![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Adrian Schwaller, A. Tschentscher | |||
![]() | ![]() |
![]() |
vom 28. November 1913 in Sachen Aargau gegen Bern. | |
Regeste |
Staatsrechtliche Streitigkeit zwischen Kantonen (Art. 175 Abs. 1 Ziffer 2 OG): Interkantonaler Konflikt betr. die Kompetenz für die Massnahmen zur Sicherung des Erbgangs (Art. 551 ZGB). Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs? -- Bestimmung des Wohnsitzes einer bevormundeten Person (Art. 25 und 377 ZGB); Bedeutung des "Wohnsitzwechsels." | |
Sachverhalt | |
Das Bundesgericht hat auf Grund folgender Aktenlage:
| 1 |
A. | |
Am 1. September 1910 wurde über die gegen 70 Jahre alte ledige E.I., die im Jahre 1906 von einem Bruder ein Vermögen von mehr als einer Million geerbt hatte, an ihrem Wohnorte Wohlen (Aargau), wo sie auch heimatberechtigt war, auf Begehren ihrer Verwandten und des Gemeinderates Wohlen, welche sie als zufolge Geisteskrankheit zur Besorgung ihrer Angelegenheiten unfähig bezeichneten, das Bevormundungsverfahren eröffnet. Dieses führte dazu, daß die I. durch Urteil des Bezirksgerichts Bremgarten, vom 13. Mai 1911, das mit der obergerichtlichen Abweisung ihrer hiegegen ergriffenen Beschwerde am 22. September 1911 in Rechtskraft erwuchs, wegen postapoplektischer und seniler Demenz unter Vormundschaft gestellt wurde. Inzwischen, im November 1910, war die I., die in Wohlen ein eigenes Haus bewohnt hatte, von ihrer Pflegerin in eine für sie gemietete Wohnung nach Bern verbracht worden. Die aargauischen Behörden hatten ihr jedoch die Ausstellung eines Heimatscheines behufs dortiger Niederlassung verweigert, und das Bundesgericht erklärte ihren staatsrechtlichen Rekurs in dieser Angelegenheit, nachdem es den Ausgang des Bevormundungsverfahrens abgewartet hatte, durch Urteil vom 28. Dezember 1911 als gegenstandslos, weil die Rekurrentin als bevormundete Person nicht mehr selber über ihre Niederlassung disponieren könne. ![]() | 2 |
![]() ![]() ![]() | 3 |
Mit Entscheid vom 14. Juli 1913 wies das Bezirksamt Bremgarten die Beschwerde der bernischen Vormundschaftsbehörde ab. Diese zog die Angelegenheit an den Regierungsrat des Kantons Aargau weiter; während sie hier anhängig war, starb aber die I. am 1. September 1913 in ihrer bernischen Wohnung.
| 4 |
Die Verstorbene, die in Wohlen begraben wurde, hinterließ mehrere Testamente, in deren letztem, vom 15. September 1910, sie unter Aussetzung größerer Vermächtnisse, teilweise zu wohltätigen Zwecken, ihre Pflegerin Lina Seiler als Universalerbin eingesetzt hat. Die Originalien dieser Testamente fanden sich beim Bezirksgericht Bremgarten hinterlegt, doch hatte die Erblasserin eine notariell beglaubigte Abschrift des letzten derselben bei sich in Bern.
| 5 |
Mit Schreiben vom 6. September 1913 lud der Gemeinderat der Stadt Bern den Neffen der Verstorbenen, B.-Z. in Wohlen (Aargau), als gesetzlichen Erben zur Eröffnung der erwähnten Testamentsabschrift gemäß Art. 557 ZGB auf den 10. September nach Bern vor.
| 6 |
Anderseits erließ auch das Bezirksgerichtspräsidium Bremgarten als sachlich zuständige aargauische Behörde Vorladung zur Testamentseröffnung und traf überdies, auf Veranlassung des gesetzlichen Erben B.-Z., am 9. September 1913 folgende Verfügung:
| 7 |
"1. Die Eröffnung der letzten Willensverordnung, die nach Mitteilung des Gemeinderates der Stadt Bern an den gesetzlichen Erben von der am 1. September verstorbenen Fräulein E.I. ![]() ![]() | 8 |
2. Diese Verfügung wird dem Gemeinderat der Stadt Bern zur Kenntnis gebracht und derselbe ersucht, die fragliche letzte Willensverordnung der Fräulein E.I., gemäß Art. 538 ZGB und 551 und 556 ff. ZGB dem Unterzeichneten Gerichtspräsidenten von Bremgarten (Aargau) zur Eröffnung einzuliefern und diese Eröffnung nicht selber vorzunehmen.
| 9 |
3. Sollte die Eröffnung bei der Zustellung schon erfolgt sein, so wird der Gemeinderat von Bern ersucht, die Urkunde zur neuen Eröffnung hieher zu übersenden."
| 10 |
Allein der Gemeinderat der Stadt Bern nahm die Eröffnung der ihm vorliegenden Testamentsurkunde gleichwohl vor, da die Frage des Wohnsitzes der Verstorbenen nicht erledigt sei und die Vormundschaftsbehörde von Bern entgegen derjenigen von Wohlen die Ansicht vertrete, daß die I. in Bern Wohnsitz erworben habe. Der Gerichtspräsident von Bremgarten hielt auch seinerseits an der erlassenen Verfügung fest und eröffnete in der Folge sämtliche gerichtlich hinterlegten Testamente.
| 11 |
B. | |
Mit Eingabe an das Bundesgericht vom 23. September 1913 hat der Regierungsrat des Kantons Aargau gegen den Regierungsrat des Kantons Bern "für sich und zu Handen des Gemeinderates der Stadt Bern" staatsrechtliche Beschwerde erhoben und gestützt auf Art. 175 Ziff. 2 OG das Gesuch gestellt:
| 12 |
Das Bundesgericht wolle festsetzen, daß der Erbgang in den Nachlaß der E.I. in Wohlen (Aargau), nicht in Bern, zu eröffnen sei und den Behörden und Gerichten des Kantons Aargau, nicht denjenigen des Kantons Bern, zustehe, und es wolle die Eröffnung der Testamentsabschrift durch den Gemeinderat der Stadt Bern und die weiter daran sich knüpfenden Erbgangshandlungen dieser Behörde als ungültig wieder aufheben.
| 13 |
Zur Begründung wird unter Hinweis auf den vorstehenden ![]() ![]() | 14 |
C. | |
Der Regierungsrat des Kantons Bern hat zunächst den Antrag gestellt, es sei auf den Rekurs wegen Inkompetenz des Bundesgerichts nicht einzutreten, da eine staatsrechtliche Streitigkeit zwischen Kantonen im Sinne des Art. 175 Ziff. 2 OG nicht vorliege, solange bernischerseits die Angelegenheit nicht von den "privaten oder staatlichen Interessenten" gemäß Art. 10 bern. EG z. ZGB an den Regierungsstatthalter und den Regierungsrat weitergezogen worden sei und diese kantonalen Behörden dazu nicht Stellung genommen hätten. Auch der Gemeinderat der Stadt Bern hat in einer ersten Vernehmlassung diese Rechtsauffassung vertreten.
| 15 |
Auf Einladung des Instruktionsrichters hat der Regierungsrat sodann noch eine materielle, auf Abweisung des Rekurses antragende Vernehmlassung des Gemeinderates von Bern eingereicht und sich ihr eventuell, für den Fall, daß das Bundesgericht entgegen seinem prinzipalen Standpunkte auf die Sache eintreten sollte, ohne eigene Gegenbemerkungen angeschlossen. Die Gemeindebehörde nimmt den Standpunkt ein, die I. habe ihren letzten Wohnsitz in Bern gehabt und es sei daher die dortige Eröffnung des Erbganges zu schützen; ![]() | 16 |
![]() | |
in Erwägung:
| 17 |
Erwägung 1 | |
18 | |
Die Voraussetzungen einer Streitigkeit staatsrechtlicher Natur zwischen Kantonen im Sinne des Art. 175 Abs. 1 Ziff. 2 OG, auf den der Regierungsrat des Kantons Aargau seinen Rekurs stützt, sind gegeben. Nach Art. 177 Abs. 2 OG gehören zu diesen Streitigkeiten insbesondere auch "Kompetenzfragen zwischen den Behörden verschiedener Kantone", und zwar bezeichnet der allgemeine Ausdruck "Behörden" hier nicht nur die Organe der zentralen Staatsorganisation, sondern umfaßt auch die Gemeindebehörden der Kantone. Denn auch ein Kompetenzkonflikt, der materiell zwischen Gemeindebehörden verschiedener Kantone besteht, ist durch eine Abgrenzung der beteiligten kantonalen Staatshoheiten zu beseitigen, die Art. 175 Abs. 2 OG dem Bundesgericht zuweist. Erforderlich ist in solchen Fällen gemäß Art. 177 Abs. 1 OG bloß, daß eine Kantonsregierung den Entscheid des Gerichtes anruft, wie dies vorliegend von seiten des Kantons Aargau geschehen ist (vergl. hiezu AS 23 Nr. 198 Erw. 2 S. 1467 [= BGE 23 I 1463 (1467)]). Ferner war die aar ![]() ![]() | 19 |
Erwägung 2 | |
2. Für die Beantwortung der materiell entscheidenden Frage, ob die Erblasserin I. ihren letzten Wohnsitz in Wohlen oder in Bern gehabt hat, sind maßgebend die Art. 25 Abs. 1 und 377 ZGB, dem die über jene verhängte Vormundschaft nach Art. 14 Abs. 1 seines Schlußtitels seit dem 1. Januar 1912 unterstand. Diese neuen Bestimmungen über den Wohnsitz der bevormundeten Personen decken sich inhaltlich völlig mit den bis zu ihrem Inkrafttreten für interkantonale Verhältnisse geltenden Vorschriften der Art. 4 Abs. 3 und 17 BG betr. zivilr. Verh. d. N. u. A. Für ihre Auslegung darf daher unbedenklich von der Praxis ausgegangen werden, die sich an Hand der bisherigen Rechtsordnung entwickelt hat. Danach steht fest, daß unter dem Ausdruck "Wohnsitz" in Art. 17 des erwähnten Gesetzes, der die örtliche Übertragung der Vormundschaftsführung im Falle eines von der Vormundschaftsbehörde bewilligten "Wohnsitzwechsels" des Bevormundeten vorschreibt, zu verstehen ist ein mit (ausdrücklicher oder auch nur stillschweigender) Zustimmung der bisherigen Vormundschaftsbehörde hergestelltes tatsächliches Verhältnis des Bevormundeten zu einem Orte im Bereiche einer andern Vormundschaftsbehörde, das für eine nicht unter Vormundschaft stehende Person den Wohnsitz im Rechtssinn begründen würde, und daß aus diesem tatsächlichen Verhältnis Recht und Pflicht der Vormundschaftsübertragung sich ergeben, wobei jedoch mit deren Vollzug erst der Wohnsitz des Bevormundeten im Rechtssinn, wie ihn Art. 1 Abs. 3 des Gesetzes im Auge hat, übergeht (vergl. hierüber BGE 30 I Nr. 118 Erw. 2 S. 700 ff. [= BGE 30 I 695 (700 ff.)]; 34 I Nr. 49 Erw. 1 S. 297 [= BGE 34 I 295 (297)]; 36 I Nr. 11 Erw. 3 S. 71 [= BGE 36 I 66 (71)]). Die Gründe, welche zu dieser Auslegung des früheren Gesetzesrechtes geführt haben, rechtfertigen beim heutigen, materiell unveränderten Stande der Gesetzgebung ohne weiteres die ![]() ![]() | 20 |
Erwägung 3 | |
21 | |
Übrigens war dieses Begehren, wie noch bemerkt sein mag, ganz unbegründet. Eine ausdrückliche Zustimmung der Vormundschaftsbehörde von Wohlen zur Wohnungsverlegung der Verstorbenen ![]() ![]() | 22 |
Dispositiv | |
erkannt:
| 23 |
Das Rechtsbegehren des Regierungsrates des Kantons Aargau wird dahin gutgeheißen, daß zur Vornahme der Sicherungsmaßregeln im Sinne der Art. 551 ff. ZGB mit Bezug auf den Nachlaß der am 1. September 1913 in Bern verstorbenen I. von Wohlen (Aargau) die aargauischen Behörden des Vormundschaftssitzes der Verstorbenen (Wohlen) für zuständig erklärt werden. ![]() | 24 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |