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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 25. April 1997 |
i.S. B. gegen Notariatskommission Graubünden |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Der Entzug einer Bewilligung zur Ausübung des freien Notariats ist eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (E. 2a). |
Die staatsrechtliche Beschwerde kann hier die Funktion einer gerichtlichen Beurteilung nicht übernehmen (E. 3). |
Anforderungen an ein "Gericht" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Vorliegend nicht erfüllt (E. 4). |
Folgen der Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (E. 5). | |
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Dr. iur. B. erlangte 1989 das Bündner Notariatspatent und ist seither in Chur als Notar tätig. Mit Schreiben vom 18. März 1996 ![]() ![]() | 1 |
Mit Beschluss vom 20. Dezember 1996 wies die Notariatskommission die Ausstandsbegehren und Beweisanträge ab und entzog B. das Notariatspatent für die Dauer von zwei Jahren seit Publikation des Beschlusses im Kantonsamtsblatt.
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B. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Beschluss der Notariatskommission aufzuheben und der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut
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Auszug aus den Erwägungen: | |
aus folgenden Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
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a) Der - wenn auch befristete - disziplinarische Entzug der Bewilligung zur Ausübung eines freien Berufes stellt eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar (Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Le Compte et al vom 23. Juni 1981, Série A Nr. 43, § 48 f.; Albert und Le Compte vom 10. Februar 1983, Série A Nr. 58, § 28 f.; Diennet vom 26. September 1995, Série A Nr. 325-A, § 27; BGE 122 II 464 E. 3b S. 467; 109 Ia 217 E. 4a S. 229; RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 48 f., 202). Das gilt auch für die Bewilligung zur Ausübung des Notariats, wenn dieses, wie im Kanton Graubünden, einen freien Beruf darstellt (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts i.S. W. vom 22. November 1993, E. 2c). Der Beschwerdeführer kann sich daher auf die ![]() ![]() | 6 |
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d) Der Beschwerdeführer rügt ferner eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, indem keine unbeschränkte gerichtliche Prüfung des Entscheids der Notariatskommission möglich sei und das Verfahren vor der Kommission den Anforderungen an ein Zivilrechtsverfahren nicht entspreche. Auch die Rüge, der Anspruch auf gerichtliche Beurteilung sei verletzt, muss grundsätzlich bereits im kantonalen Verfahren vorgebracht werden, und zwar in denjenigen Fällen, in denen über die Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1 EMRK eine gefestigte Rechtsprechung besteht, selbst dann, wenn als letzte kantonale Instanz eine nichtrichterliche Behörde entscheidet und geltend gemacht wird, gegen deren Entscheid sollte eine richterliche Beurteilung möglich sein, die nach der massgebenden kantonalen Gesetzgebung noch nicht besteht (BGE 120 Ia 19 E. 2c/bb S. 25 f.; Urteil vom 8. August 1994 i.S. S., publiziert in RDAT 1995 I 45 109, E. 2c/d). Vorliegend hat der Beschwerdeführer in seiner Eingabe vom 2. Dezember 1996 an die Notariatskommission vorgebracht, das Verfahren verletze Art. 6 EMRK, indem keine Trennung von Untersuchung und Erkenntnis vorgenommen werde. Zwar hat er daraus nicht abgeleitet, dass der Entscheid der Notariatskommission einer Überprüfung durch eine gerichtliche Rechtsmittelinstanz unterliegen müsse, sondern nur den Ausstand des untersuchenden Mitglieds beantragt. Doch hat der Beschwerdeführer dadurch mit hinreichender Deutlichkeit bereits im Verfahren vor der Notariatskommission eine entsprechende Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerügt; die Kommission hat sich denn auch in ihrem Entscheid mit dem Vorbringen auseinandergesetzt. Die Rüge ist daher nicht verspätet. ![]() | 9 |
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3.- a) Über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen muss von einem Gericht entschieden werden, das die Anforderungen gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfüllt. Der Entscheid einer Verwaltungsbehörde, die selber diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist zulässig, wenn dagegen ein Rechtsmittel an ein Gericht zulässig ist, welches eine umfassende Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hat (BGE 118 Ia 473 E. 6a/c S. 481 ff.; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Albert und Le Compte vom 10. Februar 1983, Série A Nr. 58, § 29, mit Hinweisen). Nicht verlangt wird eine Ermessenskontrolle durch ein Gericht (BGE 120 Ia 19 E. 4c S. 30; 117 Ia 497 E. 2d/e S. 501 ff.; mit Hinweisen).
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Erwägung 4 | |
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Den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht entsprechen demgegenüber ein Schiedsgericht, welches aus einem Vorsitzenden und je einem Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter besteht (BGE 119 Ia 81 E. 4a S. 85 f.), sowie Schiedskommissionen wie die Eidgenössische Schiedskommission für die Verwertung von Urheberrechten (nicht publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 24. März 1995 i.S. S., E. 2a/bb-cc). In BGE 120 Ia 184 E. 2e S. 188 wurde es als zulässig betrachtet, dass ein und dieselbe Behörde über die Eröffnung eines Strafverfahrens und über die Anordnung von Disziplinarmassnahmen entscheidet.
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- Inspektionen über die Amtsführung der Kreisnotare und der patentierten Notare (Art. 5 NV),
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- Erteilung des Notariatspatents (Art. 9 NV), ![]() | 20 |
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- Entscheid über die Zulassung zur Notariatsprüfung und über das Ergebnis der Prüfung (Art. 15 und 17 NV),
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- Anordnung von Disziplinarmassnahmen gegen Notare (Art. 44 NV),
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- Entzug des Notariatspatents bei Wegfall der Voraussetzungen (Art. 12 Abs. 1 Ziff. 3 NV),
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- Beurteilung von Beschwerden gegen die Amtsführung von Notaren (Art. 46 NV).
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Das Wesen eines gerichtlichen Verfahrens ist die Streitentscheidung zwischen verschiedenen Parteien. Diese Konstellation, die für die streitige Zivilgerichtsbarkeit im herkömmlichen Sinne typisch ist, ergibt sich in der Verwaltungsgerichtsbarkeit - soweit diese über "zivilrechtliche" Ansprüche im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK urteilt - aus einer Gegenüberstellung zwischen der Verwaltung, die eine Verfügung erlassen hat, und demjenigen, der diese anficht. Die Verwaltung und der von der Verfügung Betroffene stehen sich hier als Parteien gegenüber, während das unabhängige Gericht zwischen ihnen entscheidet. Dabei nimmt typischerweise die Verwaltung das öffentliche Interesse wahr, während der Beschwerdeführer seine Privatinteressen verteidigt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde gerade eingeführt und wird in "zivilrechtlichen" Angelegenheiten von Art. 6 EMRK gefordert, um dem Bürger eine unabhängige Beurteilung zwischen dem von der Verwaltung geltend gemachten öffentlichen Interesse und dem Privatinteresse zu ermöglichen.
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Demgegenüber hat die Bündner Notariatskommission generelle und umfassende Aufsichtsbefugnisse; sie entscheidet über die Berufszulassung der Notare, prüft von Amtes wegen deren allgemeine Berufsausübung, führt Inspektionen durch und beschliesst allenfalls die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, das sie selber durchführt und mit einem Disziplinarentscheid abschliesst. Eine Behörde mit solchen Aufgaben und Befugnissen ähnelt funktionell eher einer Verwaltungsbehörde als einer gerichtlichen Instanz. Sie wahrt in einem umfassenden Sinn das öffentliche Interesse an einer ordnungsgemässen Ausübung des Notariats. Wenn sie gegenüber einem Notar eine Inspektion durchführt und ihn allenfalls disziplinarisch bestraft, nimmt sie selber das öffentliche Interesse wahr. Sie steht insoweit dem Notar, der die Rechtmässigkeit dieser ![]() ![]() | 28 |
Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, die Tatsache, dass eine Behörde nebst disziplinarischen auch allgemeine Untersuchungsaufgaben wahrnehme, schliesse nicht notwendigerweise die Qualifikation als Gericht aus. So wurde im Urteil Campbell und Fell vom 28. Juni 1984 (Série A Nr. 80, § 81) ein Board of visitors, welches die Gefängnisse beaufsichtigt und Disziplinarstrafen verhängen kann, als unabhängiges Gericht betrachtet; dabei war jedoch ausschlaggebend, dass diese Behörde eine Mittlerstelle zwischen den Gefängnisinsassen und dem Personal darstellte. Im Entscheid H. vom 30. November 1987 (Série A Nr. 127-B, § 50) hielt der Gerichtshof dafür, dass der belgische Conseil de l'Ordre des avocats, der ähnlich wie die bündnerische Notariatskommission Verwaltungs-, Aufsichts- und Disziplinarkompetenzen kumuliert, nicht allein deswegen nicht als Gericht betrachtet werden kann; im konkreten Fall ging es aber nicht um eine vom Ordre von Amtes wegen verhängte Disziplinarstrafe (die nach der belgischen Regelung bei einer zweiten Instanz innerhalb der Berufsorganisation hätte angefochten werden können), sondern um ein vom Gesuchsteller eingereichtes Gesuch um Wiederzulassung zum Anwaltsberuf.
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f) Vorliegend kommt hinzu, dass ein Mitglied der Notariatskommission selber die Untersuchung leitet, der Kommission Antrag stellt und anschliessend an der Entscheidfällung mitwirkt. Im Bereich des Strafrechts ist es nach gefestigter Praxis unzulässig, wenn ein Untersuchungsrichter an der Beurteilung mitwirkt (BGE 112 Ia 290 und seitherige Praxis, s. BGE 117 Ia 157 E. 2b S. 161). Der Grund für diese Rechtsprechung liegt darin, dass diejenige Person, welche die Untersuchung geführt hat, nicht mehr mit der erforderlichen Unbefangenheit dem Streitgegenstand und dem Angeschuldigten gegenübersteht; auch wenn subjektiv der Untersuchungsrichter die notwendige Unabhängigkeit weiterhin aufbringt, ist eine solche Behördenorganisation geeignet, objektiv Misstrauen hinsichtlich der Unbefangenheit zu begründen (BGE 120 Ia 184 E. 2b S. 187; 117 Ia 157 E. 3c S. 165; 115 Ia 217 E. 4c S. 219; 114 Ia 50 E. 3b S. 55). Die im Strafrecht entwickelten Grundsätze sind freilich nicht unbesehen auf zivilrechtliche Streitigkeiten übertragbar. So ist es im Zivilprozess allgemein üblich und konventionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass - auch bereits vor erster Instanz - das instruierende Gerichtsmitglied an der Entscheidfällung mitwirkt. Dabei ist ![]() ![]() | 30 |
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5.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher insoweit begründet, als eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerügt wird. Der Beschwerdeführer hat die Aufhebung des Beschlusses der Notariatskommission beantragt. Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich rein kassatorisch; davon werden jedoch Ausnahmen gemacht, wenn die blosse Aufhebung des angefochtenen Entscheides nicht geeignet ist, die verfassungsmässige Lage wieder herzustellen (KÄLIN, a.a.O., S. 400 ff.). Der angefochtene Entscheid ist nicht deswegen konventionswidrig, weil das Verfahren vor der Notariatskommission an sich unzulässig wäre, sondern allein deshalb, weil gegen deren Entscheid kein Rechtsmittel an ein Gericht besteht, welches die Anforderungen gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfüllt. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich nicht, den Beschluss der Notariatskommission einfach aufzuheben. Das ginge einerseits weiter, als zur Herstellung der verfassungsmässigen Lage erforderlich ist, wäre andererseits aber auch nicht genügend, um diese herzustellen. Vielmehr ist stattdessen der Kanton Graubünden anzuweisen, dem Beschwerdeführer eine gerichtliche Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur Verfügung zu stellen (vgl. BGE 120 Ia 19 E. 5 S. 31). Da eine solche Instanz im geltenden bündnerischen Recht bisher nicht vorgesehen ist (vgl. Art. 13 Abs. 1 lit. c des Verwaltungsgerichtsgesetzes, in der Fassung vom 25. Juni 1995, wonach die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK oder Art. 98a OG nur gegen Entscheide der Regierung oder kantonaler Departemente, nicht aber der Notariatskommission, vorgesehen ist), kann das Bundesgericht die Angelegenheit nicht selber an die zuständige Instanz überweisen. An sich obliegt es dem kantonalen Gesetzgeber, eine solche Instanz festzulegen. Da aber Art. 6 Ziff. 1 EMRK unmittelbar anwendbar ist, hat der Kanton nötigenfalls auf dem Wege der Verordnungsgebung eine solche Instanz zu bezeichnen, an die alsdann die Angelegenheit zu überweisen sein wird (BGE 121 II 219 E. 2c S. 222; 120 Ia 209 E. 6d S. 215; 119 Ia 88 E. 7 S. 98). Da der angefochtene Entscheid, solange er nicht bei einer gerichtlichen Instanz angefochten werden kann, auf einer insoweit konventionswidrigen Lage beruht, kann er bis zu einer gegenteiligen Anordnung des zuständigen kantonalen Gerichts (sei es als Sachurteil, sei es als vorsorgliche Massnahme) keine Wirkungen entfalten. ![]() | 33 |
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