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20. Urteil vom 4. Juli 1974 i.S. L. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Aargau | |
Regeste |
Art. 98 Abs. 1 und 3 KUVG, Art. 7 Abs. 1 IVG. |
- Kriterien zur Qualifizierung der Selbsttötung oder des Selbsttötungsversuchs als Unfall. |
- Grundsätzliche Unterschiede in den Kriterien zur Verweigerung oder Kürzung der Leistungen gemäss KUVG und IVG. | |
Sachverhalt | |
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Gegenüber dem SUVA-Aussendienst erklärte L. am 22. März 1972, er könne sich an Karabiner, Munition und Selbsttötungsversuch nicht erinnern; er habe aber Angst vor einer neuerlichen Hospitalisierung gehabt; er wisse nicht, wie alles passiert sei. Dem Arztbericht der Psychiatrischen Klinik X. vom April 1972 ist zu entnehmen, dass der Versicherte wegen seiner Tat, die er nicht begreifen könne, von schweren Schuldgefühlen verfolgt werde; seine gegenwärtige Situation beurteile er als völlig hoffnungslos; er sei weiterhin als suicidal zu betrachten.
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Der ärztliche Dienst der SUVA erachtete es nicht als ausgeschlossen, dass "die Kombination Schlaflosigkeit, Einnahme von Treupel und Einnahme von Librax eine gewisse Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit zur Folge gehabt hat"; von völliger Unzurechnungsfähigkeit könne aber nicht gesprochen werden. Darauf verfügte die SUVA am 20. Juli 1972, sie werde für die Folgen der Kopfverletzung keine Versicherungsleistungen ![]() | 3 |
B.- Gegen diese Verfügung liess L. beim Obergericht des Kantons Aargau Beschwerde erheben mit dem Antrag, die SUVA sei zu verpflichten, "für das Unfallereignis vom 30.12.1971 die gesetzlichen Versicherungsleistungen auszurichten".
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Die Vorinstanz vermochte den Selbsttötungsversuch nicht als Unfallereignis im Sinn des KUVG zu qualifizieren, verneinte daher den Anspruch auf Versicherungsleistungen und wies die Beschwerde mit Entscheid vom 20. August 1973 ab.
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C.- Der Rechtsdienst für Behinderte erhebt für L. Verwaltungsgerichtsbeschwerde, indem er das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuert. Zur Begründung wird im wesentlichen vorgebracht: Der Beschwerdeführer sei im Zeitpunkt der Tat vermindert zurechnungsfähig gewesen. Seit dem im Jahre 1968 erlittenen Unfall sei er wegen der schmerzbedingten ständigen Einnahme von Medikamenten ein völlig veränderter Mensch geworden. Die Schmerzen hätten zur depressiven Stimmung und schliesslich zum Suicidversuch geführt. Zwischen diesem und dem Unfall von 1968 bestehe eindeutig ein Kausalzusammenhang. Dieser sei nicht etwa durch Faktoren unterbrochen worden, die in der Persönlichkeit des Versicherten selbst gelegen hätten. Der Rechtsdienst ersucht sodann "um eine generelle Überprüfung der bisherigen Rechtspraxis betreffend Selbstmordversuch". Insbesondere sei die Praxis, wonach Selbsttötung nur dann als Unfall qualifiziert werde, wenn der Versicherte im Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit gehandelt habe, zu überprüfen. Die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zu Art. 7 IVG, wonach die in Suicidabsicht erlittene Selbstverstümmelung weder als vorsätzlich noch als fahrlässig verursacht zu gelten habe, müsse auch bei der Auslegung des Art. 98 Abs. 1 KUVG angewandt werden.
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Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: | |
1. a) In ständiger, von der Lehre anerkannter Rechtsprechung qualifiziert das Eidg. Versicherungsgericht als Unfall ![]() | 8 |
b) Ob Selbsttötung als Unfall im Sinn des Art. 67 Abs. 1 KUVG gelten kann, beurteilt sich somit danach, ob die zum Tode führende Handlung absichtlich, d.h. mit Wissen und Willen der betroffenen Person, ausgeführt wurde. Ist dies der Fall, so ist der Suicid nicht als Unfall zu werten, was zum vornherein die Haftung der SUVA ausschliesst. Fehlt es aber im konkreten Fall an diesem Wissen und Willen, so ist der Suicid als Unfall zu qualifizieren. Dies trifft zu, wenn die zum Tode führende Handlung in einem von der betreffenden Person nicht verschuldeten Zustand völliger Unzurechnungsfähigkeit begangen worden ist. War die Zurechnungsfähigkeit im Zeitpunkt der Tat lediglich mehr oder weniger vermindert, so war die freie Willensentscheidung nicht völlig ausgeschlossen. Eine in diesem Zustand begangene Selbsttötung erfüllt daher die Voraussetzung der Unfreiwilligkeit und damit den Unfallbegriff ebenfalls nicht (EVGE 1963 S. 18; unveröffentlichte Urteile vom 8. Juli 1968 i.S. Volz und vom 29. Dezember 1967 i.S. Santangelo; MAURER S. 122), was zum Ausschluss der SUVA-Haftung führt.
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c) Hingegen haftet die SUVA für die Folgen einer in bloss verminderter Zurechnungsfähigkeit begangenen Selbsttötung dann, wenn sie mit einem versicherten Ereignis in adäquatem Kausalzusammenhang steht. Ein solcher ursächlicher Zusammenhang ist gegeben, sofern das vorausgegangene versicherte Ereignis - eine Berufskrankheit oder ein Unfall - seelisch und körperlich auf die Willensbildung und Willensbetätigung der betreffenden Person derart einwirkt, dass sie unter diesem Einfluss dem eigenen Leben ein Ende setzt. Demnach ist die Selbsttötung leistungsbegründend, wenn das versicherte Ereignis ![]() | 10 |
d) Vollendete Selbsttötung und Selbsttötungsversuch werden nach ständiger Praxis rechtlich gleich behandelt (EVGE 1963 S. 18).
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Wie in Erwägung 1 dargelegt, könnte bei verminderter Zurechnungsfähigkeit der Suicidversuch nur dann als Unfall im Sinn des KUVG gewertet werden, wenn er mit dem versicherten Ereignis von 1968 ursächlich in adäquater Weise zusammenhinge. Zwar klagte der Beschwerdeführer vor jenem Versuch öfters über Bauchschmerzen. Diese liessen sich aber offenbar praktisch beheben, wenn er Librax einnahm und keine grossen Speisemengen, vor allem keine blähenden Speisen konsumierte, wie der Arzt der SUVA meldete. Dass die Häufigkeit und Intensität dieser Schmerzen im Lauf des Jahres 1971 wesentlich zugenommen hätten und für den Beschwerdeführer unerträglich geworden wären, ist unwahrscheinlich. Andernfalls hätte er - wie in den vorangegangenen Jahren - wiederholt seinen Hausarzt aufgesucht oder sogar der SUVA eine Rückfallmeldung erstatten lassen. Es ist ![]() | 13 |
Zusammenfassend ergibt sich, dass die 1966 und 1968 erlittenen Unfälle mit ihren Restfolgen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht geeignet waren, zwangsläufig zum Selbstmordversuch zu führen. Fehlt es somit am adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem versicherten Ereignis und dem Versuch, sich das Leben zu nehmen, so haftet die SUVA nach geltender Rechtsprechung nicht für die Folgen des Suicidversuchs.
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Nach Art. 7 Abs. 1 IVG können die Geldleistungen der Invalidenversicherung verweigert, gekürzt oder entzogen werden, wenn der Versicherte seine Invalidität vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt oder verschlimmert hat. Diese ![]() | 16 |
Anders verhält es sich in der obligatorischen Unfallversicherung. Art. 67 Abs. 1 KUVG sagt ausdrücklich: "Die Anstalt versichert gegen die Betriebsunfälle und Nichtbetriebsunfälle..." (eingeschlossen die Berufskrankheien). Damit die SUVA Leistungen gewähren kann, muss die Gesundheitsschädigung oder der Tod auf einen Unfall, d.h. auf ein unfreiwilliges körperschädigendes Ereignis zurückgehen. Erst wenn der Unfalltatbestand erfüllt ist, kann sich allenfalls die Frage stellen, ob das unfreiwillige schädigende Ereignis grobfahrlässig verursacht wurde und die Leistungen somit dem Verschulden entsprechend zu kürzen sind (vgl. Art. 98 Abs. 3 KUVG). Aus dem KUVG ergibt sich klar, dass in der obligatorischen Unfallversicherung - im Gegensatz zur Invalidenversicherung - im Hinblick auf die Leistungskürzung bzw. -verweigerung nicht danach zu fragen ist, ob der Versicherte die Erwerbsunfähigkeit beabsichtigt oder mindestens grobfahrlässig verursacht hat. Entscheidend ist hier vielmehr, ob er das Ereignis, das die Körperschädigung verursacht, vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat. Während die grobe Fahrlässigkeit mit dem Unfallbegriff vereinbar ist, schliesst der Vorsatz, weil an sich dem Unfallbegriff widersprechend, die Annahme eines Unfalles und damit Versicherungsleistungen zum vornherein grundsätzlich aus.
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Aus diesen Darlegungen erhellt, dass die vom Rechtsdienst postulierte Angleichung der Kürzungspraxis der obligatorischen Unfallversicherung an die Vorschrift des Art. 7 Abs. 1 IVG im Grunde genommen auf eine Änderung des Unfallbegriffs hinausläuft, indem auch die vorsätzliche Herbeiführung des körperschädigenden Ereignisses den Anspruch auf Versicherungsleistungen, wenn auch nur auf gekürzte, auszulösen vermöchte. Zu einer derart grundlegenden Neuumschreibung des Unfallbegriffs für den alleinigen Zweck, dass auch in der ![]() | 18 |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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