![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 23.05.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
3. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_378/2019 vom 18. Dezember 2019 | |
Regeste |
Art. 16 ATSG; Invalideneinkommen; Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75. |
Sind bei der Parallelisierung der Vergleichseinkommen immer die personenbezogenen Faktoren zu untersuchen, die bereits im Gesundheitsfall vorlagen, so stehen beim leidensbedingten Abzug die gesundheitsbezogenen Faktoren im Vordergrund, die in der Regel erst im Krankheitsfall massgebend werden und die Höhe des hypothetisch noch erzielbaren Lohnes beeinflussen. Beide Aspekte erfordern eine getrennte Prüfung je bei der Frage, ob eine Parallelisierung oder ein Leidensabzug vorzunehmen ist (E. 6.2.1). |
Es wird offengelassen, welcher Zeitpunkt für die Prüfung der Frage nach dem Anspruch auf einen Abzug vom Tabellenlohn infolge vorgerückten Alters relevant ist (E. 7.1). | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a Der am 17. April 1958 geborene A. ist französischer Staatsangehöriger und wohnt in Frankreich. Ab 1. Oktober 1990 war er als Grenzgänger für die Genossenschaft B. tätig. Dabei arbeitete er bis im Jahr 2003 in einem vollen Pensum als Teamleiter. Danach wurde die Arbeit quantitativ und qualitativ an seinen Gesundheitszustand angepasst. Am 5. November 2004 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom ![]() ![]() | 2 |
A.b Bereits am 19. September 2011 hatte A. ein zweites Leistungsbegehren bei der Invalidenversicherung (bezeichnet als "Revisionsgesuch") gestellt und auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes hingewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die gegen die daraufhin - nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren - erlassene rentenablehnende Verfügung der IV-Stelle vom 22. November 2013 erhobene Beschwerde insoweit gut, als es die Sache in Aufhebung des Verwaltungsaktes zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und zum Erlass einer neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.
| 3 |
A.c Die IV-Stelle holte in der Folge unter anderem ein polydisziplinäres Gutachten bei der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (ABI), vom 22. Februar 2016 ein. Im Rahmen des Vorbescheidverfahrens beantwortete das ABI mit Schreiben vom 22. August 2016 die von A. gestellten Rückfragen. Mit Verfügung vom 17. Oktober 2016 anerkannte die IV-Stelle mit Wirkung ab 1. Juni 2012 dessen Anspruch auf eine Viertelsrente, basierend auf einem Invaliditätsgrad von 47 %.
| 4 |
B. In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde sprach das Bundesverwaltungsgericht A. in Abänderung der Verfügung vom 17. Oktober 2016 rückwirkend ab 1. Juni 2012 eine halbe Invalidenrente zu (Entscheid vom 23. April 2019).
| 5 |
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, es sei A. ab 1. Juni 2012 eine Viertelsrente zuzusprechen.
| 6 |
A. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesverwaltungsgericht verzichtet auf eine Vernehmlassung, während das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt, die Beschwerde sei gutzuheissen.
| 7 |
8 | |
D. (...)
| 9 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
| 10 |
(Auszug)
| 11 |
Aus den Erwägungen: | |
12 | |
13 | |
4.1 Mit dem Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad ![]() ![]() | 14 |
15 | |
Erwägung 5 | |
5.1 Die IV-Stelle bringt vor, bisher sei keine Praxis des Bundesgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts bekannt, wonach aufgrund des Grenzgängerstatus ein Leidensabzug zu gewähren wäre. Die vorinstanzliche Berücksichtigung des Grenzgängerstatus bei der Bemessung des Leidensabzugs sei deshalb als Praxisänderung zu werten, die unangekündigt und damit in Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben, vorgenommen worden sei. In materieller Hinsicht bestehe kein Anlass für einen Abzug infolge des Grenzgängerstatus. Die Differenz zwischen dem Medianlohn gemäss der LSE 2010, Total Männer, Anforderungsniveau 4 (Fr. 5'000.-), und dem Medianlohn der Grenzgänger im gleichen Anforderungsniveau (Fr. 4'767.-) betrage 4,6 %. Gestützt auf die Tabelle TA12 der LSE 2016 liege ![]() ![]() | 16 |
5.2 Der Beschwerdegegner lässt dagegen einwenden, die Aufenthaltskategorie als Merkmal für einen Abzug anzuerkennen, bedeute keine Praxisänderung. Unabhängig davon, wie hoch die Differenz zwischen Einkommen von in der Schweiz lebenden Arbeitnehmenden und Grenzgängern sei, lege die Beschwerdeführerin im Übrigen selber dar, dass Grenzgänger mit einem unterdurchschnittlichen Einkommen zu rechnen hätten und dass diese Aufenthaltskategorie mit einer Lohneinbusse verbunden sei. In der LSE 2012, S. 13, werde ausgeführt, dass das Lohnniveau der ausländischen Arbeitskräfte insgesamt immer noch unter dem der Schweizer Arbeitnehmenden liege. Zudem sei die Lohnsumme bei den Grenzgängern konstant (tief) verblieben, während sich in den Jahren 2008 bis 2012 das Medianlohnniveau der ausländischen Arbeitnehmenden (alle Aufenthaltsbewilligungskategorien zusammen) stärker als jenes der Schweizer Arbeitnehmenden erhöht habe. Da dem Grenzgängerstatus als einkommensbeeinflussendes Merkmal bei der Parallelisierung der Vergleichseinkommen nicht Rechnung getragen worden sei, dürfe der invaliditätsfremde Faktor beim Abzug veranschlagt werden und es liege dadurch keine Doppelberücksichtigung vor. Soweit das Bundesverwaltungsgericht angesichts der Lohneinbusse infolge der Aufenthaltskategorie einen Abzug gewährt habe, sei dies nicht als bundesrechtswidrig einzustufen. In Bezug auf den altersbedingten Abzug falle ins Gewicht, dass der Versicherte von 1990 bis zur gesundheitlich ![]() ![]() | 17 |
5.3 Das BSV weist darauf hin, dass die Frage der Parallelisierung immer zuerst zu prüfen sei. Sämtliche Faktoren, die in diesem Rahmen zu berücksichtigen seien, könnten beim leidensbedingten Abzug nicht mehr veranschlagt werden. Dies gelte auch dann, wenn es trotz Vorliegens eines Abzugsfaktors nicht zu einer Parallelisierungskorrektur komme. Falls nämlich ein Faktor, der grundsätzlich zu einem unterdurchschnittlichen Valideneinkommen führen könne, in einem Fall nicht derart ins Gewicht falle, dass eine erhebliche Unterdurchschnittlichkeit des Einkommens resultieren würde, so könne davon ausgegangen werden, dass auch der Einfluss aufs Invalideneinkommen nur bescheiden ausfalle. Vorliegend sei der Schritt der Parallelisierung von der Vorinstanz fälschlicherweise nicht geprüft worden. Die IV-Stelle mache in ihrer Beschwerde sinngemäss korrekt geltend, dass der Grenzgängerstatus bei der Parallelisierung zu berücksichtigen sei, gehe es doch um einen Faktor, dem bereits vor dem Gesundheitsschaden ein Einfluss auf die Höhe des erzielbaren Einkommens zugekommen sei. Beim vorliegenden Vergleich des Valideneinkommens als Teamleiter im Jahr 2012 (Fr. 78'000.-) mit dem branchenüblichen Durchschnitt gemäss LSE 2012, Tabelle TA1, Männer, Ziff. 47 Detailhandel, Anforderungsniveau 3, hochgerechnet auf die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,9 Stunden für den Sektor Handel (Fr. 78'286.-) resultiere eine bloss marginale Differenz von 0,37 %. Damit sei im Rahmen der Parallelisierung keine Korrektur der Vergleichseinkommen vorzunehmen, habe der Versicherte doch trotz Grenzgängerstatus einen normalen durchschnittlichen Lohn erzielt. Für die Festlegung des leidensbedingten Abzugs dürfe der Grenzgängerstatus nicht mehr herangezogen werden. Soweit die Vorinstanz schliesslich auch das Alter der versicherten Person als abzugsberechtigten Faktor gewertet habe, sei mit der ![]() ![]() | 18 |
Erwägung 6 | |
19 | |
Erwägung 6.2 | |
20 | |
6.2.2 Im vorliegenden Fall zeigt das BSV korrekt auf, dass eine Parallelisierung des Valideneinkommens bei einer marginalen Differenz ![]() ![]() | 21 |
6.2.3 Wie die IV-Stelle zu Recht rügt, geht das Bundesverwaltungsgericht dabei jedoch für Grenzgänger fälschlicherweise von einem um 9 % unter dem Durchschnitt liegenden Lohn im niedrigsten Anforderungsniveau aus. Das statistische Einkommen von männlichen Grenzgängern (ohne Kaderfunktion; Fr. 5'679.-) gestützt auf die LSE-Tabelle TA12 aus dem Jahr 2012 ist nämlich mit dem Total des Medianlohnes für Männer ohne Kaderfunktion (Fr. 5'856.-), nicht mit demjenigen von Schweizer Bürgern, zu vergleichen (vgl. RKUV 2004 Nr. U 511 S. 277, U 107/03 E. 2.3). Dabei resultiert eine Unterdurchschnittlichkeit von 3 % (und nicht 4,6 bzw. 4 %, wie die IV-Stelle unter Verweis auf die hier nicht massgebenden Tabellen der LSE 2010 und 2016 annimmt). Diese Abweichung in der Berechnung der statistischen Unterdurchschnittlichkeit ändert aber nichts am Umstand, dass einerseits eine Erheblichkeitsschwelle von 5 %, wie sie die IV-Stelle in Analogie zur Parallelisierungsregel statuieren möchte, nicht existiert. Denn der Abzug ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall gesamthaft zu schätzen (E. 4.1 hiervor). Andererseits aber lässt sich nicht übersehen, dass das Abzugskriterium des Grenzgängerstatus vorinstanzlich ohne Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des vorliegenden Streitfalls, allein aufgrund der (falsch) errechneten statistischen Unterdurchschnittlichkeit von 9 % bejaht wurde, was - insoweit ist der IV-Stelle zuzustimmen - eine Rechtsverletzung bedeutet. So ist dem Bundesverwaltungsgericht namentlich entgangen, dass der Beschwerdegegner, nachdem der Stellenantritt bereits 1990 erfolgt war, über eine langjährige Vertrautheit mit einem Arbeitsplatz in der Schweiz verfügt. Sein Einkommen vor Eintritt der Invalidität entsprach durchwegs branchenüblichen Ansätzen. Zu keinem Zeitpunkt musste er in seiner Tätigkeit einen unterdurchschnittlichen Lohn gewärtigen und es ![]() ![]() | 22 |
Soweit der Versicherte - wiederum einzig mit Blick auf die Statistik - zu bedenken gibt, dass sich der Grenzgängerstatus bei einem gesundheitsbedingten Stellenwechsel lohnmindernd auswirke, auch wenn dieses Kriterium bei der letzten langjährigen Beschäftigung im gleichen Betrieb keine Rolle gespielt hatte, ist zu berücksichtigen, dass die Bedeutung der Dienstjahre im privaten Sektor abnimmt, je niedriger das Anforderungsprofil ist (BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 79; Urteile 8C_227/2018 vom 14. Juni 2018 E. 4.2.3.3; 9C_386/2012 vom 18. September 2012 E. 5.2; je mit Hinweisen). Mit Blick auf das Kompetenzniveau 1 kommt dem Umstand, dass der Versicherte nicht mehr in seiner angestammten Tätigkeit arbeiten kann und im Rahmen einer Verweistätigkeit über kein Erfahrungswissen verfügt, daher keine relevante Bedeutung zu. Weil ein neuer Arbeitsplatz zudem stets mit einer Eingewöhnungsphase einhergeht, vermag auch ein allfälliger Anpassungsaufwand keinen Tabellenlohnabzug zu rechtfertigen (vgl. Urteile 9C_200/2017 vom 14. November 2017 E. 4.5; 8C_72/2007 vom 28. Januar 2008 E. 2.3 in fine).
| 23 |
Erwägung 7 | |
7.1 Für den Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der (Rest-) Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, ist auf das Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-) Erwerbstätigkeit abzustellen (BGE 145 V 2 E. 5.3.1 S. 16; BGE 138 V 457 E. 3 S. 459 ff.; SVR 2019 IV Nr. 7 S. 21, 8C_892/2017 E. 3.2; vgl. auch MARCO WEISS, Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit aufgrund vorgerückten Alters - Rechtsprechungstendenzen, SZS 2018 S. 630). Zumindest auf Anhieb liegt es nahe, diesen Zeitpunkt auch für die Prüfung des Anspruchs auf einen Abzug vom Tabellenlohn infolge vorgerückten Alters als massgeblich zu erachten. Alternativ könnten für die Beantwortung der Frage, wie sich das Alter ![]() ![]() | 24 |
25 | |
7.2.1 Die IV-Stelle rügt zu Recht, dass die Vorinstanz auch in Bezug auf das Kriterium "Alter" die Umstände des Einzelfalls überhaupt nicht geprüft hat. Entgegen der impliziten Annahme des Bundesverwaltungsgerichts können die lohnwirksamen Nachteile des fortgeschrittenen Alters bei einer gesundheitsbedingten beruflichen Umorientierung nicht abstrakt, einzig unter Hinweis auf das fortgeschrittene Alter, beurteilt werden. Vielmehr ist jeweils unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob das Merkmal "Alter" einen Abzug vom Tabellenlohn rechtfertigt (Urteil 8C_504/2018 vom 19. Oktober 2018 E. 3.6.2 mit Hinweisen). Dies gilt insbesondere im Bereich der Hilfsarbeiten auf dem hypothetischen ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG), wo sich ein fortgeschrittenes Alter nicht zwingend lohnsenkend auswirken muss. Gerade Hilfsarbeiten werden auf dem massgebenden ausgeglichenen Stellenmarkt altersunabhängig nachgefragt (Urteile 8C_ 411/2019 vom 16. Oktober 2019 E. 8.2; 8C_403/2017 vom 25. August 2017 E. 4.4.1; 8C_805/2016 vom 22. März 2017 E. 3.4.3). Die ![]() ![]() | 26 |
27 | |
![]() ![]() | 28 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |