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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Johannes Sokoll, A. Tschentscher | |||
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vom 27. Februar 1914 i.S. Bammert gegen St. Gallen. | |
Regeste |
Unvereinbarkeit einer kantonalen Bestimmung, durch welche die Frauen zwar zur Advokatur zugelassen, dagegen von der Rechtsagentur (Parteivertretung vor den untern Gerichtsinstanzen und im Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren) ausgeschlossen werden, mit der Garantie der Rechtsgleichheit. | |
Sachverhalt | |
A. | |
Das Gesetz betr. die Zivilrechtspflege für den Kanton St. Gallen vom 31. Mai 1900 bestimmt in den Art. 77 und 31:
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"Art. 77. In allen Streitsachen, welche von den Vermittlerämtern, den Bezirksgerichtspräsidenten und den Gerichtskommissionen entschieden werden, mit Einschluss der Nichtigkeitsbeschwerde, sowie in sämtlichen summarischen Streitigkeiten, in Betreibungs- und Konkurssachen ist die berufsmässige Vertretung von Parteien, soweit solche gesetzlich zulässig ist, nur solchen Personen gestattet, welche vom Kantonsgericht die Bewilligung zur Ausübung des Rechtsagentenberufes besitzen.
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Diejenigen Personen, welche die Bewilligung des Kantonsgerichts zur Ausübung des Anwaltsberufes besitzen, haben diese Befugnis und ausserdem auch diejenige zur berufsmässigen Vertretung oder Rechts ![]() ![]() | 3 |
"Art. 31. Das Kantonsgericht erteilt die Bewilligung zur Ausübung des Anwalts- und Rechtsagentenberufes an solche Personen, welche die hierfür nötigen Fähigkeiten besitzen und in bürgerlichen Rechten und Ehren stehen. Es erlässt ein bezügliches Reglement, welches der Genehmigung des Grossen Rates unterliegt.
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Es übt die Oberaufsicht über die Berufsführung der Anwälte und Rechtsagenten aus, und ist befugt, im Falle grober Pflichtverletzung Rügen auszusprechen oder Ordnungsbussen bis auf 200 Fr. zu verhängen oder die erteilte Bewilligung zeitweise oder ganz zurückzuziehen."
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Gestützt hierauf genehmigte der Grosse Rat des Kantons St. Gallen am 21. Mai 1901 ein vom Kantonsgericht ausgearbeitetes "Reglement für die Anwälte und Rechtsagenten im Kanton St. Gallen", worin für beide Berufe folgende gemeinsame Erfordernisse aufgestellt werden:
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1. Eigenschaft als stimmberechtigter Schweizerbürger; 2. guter Leumund; 3. Besitz des Anwalts- bezw. Rechtsagentenpatents. | 7 |
Von dem ersteren Requisit wird in Art. 1 Abs. 3 inbezug auf die Anwälte insofern eine Ausnahme gemacht, als "Frauenspersonen" von diesem Berufe "nicht ausgeschlossen" sein sollen. Für die Rechtsagenten besteht eine analoge Bestimmung nicht. Hier wird also stets Besitz des Aktivbürgerrechts verlangt (Art. 15 und 16).
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Vor Erteilung des Patents hat sich der Bewerber einer Prüfung zu unterziehen, die sich bei den Rechtsagenten auf eidgenössisches und kantonales Privatrecht und kantonales Zivilprozessrecht (auf diese Fächer "im Rahmen der gesetzlich normierten Tätigkeit eines Rechtsagenten"), sowie auf Betreibungs- und Konkursrecht, bei den Anwälten auf allgemeine Rechtslehre, schweizerisches und kantonales Privatrecht, Betreibungs- und ![]() ![]() | 9 |
Die Tätigkeit der Rechtsagenten ist nach dem zitierten Art. 77 in Verbindung mit den Art. 25-27 ZPO teils eine gerichtliche -- Vertretung vor den unteren Gerichtsinstanzen (Zivilstreitigkeiten bis auf 25 Fr. vor Vermittler, von über 25-200 Fr. vor Gerichtskommission, Nichtigkeitsbeschwerden gegen Urteile des Vermittlers an den Bezirksgerichtspräsidenten, summarische Streitigkeiten) -- teils eine aussergerichtliche -- Vertretung in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen und darauf bezüglicher Inkasso (Art. 27 SchKG). Die Vergütung für ihre Verrichtungen, wie für diejenigen der Anwälte, richten sich gemäss Art. 347 ZPO nach einem vom Regierungsrat auf Antrag des Kantonsgerichts festzusetzenden Gebührentarif.
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B. | |
Am 8. November 1913 fragte die Rekurrentin Fräulein B. Bammert, die nach ihren Angaben während sechs Jahren auf einem st. gallischen Anwaltsbureau angestellt war, das Kantonsgericht an, ob sie zur Rechtsagentenprüfung zugelassen würde, erhielt aber darauf am 28. November 1913 vom Kantonsgerichtspräsidenten den Bescheid, dass nach der Auffassung des Kantonsgerichts die Erteilung des Rechtsagentenpatentes an Frauenspersonen ausgeschlossen sei, weil Art. 15 des Reglements vom 21. Mai 1901 dafür die Stimmberechtigung als notwendiges Erfordernis voraussetze.
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C. | |
Gegen diese "Verfügung" des Kantonsgerichts hat Fräulein Bammert den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen mit dem Antrage, sie sei aufzuheben und das Kantonsgericht anzuweisen, die Rekurrentin zur Rechtsagentenprüfung zuzulassen und ihr nach bestandener Prüfung das Patent zu erteilen. Zur Begründung wird geltend gemacht, dass der Ausschluss der Frauen vom Rechtsagentenberuf gegen Art. 31, je ![]() ![]() | 12 |
D. | |
Das Kantonsgericht St. Gallen hat auf Abweisung des Rekurses angetragen und ausgeführt: Art. 33 BV hindere die Kantone nicht, die Ausübung wissenschaftlicher Berufsarten noch von anderen Requisiten als dem Befähigungsausweis abhängig zu machen. So sei allgemein anerkannt, dass der Nachweis guten Leumunds verlangt werden könne. Ob sich das Reglement vom 21. Mai 1901, wenn es daneben für die Rechtsagentur ausserdem noch die Stimmfähigkeit und damit das männliche Geschlecht fordere, auf verfassungsmässigem Boden befinde, möge das Bundesgericht entscheiden. Sicher sei jedenfalls soviel, dass es nicht auf Zufall beruhe, wenn darin die Frauen zu dem höherstehenden Berufe des Anwalts zugelassen würden, zum Rechtsagentenberufe aber nicht. Infolge der Beobachtung, dass die Tätigkeit der Rechtsagenten häufig keine einwandfreie sei, habe sich bei Erlass des Prozessgesetzes bezw. des Reglementes eine starke Bewegung dahin geltend gemacht, die Rechtsagenten überhaupt zu beseitigen oder doch zum mindesten den Stand ihrer Vertreter möglichst zu beschränken. Wenn sich diese Bewegung auch nicht ganz habe durchsetzen können und das Gesetz den Rechtsagentenberuf nach wie vor zulasse, so habe sie doch ihren Niederschlag in der Bestimmung des Art. 15 des Reglementes gefunden, welche als Vorbedingung für die Erteilung des Patents die Stimmberechtigung aufstelle. Man habe es also mit einer bewusst aufgestellten Schranke zu tun.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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Erwägung 2 | |
2. In der Sache selbst mag dahingestellt bleiben, ![]() ![]() | 15 |
Nach dem eingangs zitierten Art. 77 des st. gallischen Rechtspflegegesetzes kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Tätigkeit des Anwaltes und des Rechtsagenten ihrem Gegenstand nach eine durchaus gleichartige ist. Beide befassen sich mit der berufsmässigen Vertretung der Parteien im Prozess- und Zwangsvollstreckungs- ![]() ![]() ![]() ![]() | 16 |
Da irgendwelcher andere Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses, der für die verschiedene Behandlung der Frauen mit Bezug auf die Zulassung zur Advokatur und Rechtsagentur spräche, vom Kantonsgericht, dem Urheber des Reglements, nicht namhaft gemacht worden und auch nicht ersichtlich ist, muss dieselbe daher als unzulässig betrachtet und der Rekurs gutgeheissen werden;
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Demnach hat das Bundesgericht erkannt: | |
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