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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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29. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 20. September 2000 |
i.S. A. gegen Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte und Obergericht des Kantons Zürich |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 30 Abs. 1 BV; Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung vor einer richterlichen Behörde bei vorübergehender Einstellung eines Anwalts im Beruf. |
Umfang der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf anwaltsrechtliche Disziplinarverfahren; Begriff der richterlichen Behörde (E. 2a). |
Die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich ist in diesem Zusammenhang keine richterliche Behörde im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK bzw. Art. 30 Abs. 1 BV (E. 2c), weshalb eine von ihr durchgeführte öffentliche Verhandlung bei entsprechendem Gesuch eine solche vor dem Obergericht nicht zu ersetzen vermag (E. 3a). | |
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Rechtsanwalt A. reichte am 24. Februar 1998 bei der I. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Zürich Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichts Uster ein. Am 25. Februar 1998 stellte deren Präsident fest, dass die Eingabe unter anderem einen ungebührlichen Inhalt aufweise, soweit darin von "vereinigten habsburgischen und alpengermanischen Plutokratien" (Österreich und Vorinstanz), von einem "reinen Affentheater" (Verfahren), von einem "betmühlenartig heruntergeschwatzten Sprüchlein von Recht und Gerechtigkeit", von einem "epochalen Betrug", von einem "aufgetürmten Machwerk und ungeniessbaren juristischen Wurstsalat", von einem "systematischen Absegnen der Verbrechen der Österreicher" (Urteil der Vorinstanz), von einem "apodiktischen Decken der seinerzeitigen Verbrechen der österreichischen Justiz" (Vorinstanz und Gegenpartei), von "vom Recht schwafelnden Organen der Unrechtsstaaten" (Vorinstanz und Vertreter der Klägerin), von "blankem Unsinn" bzw. einer "aberwitzigen und hirnverbrannten Klage" und so weiter die Rede sei. Rechtsanwalt A. erhielt Gelegenheit, seine Eingabe zu verbessern, ansonsten aufgrund der Akten entschieden würde. Am 3. März 1998 reichte er eine zweite Fassung seiner Berufungsschrift ein, in der er die beanstandeten Ausdrücke bis auf den jeweiligen Anfangsbuchstaben wegliess, worauf der Präsident der I. Zivilkammer verfügte, dass die Rechtsschrift nicht korrekt verbessert worden sei und deshalb - wie angedroht - aufgrund der Akten entschieden werde.
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Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hob am 15. März 1999 das gestützt hierauf ergangene Urteil vom 25. Mai 1998 mit der Begründung auf, das Obergericht habe den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt, indem es die (zweite) Berufungsschrift vollumfänglich aus dem Recht gewiesen habe. Am 1. Juli 1999 bestätigte die I. Zivilkammer des Obergerichts ihr kassiertes Urteil.
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Am 9. März 1998 war der Präsident der I. Zivilkammer gegen Rechtsanwalt A. an die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich gelangt, welche ein Disziplinarverfahren bezüglich Geschäftsführung, Interessenwahrung und Zutrauenswürdigkeit eröffnete (§§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 30 Abs. 2 des zürcherischen Anwaltsgesetzes vom 3. Juli 1938; AnwG). Am ![]() ![]() | 3 |
Hiergegen hat A. staatsrechtliche Beschwerde eingereicht, welche das Bundesgericht gutheisst, soweit es darauf eintritt,
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Auszug aus den Erwägungen: | |
aus folgenden Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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a) aa) Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangt, dass über zivilrechtliche Ansprüche in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist durch ein unabhängiges und unparteiisches, auf dem Gesetz beruhendes Gericht entschieden wird (vgl. zum ähnlichen Inhalt von Art. 30 BV: AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. 2, Les droits fondamentaux, Bern 2000, Rz. 1191 ff.; JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, Bern 1999, S. 570 f.). Disziplinarstreitigkeiten, die zur Einstellung in der Berufsausübung oder zum Entzug der entsprechenden Bewilligung führen, gelten als zivilrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK (BGE 123 I 87 E. 2a S. 88 f. mit Hinweisen; 125 I 417 E. 2b S. 420; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1999, S. 143; MICHELE DE SALVIA, Compendium de la CEDH, Kehl/Strassburg/Arlington 1998, Rzn. 100 ff. zu Art. 6). Weder zivil- noch strafrechtlicher Natur ist dagegen die Ausfällung einer Disziplinarbusse wegen der Verletzung von Berufspflichten; insofern findet Art. 6 EMRK keine Anwendung (BGE 125 I 417 E. 2b S. 420).
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bb) Als Gericht im Sinne der Menschenrechtskonvention bzw. von Art. 30 Abs. 1 BV gilt eine Behörde, die nach Gesetz und Recht ![]() ![]() | 8 |
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c) aa) Ihre richterliche Natur erscheint indessen mit Blick auf ihre Aufgaben und Funktionen im Aufsichtsbereich über die Rechtsanwälte zweifelhaft: Wie das Bundesgericht im Zusammenhang mit der Bündner Notariatskommission ausgeführt hat, gilt die Streitentscheidung zwischen verschiedenen Parteien als Wesenskern des gerichtlichen Verfahrens. Diese Voraussetzung, welche für die ![]() ![]() | 10 |
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cc) Nach der Praxis der Strassburger Organe ist im Zweifel insbesondere auf den Eindruck ("appearances") abzustellen, den die Behörde nach aussen vermittelt (vgl. VILLIGER, a.a.O., Rz. 412). Dabei fällt - neben den bereits genannten Umständen - vorliegend zusätzlich ins Gewicht, dass jeweils ein instruierendes Mitglied der Aufsichtskommission selber die Untersuchung leitet, der Kommission Antrag stellt und anschliessend an der Entscheidfällung mitwirkt. Zwar ist es im Zivilprozess allgemein üblich und weder konventions- noch verfassungsrechtlich zu beanstanden, dass - auch bereits vor erster Instanz - das instruierende Gerichtsmitglied am Entscheid beteiligt ist. Dabei tritt das Gericht aber von Anfang an als Schlichter zwischen zwei Parteien auf, von denen die eine die andere einklagt; in einer Situation wie hier, wo die Aufsichtskommission auf Anzeige eines Kammerpräsidenten des Obergerichts hin ein Disziplinarverfahren einleitet, gleicht die Tätigkeit des untersuchenden Mitglieds aber eher jener eines Untersuchungsrichters im Strafverfahren, auch wenn es beim Disziplinarverfahren ausschliesslich um ein verwaltungsrechtliches Administrativverfahren und nicht um die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage geht (vgl. BGE 125 I 417 E. 2b S. 420; 120 Ia 184 E. 4f). Dies wird im zürcherischen Recht zusätzlich unterstrichen, soweit das Anwaltsgesetz für die Verfahrensinstruktion auf die Bestimmungen in der Strafprozessordnung verweist (vgl. § 26 Abs. 2 und § 28 AnwG). War es im Lichte von Art. 4 aBV nicht zu beanstanden, wenn das die Untersuchung führende Mitglied einer Disziplinarbehörde hernach auch am Entscheid teilnahm, gilt dies - wie das Bundesgericht bereits festgehalten hat - nicht, soweit die strengeren Anforderungen von Art. 6 EMRK (bzw. Art. 30 Abs. 1 BV) zum Tragen kommen (BGE 123 I 87 E. 4f S. 94 f. mit Hinweisen).
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Erwägung 3 | |
3.- a) Berufsständisch zusammengesetzte Entscheidungsgremien sind konventions- und verfassungsrechtlich unbedenklich, soweit gegen ihren Entscheid ein Rechtsmittel an eine gerichtliche Instanz offen steht, die ihrerseits den Anforderungen von Art. 6 EMRK genügt, was hier grundsätzlich der Fall war (§ 29 AnwG). Auch ist nicht zum Vornherein ausgeschlossen, dass ein berufsständisch oder paritätisch zusammengesetztes Organ selber als unabhängiges und unparteiisches Gericht gelten kann, wenn es funktionell, organisatorisch und verfahrensmässig die Voraussetzungen hierzu erfüllt (BGE 123 I 87 E. 4g S. 95). Da vorliegend indessen nur die Aufsichtskommission eine öffentliche Verhandlung durchgeführt hat, welche nach dem Gesagten im hier interessierenden Zusammenhang nicht als Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK (bzw. Art. 30 Abs. 1 BV) gelten kann, und das Obergericht seinerseits als richterliche Behörde - trotz des entsprechenden Antrags des Beschwerdeführers - hiervon abgesehen hat, verletzt der angefochtene Entscheid die dem Beschwerdeführer aus Art. 6 EMRK (bzw. Art. 30 BV) zustehenden Verfahrensgarantien. Er ist deshalb aufzuheben, ohne dass die weiteren Rügen des Beschwerdeführers noch geprüft werden müssten. Es wird am Obergericht sein, unter Einhaltung der Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK (öffentliche Verhandlung) erneut zu entscheiden. ![]() | 14 |
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