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17. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. und B. gegen Groupe Mutuel Versicherungen Easy Sana Krankenversicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_263/2017 vom 21. März 2018 | |
Regeste |
Art. 24 Abs. 1 und 2 Bst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; Art. 3 Abs. 1 und 2 KVG; Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 lit. e und f KVV; Krankenversicherungspflicht von Bezügern einer Altersrente eines EU-Mitgliedstaats. | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a Die verheirateten deutschen Staatsangehörigen B., geb. 1955, und A., geb. 1950, verlegten ihren Wohnsitz im Herbst 2015 in die Schweiz, wo sie eine Aufenthaltsbewilligung B (ohne Erwerbstätigkeit) erhielten. Seit 1. Januar 2016 bezieht A. eine Regelaltersrente der Deutschen Rentenversicherung.
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A.b Auf das von A. am 19. Oktober 2015 ausgefüllte Beitragsformular hin bestätigte die Groupe Mutuel Versicherungen Easy Sana Krankenversicherung AG (nachfolgend: Easy Sana) mit Schreiben vom 21. Dezember 2015 den Versicherungsabschluss für die obligatorische Krankenpflegeversicherung ab 1. Januar 2016; gleichzeitig wurden entsprechende Versicherungsausweise 2016 ausgehändigt.
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Am 13. April 2016 teilte die Easy Sana A. mit, dass er und seine Ehefrau auf Grund des ausländischen Rentenbezugs bzw. des Nichtbezugs einer Rente oder eines anderweitigen Einkommens in der Schweiz nicht in der Schweiz, sondern in Deutschland krankenversicherungspflichtig seien. Die abgeschlossenen Versicherungsverträge würden daher rückwirkend per 1. Januar 2016 annulliert. Nachdem A. sich diesem Vorgehen widersetzt hatte, erliess die Easy Sana am 9. Juni 2016 eine Verfügung, mit welcher sie die Krankenversicherungsverträge rückwirkend per Beginn auf 1. Januar 2016 auflöste und feststellte, dass keine Versicherungsdeckung gemäss KVG bei ihr bestehe. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 18. August 2016 fest.
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B. Die dagegen von den Eheleuten A. und B. erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ab.
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C. A. und B. führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Gültigkeit der Versicherungsverträge festzustellen und die Easy Sana zu verpflichten, ihnen eine Versicherungsbescheinigung zuhanden der deutschen Rentenversicherung auszustellen. Mit der Eingabe werden diverse Unterlagen aufgelegt.
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Die Easy Sana schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) äussert sich ebenfalls in der Sache.
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D. A. und B. reichen mit Eingaben vom 19. und 21. Juni 2017 weitere Dokumente ein.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Erwägung 3 | |
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Erwägung 4 | |
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Mit Wirkung auf 1. April 2012 sind diese beiden Rechtsakte durch die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109.268.1; nachfolgend: VO Nr. 883/2004) sowie (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (SR 0.831.109. 268.11; nachfolgend: VO Nr. 987/2009) abgelöst worden (BGE 143 V 52 E. 6.1 S. 55 f.; BGE 141 V 246 E. 2.1 S. 248 f.).
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4.2 Diese neuen Verordnungen - in der seit 1. Januar 2015 geltenden Fassung (somit einschliesslich der Änderung gemäss Verordnung [EU] Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom ![]() | 14 |
Erwägung 4.2.1 | |
4.2.1.1 Titel II der VO Nr. 883/2004 (Art. 11-16) enthält allgemeine Kollisionsregeln zur Bestimmung der anzuwenden Rechtsvorschriften. Dabei legt Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 den kollisionsrechtlichen Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften in dem Sinne fest, dass für jede betroffene Person die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats massgebend sind.
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4.2.1.2 Bei Arbeitnehmenden und Selbstständigerwerbenden gelten in der Regel die Rechtsvorschriften desjenigen Mitgliedstaats, in dem sie ihre Tätigkeit ausüben (Art. 11 Abs. 3 Bst. a VO Nr. 883/2004 [Beschäftigungsland- oder Erwerbsortprinzip]; BGE 143 V 52 E. 6.2.1 S. 56; BGE 140 V 98 E. 6.3 S. 102; Urteil 8C_273/2015 vom 12. August 2015 E. 3.2). Nichterwerbstätige sind sodann ebenfalls den Rechtsvorschriften (nur) eines Mitgliedstaats unterstellt. Nach Art. 11 Abs. 3 Bst. e VO Nr. 883/2004 unterliegen sie den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, sofern nichts anderes bestimmt ist. Dabei handelt es sich um einen eigenen Anspruch auf Grund des Wohnorts (BGE 143 V 52 E. 6.2.2 S. 56 f.; BGE 140 V 98 E. 8.1 S. 103).
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4.2.2.1 Titel III VO Nr. 883/2004 beinhaltet Kollisionsnormen für besondere Situationen im jeweiligen Zweig des Systems der sozialen Sicherheit (beispielsweise in Kapitel 1 [Art. 17-35] Leistungen bei Krankheit sowie Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft). Der Charakter als Kollisionsnorm ist dabei nicht immer bereits aus dem Wortlaut klar erkennbar. Im Unterschied zu Titel II handelt es sich bei diesen Bestimmungen ![]() | 18 |
4.2.2.2 Art. 23 ff. VO Nr. 883/2004 regeln im Sinne der beschriebenen speziellen gemeinschaftsrechtlichen Koordinationsbestimmungen den Sachleistungsanspruch der Rentner und ihrer Familienangehörigen bei Krankheit. Danach erhält eine Person, die eine Rente nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats bezieht und die keinen Anspruch auf Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats hat, dennoch Sachleistungen für sich und ihre Familienangehörigen, sofern nach den Rechtsvorschriften des für die Zahlung ihrer Rente zuständigen Mitgliedstaats Anspruch auf Sachleistungen bestünde, wenn sie in diesem Mitgliedstaat wohnte (Art. 24 Abs. 1 VO Nr. 883/2004). Hat der Rentner nur Anspruch auf Sachleistungen nach den Rechtsvorschriften eines einzigen Mitgliedstaats, so übernimmt der zuständige Träger dieses Mitgliedstaats die Kosten für die Sachleistungen (Art. 24 Abs. 2 Bst. a VO Nr. 883/2004). Art. 24 VO Nr. 883/2004 umfasst den Fall, dass Rentner mangels hinreichender Beziehungen zum Rentensystem des Wohnortstaats keinen originären Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit im Wohnortstaat haben. Beim Bezug nur einer Rente ist der Träger für Leistungen bei Krankheit desjenigen Staats kostenpflichtig, der die Rente leistet. Dem Rentner wird ein Anspruch auf Sachleistungsaushilfe gegenüber dem Träger des Wohnortstaats gewährt (SCHREIBER, a.a.O., N. 1 und 7 zu Art. 24 VO Nr. 883/2004).
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Erwägung 4.2.3 | |
4.2.3.1 Die Anwendung der Kollisionsnormen der VO Nr. 883/2004, nach denen sich die anzuwendenden Rechtsvorschriften bestimmen, ist für die Mitgliedstaaten zwingend. Sie bilden ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, das den nationalen Gesetzgebern die Befugnis nimmt, in diesem Bereich den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet sie ihre Wirkung entfalten sollen (erwähntes EuGH-Urteil C-345/09 van Delft u.a., Randnrn. 51 f., 56).
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4.2.4.1 Gemäss Art. 3 Abs. 1 KVG (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 KVV [SR 832.102]) muss sich grundsätzlich jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz innert drei Monaten nach der Wohnsitznahme oder der Geburt in der Schweiz für Krankenpflege versichern lassen, untersteht also dem Krankenversicherungsobligatorium nach KVG. Abs. 2 der Bestimmung stipuliert, dass der Bundesrat Ausnahmen von der Versicherungspflicht vorsehen kann. Er ist damit befugt, bestimmte Personen mit Wohnsitz in der Schweiz von der Versicherungspflicht auszunehmen (BGE 134 V 34 E. 5.5 S. 37 f. mit Hinweisen; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 141/97 vom 3. Dezember 1999 E. 4b, in: SVR 2000 KV Nr. 30 S. 95).
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4.2.4.2 Die Ausnahmen von der Versicherungspflicht wurden zum einen in der - hier interessierenden - Form der Nichtunterstellung geregelt, die nach Gesetz oder Verordnung automatisch eintritt (Art. 2 Abs. 1 KVV; vgl. auch GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 423 Rz. 46). So sind in der Schweiz niedergelassene Personen, die zwar keinen Anspruch auf eine schweizerische, aber nach dem FZA sowie seinem Anhang II einen Anspruch auf eine Rente eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft haben, von der Versicherungspflicht in der Schweiz befreit (Art. 2 Abs. 1 lit. e KVV). Gleiches gilt laut lit. f der Verordnungsbestimmung für Personen, die als Familienangehörige einer unter lit. e erwähnten Person in deren ausländischen Krankenversicherung mitversichert sind und entweder Anspruch auf Leistungsaushilfe haben oder für Behandlungen in der Schweiz über einen gleichwertigen Versicherungsschutz verfügen.
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Erwägung 6 | |
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Erwägung 6.2 | |
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6.2.2 Dem ist mit dem BAG entgegen zu halten (vgl. Vernehmlassung vom 9. Juni 2017), dass die Krankenpflegeversicherung nach KVG in der Schweiz zwar grundsätzlich obligatorisch ist. Dies gilt indessen nur für Personen, welche die im Gesetz und in den Ausführungsverordnungen festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Wie ![]() | 29 |
Erwägung 6.3 | |
6.3.1 Die Beschwerdeführer beanstanden des Weitern eine Verletzung von übergeordnetem Gemeinschaftsrecht, namentlich des in Art. 2 FZA enthaltenen Nichtdiskriminierungsgebots und von Art. 4 VO Nr. 883/2004, wonach, sofern die Verordnung nichts anderes bestimmt, Personen, für welche die Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats haben wie die Staatsangehörigen dieses Staats ("Gleichbehandlung"). So verstosse Art. 2 Abs. 1 lit. e KVV gegen diese Bestimmungen, weil die Regelung dazu führe, dass die betroffene Person durch den Ausschluss von der schweizerischen Krankenpflegeversicherung je nach Konstellation über keine Versicherung verfüge. Dies treffe auf sie zu, da sie weder in Deutschland noch in einem ![]() | 30 |
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In gleichem Sinne hat das deutsche Bundessozialgericht entschieden (vgl. Urteile vom 5. Juli 2005, B 1 KR 4/04 R, wiedergegeben und besprochen von KARL-JÜRGEN BIEBACK, in: ZESAR 2/2006 S. 81 ff., und vom 16. Juni 1999, B 1 KR 5/98 R, wiedergegeben und besprochen von ROLF SCHULER, Die europarechtliche Koordinierung der Krankenversicherung der Rentner, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 25/2000 S. 523 ff. und 553 ff.).
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6.3.2.2 Diese Sichtweise wird auch in der Literatur einhellig geteilt. CONSTANZE JANDA etwa hält ausdrücklich fest (in: Europäisches Sozialrecht, Maximilian Fuchs [Hrsg.], 7. Aufl. 2018, N. 1 ff. zu Art. 24 VO Nr. 883/2004), dass durch die Anordnung der aushilfsweisen Sachleistungserbringung in Art. 24 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 883/2004 ![]() | 34 |
6.3.2.3 Nach den Ausführungen des BAG wird diese Lesart auch durch keinen der Mitgliedstaaten angezweifelt. Die deutschen Behörden und Versicherungsträger berücksichtigen hierbei in ständiger Praxis auch die freiwillig gesetzliche und die private Krankenversicherung für die kollisionsrechtliche Zuordnung.
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6.3.2.4 Ebenso wenig kommt schliesslich - entgegen der Darstellung der Beschwerdeführer - die Gemeinsame Einrichtung KVG als für den Bereich Krankheit zuständige Verbindungsstelle in ihrem "Leitfaden über die Krankenversicherung mit Bezug zur EU/EFTA und über die Leistungsaushilfe für Personen mit einer Grundversicherung in der Schweiz" zu einem gegenteiligen Schluss. In Ziff. 4.3.5.3 wird vielmehr präzisiert, dass eine Versicherungspflicht auf Grund der Wohnsitzverlegung in die Schweiz nur entstehe, wenn die betroffene Person nicht "wegen Bezugs einer Rente aus einem anderen Staat dort versicherungspflichtig" sei.
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6.4 Damit steht fest, dass die Beschwerdeführer nicht der Krankenversicherungspflicht nach KVG unterstehen. Ebenso ist ausgeschlossen, dass sie sich auf freiwilliger Basis bei der Beschwerdegegnerin im Rahmen des Versicherungsobligatoriums bzw. der Grundversicherung gemäss KVG versichern. Die Aufnahme der Beschwerdeführer durch die Beschwerdegegnerin in die obligatorische ![]() | 37 |
Das Vorliegen eines Rückkommenstitels im Sinne der Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG wurde im angefochtenen Entscheid somit grundsätzlich zu Recht bejaht. Streitig und zu prüfen ist einzig (vgl. nicht publ. E. 7 hiernach), ob der Vertrauensschutz eine abweichende Behandlung gebietet (vgl. BGE 138 V 258 E. 6 S. 269 f.; Urteil 9C_695/2015 vom 9. August 2016 E. 2.2 am Ende).
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