BGE 136 V 351 | |||
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41. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Kanton Zürich gegen Kanton Schaffhausen, betreffend M. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_521/2010 vom 27. September 2010 | |
Regeste |
Art. 89 Abs. 1 BGG; Art. 16 Abs. 1 und Art. 31 ZUG; Kostenersatzpflicht des Heimatkantons. |
Kostenersatzpflicht des Heimatkantons für vom Wohnsitzkanton nachträglich übernommene Schulden (E. 7). |
Bei der 60-tägigen Frist gemäss Art. 31 Abs. 1 ZUG handelt es sich um eine Ordnungsvorschrift (E. 8). | |
Sachverhalt | |
A. Die am 11. Dezember 2000 geborene M. verfügt über die Bürgerrechte der Kantone Zürich und Aargau. Sie lebte bis 31. August 2006 in A. (ZH). Am 1. September 2006 zog sie mit ihrer Mutter nach B. (SH). Aufgrund einer Gefährdungsmeldung vom 23. Februar 2007 wurde M. von der Vormundschaftsbehörde B. zunächst teilweise und ab 1. November 2007 dauerhaft in einer Pflegefamilie untergebracht. Am 26. November 2008 beschloss die Sozialhilfebehörde B. unter anderem, das seit 1. November 2007 geschuldete Pflegegeld zu übernehmen.
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Mit Unterstützungsanzeige vom 6. Februar 2009 (zugestellt am 30. März 2009) machte das Sozialamt des Kantons Schaffhausen beim Heimatkanton Zürich die Erstattung der bis 31. August 2008 geleisteten Unterstützung geltend. Am 9. November 2009 wies das Sozialamt des Kantons Schaffhausen eine dagegen erhobene Einsprache des Kantons Zürich ab.
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B. Mit Entscheid vom 21. Mai 2010 wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen die vom Kanton Zürich eingereichte Beschwerde ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt der Kanton Zürich, den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 21. Mai 2010 aufzuheben und zu erkennen, dass der Heimatkanton Zürich in der Unterstützungsangelegenheit von M. gegenüber dem Wohnkanton Schaffhausen nicht kostenersatzpflichtig sei.
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Der Kanton Schaffhausen schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Der Kanton Zürich liess sich dazu am 20. August 2010 vernehmen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Nach den bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Rechtspflegebestimmungen des ZUG konnten Beschlüsse, mit welchen der fordernde Kanton eine Einsprache des pflichtigen Kantons ablehnte, mittels Beschwerde beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) angefochten werden (aArt. 34 Abs. 2 ZUG); der Beschwerdeentscheid des Departements unterlag der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht (aArt. 34 Abs. 3 ZUG). Das seit dem 1. Januar 2007 geltende Recht sieht demgegenüber neu eine Beschwerdemöglichkeit an eine kantonale richterliche Behörde vor (Art. 34 Abs. 2 ZUG). Art. 34 Abs. 3 ZUG wurde durch Ziff. 119 Anhang Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG; SR 173.32) mit Wirkung seit 1. Januar 2007 aufgehoben (vgl. Urteil 8C_115/2007 vom 23. Januar 2008 E. 1).
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Seit dem 1. Januar 2007 richtet sich das Beschwerderecht ans Bundesgericht nach dem BGG. Danach sind Verwaltungsverbände (Bund, Kantone, Gemeinden, etc.) vorab dann zur Beschwerde an das Bundesgericht ermächtigt, wenn sie sich auf eine der in Art. 89 Abs. 2 lit. a-d BGG umschriebenen besonderen Legitimationsklauseln berufen können. Die Beschwerdebefugnis des Kantons Zürich lässt sich aufgrund der Aufhebung von Art. 34 Abs. 3 ZUG auf keine besondere Ermächtigungsnorm mehr stützen. Dieser leitet seine Legitimation aus dem allgemeinen Beschwerderecht gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG ab. Danach ist zur Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten befugt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a), durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist (lit. b) und ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung besitzt (lit. c).
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Der Kanton kann gegenüber dem andern Kanton nicht hoheitlich handeln. Die Anzeige im Sinne von Art. 31 Abs. 1 ZUG stellt denn auch keine hoheitliche Verfügung dar; gleichwohl kommt ihr rechtsgestaltende Wirkung zu, indem sie den Kanton, an den sie gerichtet ist, rechtskräftig zum Kostenersatz verpflichtet, wenn dieser nicht mit einer Einsprache nach Art. 33 ZUG form- und fristgerecht dagegen reagiert (WERNER THOMET, Kommentar zum Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], 2. Aufl. 1994, N. 304 zu Art. 33 ZUG). Der Kanton Zürich hat am vorinstanzlichen Verfahren als Partei teilgenommen und wurde als Adressat des angefochtenen Entscheids verpflichtet, finanzielle Leistungen zu erbringen. Er ist daher auch unter der Herrschaft des BGG zur Beschwerde ans Bundesgericht legitimiert (vgl. auch die Urteile 8C_223/2010 vom 5. Juli 2010 und 8C_829/2007 vom 5. August 2008, zusammengefasst in: FamPra.ch 2010 S. 143, wo das Bundesgericht ohne weiteres auf die Beschwerde des betroffenen Kantons eingetreten ist).
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Erwägung 4 | |
4.1 Vorweg ist die gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) zu prüfen. Der Kanton Zürich macht geltend, das kantonale Gericht habe sich nicht mit seinen Ausführungen auseinandergesetzt, wonach in der Literatur und von der Kommission ZUG/Rechtsfragen die Auffassung vertreten werde, bei einer nachträglichen Schuldübernahme, über welche die Sozialhilfebehörde nach Ablauf der in Art. 16 ZUG statuierten zweijährigen Weiterverrechnungsperiode entscheide und für welche sie vorgängig keine Kostengutsprache geleistet habe, sei die Wohnsitzdauer im Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Unterstützung massgebend.
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Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung einer Person eingreift. Dazu gehört insbesondere deren Recht, sich vor Erlass des Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 132 V 368 E. 3.1 S. 370 mit Hinweisen).
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Dem Beschwerdeführer wurde die von der Sozialhilfebehörde an der Sitzung vom 26. November 2008 beschlossene Unterstützung mittels Formular "Unterstützungsanzeige gemäss Art. 31" vom 6. Februar 2009 unter Nennung der Gründe der Bedürftigkeit und der Art sowie des Masses der Unterstützung angezeigt. Daraus konnte er ohne weiteres die notwendigen Angaben entnehmen, die er zur Feststellung seiner Kostenersatzpflicht brauchte (vgl. Art. 31 Abs. 3 ZUG). Die Bedürftigkeit war denn auch gar nicht streitig. Vielmehr stellt sich der Kanton Zürich auf den Standpunkt, diese sei für die Beurteilung der streitigen Frage der Kostenübernahme durch den Heimatkanton nicht massgebend. Entscheidend sei einzig der Zeitpunkt des Gesuchs um Ausrichtung wirtschaftlicher Hilfe und des Beschlusses der Schuldübernahme durch die Sozialhilfebehörde. Wenn der Beschwerdeführer nunmehr rügt, es sei ihm die Budgetaufstellung nicht vorgelegt worden, steht dies dazu im Widerspruch. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt jedenfalls nicht vor.
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Erwägung 5 | |
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5.2 Das ZUG präzisiert in dem durch die Verfassung gesetzten Rahmen, welcher Kanton für die Fürsorge zuständig ist, und es regelt den Ersatz von Unterstützungskosten unter den Kantonen (vgl. Art. 1 Abs. 1 und 2 ZUG). Bedürftig im Sinne des Bundesgesetzes ist, wer für seinen Lebensunterhalt nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig aus eigenen Mitteln aufkommen kann (Art. 2 Abs. 1 ZUG). Art. 2 Abs. 2 ZUG unterstellt sodann die Beurteilung der Bedürftigkeit den am Unterstützungsort geltenden Vorschriften und Grundsätzen. Art. 3 Abs. 1 ZUG definiert, was unter "Unterstützungen" zu verstehen ist, nämlich Geld- und Naturalleistungen eines Gemeinwesens, die nach kantonalem Recht an Bedürftige ausgerichtet und nach den Bedürfnissen bemessen werden. Art. 3 Abs. 2 ZUG enthält einen Katalog von Leistungen, die nicht als Unterstützungen im Sinne des Gesetzes gelten.
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Die Unterstützung eines Schweizer Bürgers obliegt dem Wohnkanton (Art. 12 ZUG). Wenn der Unterstützte noch nicht zwei Jahre lang ununterbrochen in einem andern Kanton Wohnsitz hat, so erstattet der Heimatkanton dem Wohnkanton die Kosten der Unterstützung, die dieser selber ausgerichtet oder einem Aufenthaltskanton nach Artikel 14 vergütet hat (Art. 16 Abs. 1 ZUG).
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Der Wohn- oder der Aufenthaltskanton, der vom Heimatkanton die Rückerstattung von Unterstützungsleistungen verlangt, zeigt diesem den Unterstützungsfall binnen 60 Tagen an. In begründeten Fällen läuft die Frist längstens ein Jahr. Für später gemeldete Unterstützungsfälle besteht keine Ersatzpflicht (Art. 31 Abs. 1 ZUG in der seit 1. Juli 1992 in Kraft stehenden Fassung). Die Anzeigefrist beginnt, sobald die zuständige Fürsorgebehörde die Unterstützung beschliesst oder der Wohnkanton vom Aufenthaltskanton eine Anzeige nach Artikel 30 erhalten hat (Art. 31 Abs. 2 ZUG). Die Unterstützungsanzeige muss die Angaben enthalten, die für den Heimatkanton zur Feststellung seiner Kostenersatzpflicht nötig sind (Art. 31 Abs. 3 ZUG).
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Erwägung 6 | |
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6.2 Das Sozialamt und das kantonale Gericht gehen davon aus, für die Kostenersatzpflicht des Heimatkantons komme es nicht auf den Zeitpunkt des Unterstützungsbeschlusses an, sondern auf die Bedürftigkeit während der Wohndauer. Dies gelte auch dann, wenn erst nach Ablauf der Zweijahresfrist gemäss Art. 16 ZUG ein Gesuch um Übernahme aufgelaufener Schulden gestellt und bewilligt werde. Da die Bedürftigkeit der Mutter von M. seit 1. November 2007 ausgewiesen sei, müssten die ungedeckt gebliebenen, von der Fürsorge nachträglich übernommenen Pflegegelder bis Ende August 2008 vom Kanton Zürich ersetzt werden. Bei der Anzeigefrist von 60 Tagen gemäss Art. 31 ZUG handle es sich um eine Ordnungsvorschrift, weshalb der Kostenersatzanspruch des Wohnkantons nicht verwirkt sei.
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Erwägung 7 | |
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7.3 Das kantonale Gericht hat die Auffassung verworfen, wonach sich die Kostenersatzpflicht des Heimatkantons bei nachträglicher Übernahme von Schulden einer bedürftigen Person ohne vorherige Gesuchstellung oder Gutsprache mit Blick auf die Schwierigkeit, welche eine nachträgliche Feststellung des Zeitpunktes der Bedürftigkeit mit sich bringen dürfte (THOMET, a.a.O., N. 299 zu Art. 32 ZUG), in jedem Fall nach der Wohnsitzdauer im Zeitpunkt des Unterstützungsbeschlusses zu richten habe. Die Kommission ZUG/Rechtsfragen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) hielt dem im Bericht vom April 2004 entgegen, gerade in grösseren Gemeinden ergehe der Unterstützungsentscheid häufig nach Einsetzen der Hilfe, weshalb die Bedürftigkeit erst rückwirkend festgestellt werden könne. Massgebend sei daher der Zeitraum der Bedürftigkeit.
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Indem das Obergericht entscheidend darauf abstellte, dass die Sozialhilfebehörde aufgrund der ausgewiesenen Bedürftigkeit bereits ab 1. November 2007 für die Pflegegelder hätte Kostengutsprache leisten müssen, widerspricht dies weder dem Wortlaut noch Sinn und Zweck von Art. 16 Abs. 1 ZUG. Der angefochtene Entscheid erweist sich daher in diesem Punkt als bundesrechtskonform.
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Erwägung 8 | |
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8.2 Laut Botschaft vom 17. November 1976 zu einem Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger (BBl 1976 III 1193 Ziff. 262) handelt es sich bei der 60-tägigen Anzeigefrist um eine Ordnungs- und nicht um eine Verwirkungsfrist. In der bereits erwähnten Botschaft vom 22. November 1989 (BBl 1990 I 49 Ziff. 251.2) wird ausgeführt, die Frist stosse in der Praxis seit Jahren auf Kritik, da ihre Nichteinhaltung Verwirkungsfolgen nach sich ziehe. Aufgrund einer entsprechenden Empfehlung der Schweizerischen Konferenz für öffentliche Fürsorge (SKöF) werde sie jedoch von den Kantonen als Ordnungsfrist betrachtet. Diese Diskrepanz wollte der Gesetzgeber bei der Revision des ZUG beheben und die umstrittene und offenbar praxisfremde Verwirkungsfrist in eine Ordnungsfrist umwandeln. Da die mangelnde Verbindlichkeit Nachlässigkeiten fördern und eine vernünftige Budgetplanung auf Seiten der ersatzpflichtigen Gemeinwesen verhindern könnte, schlug der Bundesrat schliesslich vor, eine endgültige Frist von einem Jahr festzulegen. Der Ständerat führte zur Klarstellung alsdann den Nachsatz ein, dass für später als ein Jahr gemeldete Unterstützungsfälle keine Ersatzpflicht mehr bestehe (AB 1990 S 496).
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8.4 Im Gegensatz zur Einjahresfrist hat der Gesetzgeber somit ausdrücklich davon abgesehen, die 60-tägige Frist mit einer Sanktion zu verbinden. Diese ist daher als Ordnungsfrist mit Appellfunktion zu verstehen, deren Nichtbeachtung keine direkten Rechtsfolgen nach sich zieht. Die Nachlässigkeit der zuständigen Fürsorgebehörde hat demnach erst nach Ablauf eines Jahres die Verwirkung des Ersatzanspruchs zur Folge. Selbst wenn die Behörde die Verspätung nicht näher begründet, gereicht ihr dies folglich nicht zum Nachteil, sofern sie innerhalb eines Jahres handelt. Indem das kantonale Gericht die Unterstützungsanzeige als rechtzeitig betrachtet hat, obwohl sie erst am 30. März 2009 und somit nach Ablauf von 60 Tagen seit der Beschlussfassung vom 26. November 2008 ergangen ist, hat sie nach dem Gesagten kein Bundesrecht verletzt.
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