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50. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Strafsachen) |
6B_800/2016 vom 25. Oktober 2017 |
Art. 147 Abs. 1 StPO; Verzicht auf das Teilnahmerecht. |
Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, Art. 152 Abs. 3 i.V.m. Art. 149 Abs. 2 lit. b StPO; indirekte Konfrontation. | |
Sachverhalt | |
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X. werden aufgrund dieses Sachverhalts Mord und mehrfacher versuchter Mord vorgeworfen. Darüber hinaus werden ihm verschiedene Drohungen und tätliche Übergriffe zum Nachteil seiner Ehefrau im Rahmen häuslicher Gewalt zur Last gelegt.
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B. Das Strafgericht Basel-Stadt erklärte X. mit Urteil vom 26. September 2014 des Mordes, des mehrfachen versuchten Mordes, der mehrfachen versuchten einfachen Körperverletzung, der Sachbeschädigung, der mehrfachen Drohung, der Nötigung, der versuchten Nötigung, des Vergehens gegen das Waffengesetz sowie der Übertretung des Waffengesetzes schuldig und verurteilte ihn zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe sowie einer Busse von CHF 500.-. Von der Anklage der wiederholten Tätlichkeiten zum Nachteil eines Ehegatten sprach es ihn frei. Ferner erklärte es eine am 20. Juni 2012 mit einer Probezeit von 2 Jahren bedingt ausgesprochene Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu CHF 30.- als vollziehbar. Schliesslich entschied es über die geltend gemachten Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen und die Einziehung bzw. Herausgabe der beschlagnahmten Gegenstände.
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Gegen dieses Urteil erhoben der Beurteilte Berufung und dessen Ehefrau A., deren Bruder und Tochter sowie die Schwiegermutter C. Anschlussberufung. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte am 27. April 2016 das erstinstanzliche Urteil im Schuldpunkt und verurteilte X. zu 20 Jahren Freiheitsstrafe, unter Einrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft seit dem 9. Dezember 2012 und des vorzeitigen Strafvollzugs seit dem 3. Dezember 2014, sowie zu einer Busse von CHF 500.-, bei schuldhafter Nichtbezahlung umwandelbar in 5 Tage Ersatzfreiheitsstrafe. Den ![]() | 4 |
C. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur erneuten Beurteilung und zur Durchführung eines bundesrechts- und EMRK-konformen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei er von der Anklage der mehrfachen Drohung zum Nachteil eines Ehegatten, der versuchten einfachen Körperverletzung, der Nötigung, der versuchten Nötigung, der Sachbeschädigung sowie von der Anklage des Mordes und des mehrfachen versuchten Mordes freizusprechen und demgegenüber des Vergehens und der Übertretung gegen das Waffengesetz sowie der fahrlässigen Tötung, eventualiter der eventualvorsätzlichen Tötung sowie der mehrfachen Gefährdung des Lebens, eventualiter der mehrfachen versuchten eventualvorsätzlichen Tötung schuldig zu sprechen und zu einer angemessenen Strafe zu verurteilen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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D. Mit Urteil vom 14. Dezember 2016 wies das Bundesgericht eine von X. gegen die Abweisung eines Ausstandsbegehrens gegen den Appellationsrichter Jeremy Stephenson geführte Beschwerde ab (Verfahren 1B_252/2016).
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
3.1 Der Beschwerdeführer rügt weiter eine Verletzung seiner Teilnahmerechte als beschuldigte Person. Im Vorverfahren sei ihm an keiner einzigen Einvernahme oder Beweiserhebung sein Teilnahmerecht eingeräumt worden. Das Recht, an Einvernahmen von Mitbeschuldigten, Zeugen und Auskunftspersonen anwesend zu sein und Fragen zu stellen, stehe nicht nur der Verteidigung einer beschuldigten Person, sondern auch dieser selbst zu. Das Teilnahmerecht umfasse auch den Anspruch auf rechtzeitige Benachrichtigung, wobei der Termin der Beweiserhebung den Anwesenheitsberechtigten so früh wie möglich mitgeteilt werden müsse. Der Beschwerdeführer bringt vor, er sei nie direkt über die Einvernahmen Dritter im Vorverfahren orientiert worden. Es könne daher auch nicht angenommen werden, dass er auf das Teilnahmerecht verzichtet habe. Zudem sei ![]() | 7 |
Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, es seien auch die Teilnahmerechte der Verteidigung verletzt worden. Wenngleich dem früheren Verteidiger zumindest ab einem späteren Verfahrensstadium die Möglichkeit eingeräumt worden sei, bei gewissen Einvernahmen anwesend zu sein und Fragen zu stellen, sei ihm dieses Recht bei einer Vielzahl von Einvernahmen im Vorverfahren vorenthalten worden. Für die Gewährung der Teilnahmerechte sei von einem materiellen Begriff der Verfahrenseröffnung auszugehen. Aus dem Umstand, dass ein Tötungsdelikt in Frage gestanden habe und gegen ihn Zwangsmassnahmen ergriffen worden seien, ergebe sich, dass die staatsanwaltschaftliche Untersuchung bereits vor der ersten Befragung eröffnet worden sei. Die Staatsanwaltschaft wäre mit Blick auf die Schwere des Delikts gehalten gewesen, noch vor der ersten Befragung eine Pikettverteidigung zu organisieren. Die zahlreichen Einvernahmen ohne Anwesenheit eines Verteidigers dürften daher ebenfalls nicht zu seinen Lasten verwertet werden.
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3.2 Die Vorinstanz nimmt an, der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers, welcher bereits an dessen erster Einvernahme anwesend gewesen sei, habe von Anfang an erklärt, er werde selber an den Befragungen teilnehmen. Darüber hinaus habe er klargemacht, dass der Beschwerdeführer nicht persönlich an Einvernahmen teilnehmen werde. Dies stelle einen vom Verteidiger erklärten Verzicht auf die persönliche Teilnahme des Beschwerdeführers an den Einvernahmen dar. In Bezug auf die Verwertbarkeit der Ersteinvernahmen der Opferzeugen führt die Vorinstanz aus, es treffe zwar zu, dass angesichts der Schwere des in Frage stehenden Delikts sowie der Festnahme des Beschwerdeführers und der Anordnung von Untersuchungshaft die Voruntersuchung materiell eröffnet worden sei. Dies ändere jedoch nichts daran, dass zahlreiche Untersuchungshandlungen der Polizei durchzuführen gewesen seien. So habe der Tatort besichtigt und hätten die Anwesenden unverzüglich befragt werden ![]() | 9 |
Erwägung 3.3 | |
3.3.1 Gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO haben die Parteien das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Bei polizeilichen Einvernahmen richtet sich die Anwesenheit der Verteidigung nach Art. 159 StPO. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung hat die beschuldigte Person das Recht, dass ihre Verteidigung, nicht aber sie selbst, bei Beweiserhebungen durch die Polizei, etwa bei polizeilichen Einvernahmen von Auskunftspersonen, anwesend sein und Fragen stellen kann (Urteile 6B_760/2016 vom 29. Juni 2017 E. 3.2.2; 6B_217/2015 vom 5. November 2015 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 141 IV 423). Auf die Teilnahme kann vorgängig oder auch im Nachhinein ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden, wobei der Verzicht des Beschuldigten auch von seinem Verteidiger ausgehen kann (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen ![]() | 10 |
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Die von der Verteidigung zitierten Befragungen stammen aus dem Zeitraum zwischen dem Tattag, dem 9. Dezember 2012, und dem 13. Dezember 2012. Die Erstbefragung des Beschwerdeführers fand in Anwesenheit des aufgebotenen Verteidigers am 10. Dezember 2012 statt. Die von der Vorinstanz genannten Ermittlungshandlungen am Tatort, d.h. dessen Besichtigung und die Befragung der anwesenden Personen, namentlich der Opferzeuginnen, wertet die Vorinstanz zu Recht als derartige polizeiliche Erhebungen, für welche kein gesetzliches Teilnahmerecht gilt. In Bezug auf die Einvernahme weiterer Personen, im Wesentlichen von Personen aus dem Umfeld des Beschwerdeführers, von Nachbarn seiner Ehefrau sowie deren Grossmutter, legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern die betreffenden Aussagen der befragten Personen zu seinen Lasten verwertet ![]() | 14 |
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz von Treu und Glauben, aus welchem sich das Verbot widersprüchlichen Verhaltens ergibt, es verbietet, der Vorinstanz bekannte rechtserhebliche Einwände vorzuenthalten und diese erst nach einem ungünstigen Entscheid im anschliessenden Rechtsmittelverfahren zu erheben (BGE 143 V 66 E. 4.3; BGE 133 III 638 E. 2 S. 640; BGE 117 Ia 491 E. 2a S. 495; Urteil 6B_100/2017 vom 9. März 2017 E. 3.4; je mit Hinweisen). Soweit sich der Beschwerdeführer im zu beurteilenden Fall gegen Verfahrenshandlungen der Behörden wendet, gegen welche er weder im Untersuchungs- noch im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren opponiert bzw. auf welche er verzichtet hat, setzt er sich in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten. Dabei muss er sich das Verhalten seines früheren Verteidigers anrechnen lassen. Der blosse Umstand, dass nach Eröffnung des erstinstanzlichen Urteils mit Wirkung per 17. November 2014 ein neuer amtlicher Verteidiger eingesetzt worden ist, ändert hieran nichts. Soweit der frühere Verteidiger auf die Teilnahmerechte gültig verzichtet hat, widerspricht es mithin dem Gebot von Treu und Glauben, durch den neuen Verteidiger die Verletzung eben dieser formellen Rechte zu rügen (vgl. BGE 138 I 97 E. 4.1.5; Urteil 6B_214/2011 vom 13. September 2011 E. 4.1.3). Dies gilt jedenfalls insoweit, als nicht ein eklatanter Verstoss gegen allgemein anerkannte Verteidigerpflichten vorliegt (vgl. BGE 138 IV 161 E. 2.4; Urteil 6B_307/2016 vom 17. Juni 2016 E. 2.2), welche den Richter aufgrund seiner Fürsorgepflicht verpflichtet, das zur Gewährleistung einer genügenden Verteidigung Erforderliche vorzukehren (Urteil 6B_89/2014 vom 1. Mai 2014 E. 1.5.1). Dass dem so wäre, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist auch nicht ersichtlich.
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(...)
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Erwägung 5 | |
5.1 Der Beschwerdeführer rügt sodann, die verschiedenen krassen Verletzungen des Teilnahmerechts hätten zur Konsequenz gehabt, dass keine rechtsgenügliche Konfrontation mit den befragten Personen im Sinne von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK stattgefunden habe. Eine EMRK-konforme Konfrontation habe auch an der erstinstanzlichen Verhandlung nicht stattgefunden, da die Verfahrensleitung ![]() | 17 |
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Im Übrigen ist die indirekte Konfrontation auch in der Sache nicht zu beanstanden. Dies gilt nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz uneingeschränkt zunächst für die Opferzeuginnen, welche gemäss Art. 152 Abs. 3 i.V.m. Art. 149 Abs. 2 lit. b StPO Anspruch auf indirekte Konfrontation haben (vgl. auch Art. 153 Abs. 2 StPO). Bei der Handhabung des Konfrontationsrechts sind die Interessen der Verteidigung und diejenigen des Opfers gegeneinander abzuwägen und ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Vorgehensweisen und Ersatzmassnahmen infrage kommen, um die Verteidigungsrechte des Angeschuldigten so weit als möglich zu gewährleisten und gleichzeitig den Interessen des Opfers gerecht zu werden. Dabei steht dem Gericht bei der Wahl der Vorkehren zum Schutz der Opfer ein gewisser Ermessensspielraum zur Verfügung. Soweit dem Opfer eine
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