der Begründung abgetrennt, weil die Untersuchung zum Raub, mithin zum Vorfall vom 22. Juni 2012, weitgehend abgeschlossen gewesen sei, während sich das Verfahren wegen angeblicher gegenseitiger häuslicher Gewalt noch im Anfangsstadium befunden habe. Beim abgetrennten Verfahren wegen häuslicher Gewalt habe es sich somit offensichtlich um andere Vorfälle (nur) unter den Ehegatten gehandelt. Damit sei der Vorfall vom 22. Juni 2012 nicht mitgemeint. Es liege somit ein gültiger Strafantrag vor.
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Die Beschwerdegegnerin 2 machte im vorinstanzlichen Verfahren geltend, sie habe einer Einstellung des Verfahrens wegen der früher erlittenen häuslichen Gewalt zugestimmt, weil sie vom Vorfall vom 22. Juni 2012 psychisch immer noch erheblich angeschlagen gewesen sei und schlicht keine Kraft mehr gehabt habe, nebst dem Strafverfahren betreffend den Vorfall vom 22. Juni 2012 noch ein ![]() | 13 |
Mit Beschluss vom 26. März 2015 wies die Vorinstanz den Antrag auf Einstellung des Strafverfahrens wegen Tätlichkeiten vorfrageweise ab. Zur Begründung verwies sie auf die zuvor erwähnten Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil und in der Stellungnahme der Beschwerdegegnerin 2 im vorinstanzlichen Verfahren.
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Erwägung 4 | |
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Nachdem der Beschwerdeführer 1 und die Beschwerdegegnerin 2 die Zustimmung zur Sistierung innerhalb von sechs Monaten nicht widerrufen hatten, stellte die Staatsanwaltschaft die Strafverfahren gegen diese wegen häuslicher Gewalt am 24. Oktober 2013 in ![]() | 19 |
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Wohl war das abgetrennte Verfahren gegen den Beschwerdeführer 1 wegen Raubes von der Einstellungsverfügung nicht betroffen. Dem abgetrennten Verfahren lag jedoch ein Aneignungsdelikt zugrunde, d.h. der Vorwurf, der Beschwerdeführer 1 habe sich des Hundes unrechtmässig behändigt (vgl. Art. 140 Ziff. 1 und Art. 139 Ziff. 1 StGB). Die Staatsanwaltschaft erhob gegen die Beschuldigten am 29. August 2013 einzig Anklage wegen Raubes, evtl. Diebstahls. Auch die Beschwerdegegnerin 2 beantragte im erstinstanzlichen Verfahren ausschliesslich einen Schuldspruch wegen Raubes. Der Tatbestand des Raubes im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 StGB ist ein Offizialdelikt, das vom Anwendungsbereich von Art. 55a StGB nicht miterfasst wird. Eine Einstellung des Strafverfahrens wegen Raubes gestützt auf Art. 55a StGB war daher nicht möglich. Ein solches Aneignungsdelikt liess sich schlussendlich nicht nachweisen. Dies lässt entgegen der Auffassung der Vorinstanz jedoch keinen Raum für einen Schuldspruch wegen Tätlichkeiten, begangen im Zusammenhang mit der nicht strafbaren Wegnahme des Hundes, da die Strafverfahren gegen die Ehegatten wegen gegenseitiger Tätlichkeiten, begangen u.a. im Jahre 2012, rechtskräftig eingestellt wurden. Der Schuldspruch des Beschwerdeführers 1 wegen Tätlichkeiten, begangen am 22. Juni 2012 zum Nachteil der Beschwerdegegnerin 2, verstösst daher gegen Art. 55a StGB sowie den Grundsatz "ne bis in idem".
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Erwägung 5 | |
5.1 Stellt eine antragsberechtigte Person gegen einen an der Tat Beteiligten Strafantrag, so sind alle Beteiligten zu verfolgen (Art. 32 StGB). Zieht die antragsberechtigte Person ihren Strafantrag gegenüber einem Beschuldigten zurück, so gilt der Rückzug gemäss ![]() | 22 |
Beteiligte im Sinne von Art. 32 und Art. 33 Abs. 3 StGB sind Mittäter, Anstifter und Gehilfen (BGE 86 IV 145 E. 1 S. 147; BGE 81 IV 90 E. 1 S. 91; Urteile 6B_510/2011 vom 17. Oktober 2011 E. 2.3; 6S.490/2002 vom 9. Januar 2004 E. 7.2). Art. 33 Abs. 3 StGB ist auch anwendbar, wenn gegen die Beteiligten getrennte Verfahren geführt werden (BGE 80 IV 209 E. 1 S. 211; CHRISTOF RIEDO, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, N. 40 zu Art. 33 StGB; AUDE BICHOVSKY, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. I, 2009, N. 4 zu Art. 32 StGB). Art. 32 und Art. 33 Abs. 3 StGB verankern den Grundsatz der Unteilbarkeit des Strafantrags und des Rückzugs desselben (vgl. BGE 132 IV 97 E. 3.3.1 S. 99). Der Grundsatz der Unteilbarkeit des Strafantrags soll verhindern, dass der Verletzte nach seinem Belieben nur einen einzelnen am Antragsdelikt Beteiligten herausgreift und unter Ausschluss der anderen bestrafen lässt (BGE 132 IV 97 E. 3.3.1 S. 99; BGE 121 IV 150 E. 3a/aa S. 152). Art. 33 Abs. 3 StGB bewirkt, dass Art. 32 StGB nicht dadurch umgangen werden kann, dass zwar Antrag gegen alle Beteiligten gestellt, dieser aber in Bezug auf einzelne wieder zurückgezogen wird. Es gilt ausnahmslos die Unteilbarkeit des Rückzugs (vgl. BGE 132 IV 97 E. 3.3.1 und 3.3.3; Urteil 6B_510/2011 vom 17. Oktober 2011 E. 2.3).
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Der Wille, einen Strafantrag zurückzuziehen, muss unmissverständlich zum Ausdruck kommen (BGE 89 IV 57 E. 3a S. 58; Urteile 6B_978/2013 vom 19. Mai 2014 E. 2.4; 6B_234/2012 vom 15. September 2012 E. 2.1; 6B_510/2011 vom 17. Oktober 2011 E. 2.3). Eine Desinteresseerklärung an der Strafverfolgung von Antragsdelikten gilt als Rückzug des Strafantrags (vgl. NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 5 zu Art. 304 StPO; DONATSCH/SCHWARZENEGGER/WOHLERS, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2014, S. 19). Dies hat gemäss Art. 33 Abs. 3 StGB zur Folge, dass auch das Strafverfahren gegen die Beteiligten einzustellen ist. Anders verhält es sich, wenn der Strafantragsteller im Laufe des Strafverfahrens zum Schluss kommt, die ![]() | 24 |
Erwägung 5.2 | |
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Begründet wird dies damit, dass vor der Einführung von Art. 55a StGB ein Rückzug des Strafantrags gegen den Ehegatten bzw. Partner von Gesetzes wegen auch den Rückzug des Strafantrags gegen allfällige andere Tatbeteiligte bewirkte. Nicht einzusehen sei, weshalb es anders sein solle, wenn dieser "Rückzug" nunmehr auf dem Umweg über Art. 55a StGB erfolge. Dies umso weniger, weil hinter der Erklärung des Desinteresses an der Strafverfolgung des eigenen Lebensgefährten zumeist die gleichen Motivationen stehen dürften, die früher zum Rückzug des Strafantrags geführt hätten ![]() | 27 |
5.2.3 Der zitierten Lehre ist beizupflichten. Mit der Offizialisierung von Gewalthandlungen im sozialen Nahbereich (vgl. Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3-5, Art. 126 Abs. 2 lit. b, bbis und c und Art. 180 Abs. 2 StGB) setzte der Gesetzgeber ein Signal, dass er "häusliche Gewalt" nicht mehr länger als reine Privatsache betrachten will (BBl 2003 1920; siehe auch Urteil 2C_1039/2012 vom 16. Februar 2013 E. 3.3). Zugleich wollte er die Opfer von der moralischen Last befreien, für die Eröffnung des Strafverfahrens verantwortlich zu sein, und den Schutz für diejenigen Opfer verbessern, welche den Druckversuchen des Täters wehrlos ausgesetzt sind (vgl. BBl 2003 1920 Ziff. 3.2.1.1). Als Ausgleich zur erwähnten Offizialisierung von Gewalthandlungen im sozialen Nahbereich sieht Art. 55a StGB jedoch vor, dass das Strafverfahren in weniger schwerwiegenden Fällen häuslicher ![]() | 28 |
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Vorliegend erfolgte der Verzicht auf die Strafverfolgung im Rahmen von Art. 55a StGB. Insoweit liegen besondere Gegebenheiten vor. Eine Aufklärungspflicht über die Unteilbarkeit der Strafverfolgung muss jedoch auch unter den konkreten Umständen verneint werden, zumal nicht ernsthaft davon ausgegangen werden konnte, die Einwilligung der Beschwerdegegnerin 2 in die Einstellung des Strafverfahrens wegen Tätlichkeiten gegen ihren Ehemann hänge davon ab, ob dessen Schwester und deren Freundin wegen allfälliger Tätlichkeiten im Zusammenhang mit dem Ereignis vom 22. Juni 2012 verfolgt werden können. Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich die Ehegatten gegenseitig der Tätlichkeiten beschuldigten. Mit dem Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer 1 wurde gleichzeitig auch das Strafverfahren wegen Tätlichkeiten gegen die Beschwerdegegnerin 2 eingestellt, was offensichtlich in deren Interesse war. Hinzu kommt, dass sich diese aufgrund des noch hängigen Verfahrens gegen ihren Ehegatten und dessen Schwester eine Bestrafung wegen ![]() | 32 |
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