16. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bundesamt für Justiz und Bundesstrafgericht (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
1C_205/2007 vom 18. Dezember 2007 | |
Regeste | |
Art. 84 BGG; Auslieferung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, Eintretensvoraussetzung des besonders bedeutenden Falles. Auch bei einer Auslieferung kann ein besonders bedeutender Fall nur ausnahmsweise angenommen werden. Besondere Bedeutung des Falles hier bejaht, da Anlass bestand zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Frage der Wirksamkeit diplomatischer Zusicherungen in Bezug auf die menschenrechtskonforme Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat (E. 1.3). Art. 43 BGG; ergänzende Beschwerdeschrift. Nachfrist zur Ergänzung der Beschwerdebegründung in Anbetracht der Schwierigkeit der sich stellenden Fragen ausnahmsweise gewährt (E. 1.6). Art. 42 Abs. 1, Art. 43 und Art. 100 Abs. 2 lit. b BGG; neue Begehren nach Ablauf der Beschwerdefrist. Mit Anträgen, die der Beschwerdeführer bereits in der Beschwerde hätte stellen können, ist er nach Ablauf der Beschwerdefrist (hier: von 10 Tagen) ausgeschlossen. Das Bundesgerichtsgesetz sieht im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen die Möglichkeit einer Nachfrist zur Ergänzung lediglich der Begründung der Beschwerde vor. Neue Begehren können nicht nachgeschoben werden (E. 1.7). Art. 10 Abs. 3 und Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK, Art. 7 und Art. 10 Abs. 1 UNO-Pakt II, Art. 37 Abs. 3 und Art. 80p IRSG; diplomatische Zusicherungen des ersuchenden Staates in Bezug auf die menschenrechtskonforme Behandlung des Verfolgten. Diplomatische Zusicherungen können einen wirksamen Schutz für den Verfolgten darstellen. Bei der Prüfung, ob dies der Fall sei, ist eine Risikobeurteilung vorzunehmen. Im vorliegenden Fall (Auslieferung eines mutmasslichen Wirtschaftsdelinquenten an Russland) Zulässigkeit der Auslieferung unter Einholung diplomatischer Zusicherungen bejaht (E. 6). | |
Sachverhalt | |
Mit Meldung vom 13. September 2006 ersuchte Interpol Moskau gestützt auf einen Haftbefehl des Gerichts Basmanny vom 3. Mai 2006 um Verhaftung von X. zwecks Auslieferung.
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Am 22. Dezember 2006 wurde X. in der Schweiz verhaftet und in provisorische Auslieferungshaft versetzt. Nachdem er sich mit seiner vereinfachten Auslieferung an die Russische Föderation nicht einverstanden erklärt hatte, erliess das Bundesamt für Justiz (im Folgenden: Bundesamt) am 28. Dezember 2006 einen Auslieferungshaftbefehl. Die von X. dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesstrafgericht (I. Beschwerdekammer) am 25. Januar 2007 ab. Hiergegen führte X. Beschwerde beim Bundesgericht. Dieses wies die Beschwerde am 30. März 2007 ab (1A.37/2007).
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Mit Note vom 4. Januar 2007 übermittelte die Botschaft der Russischen Föderation dem Bundesamt das Auslieferungsersuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft vom 25. Dezember 2006.
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Am 9. März 2007 bewilligte das Bundesamt die Auslieferung von X. an Russland für die dem Auslieferungsersuchen vom 25. Dezember 2006 zugrunde liegenden Straftaten; dies unter der Bedingung, dass die zuständigen russischen Behörden folgende Garantie abgeben:
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"Die Haftbedingungen dürfen nicht unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK sein; die physische und psychische Integrität der ausgelieferten Person muss gewahrt sein (vgl. auch Art. 7, 10 und 17 des UNO-Pakts II). Die Gesundheit des Häftlings muss in angemessener Weise sichergestellt werden, insbesondere mittels Zugang zu genügender medizinischer Versorgung. Die diplomatische Vertretung der Schweiz ist ![]() ![]() | |
Die von X. dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesstrafgericht (II. Beschwerdekammer) am 5. Juli 2007 im Sinne der Erwägungen ab. Es wies das Bundesamt an, den zuständigen russischen Behörden nach Erhalt des bundesstrafgerichtlichen Entscheids umgehend eine Frist von maximal 30 Tagen für die Abgabe der förmlichen Garantieerklärung gemäss dem Auslieferungsentscheid vom 9. März 2007 anzusetzen.
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Mit Eingabe vom 16. Juli 2007 erhob X. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der vorliegende Fall sei als besonders bedeutend im Sinne von Art. 84 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG; SR 173.110) einzustufen; dem Beschwerdeführer sei eine angemessene Frist zur Ergänzung der Beschwerdeschrift gemäss Art. 43 BGG einzuräumen; die Entscheide des Bundesstrafgerichtes und des Bundesamtes seien aufzuheben; die Auslieferung sei abzulehnen; der Beschwerdeführer sei freizulassen und es sei ihm die freie Ausreise zu gestatten.
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Das Bundesamt hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, der vorliegende Fall sei nicht als besonders bedeutend im Sinne von Art. 84 BGG einzustufen.
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X. hat zur Vernehmlassung des Bundesamtes eine Stellungnahme eingereicht. Darin beantragt er neu eventualiter, dass die Schweiz das strafrechtliche Verfahren gegen ihn durchführe (stellvertretende Strafverfolgung).
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Am 15. August 2007 teilte das Bundesgericht den Parteien mit, dass kein Nichteintretensentscheid im Sinne von Art. 109 Abs. 1 BGG ergehe und der Fall deshalb im ordentlichen Verfahren gemäss Art. 20 BGG behandelt werde.
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Gleichentags gewährte das Bundesgericht X. in Anwendung von Art. 43 BGG eine nicht erstreckbare Nachfrist bis zum 5. September 2007 für die Einreichung einer ergänzenden Beschwerdeschrift.
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Am 5. September 2007 reichte X. dem Bundesgericht die ergänzende Beschwerdeschrift ein.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit es darauf eintritt, im Sinne der Erwägungen ab. ![]() | |
Erwägung 1 | |
Erwägung 1.3 | |
Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (BGE 133 IV 131 E. 3 S. 132, BGE 133 IV 132 E. 1.3 S. 134). Bei der Beantwortung der Frage, ob ein besonders bedeutender Fall gegeben ist, steht dem Bundesgericht ein weiter Ermessensspielraum zu (Urteil 1C_138/2007 vom 17. Juli 2007, E. 2.1, mit Hinweis).
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Wie unten (E. 6.2) näher darzulegen sein wird, besteht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer in russischer Haft einer Art. 3 EMRK ![]() ![]() | |
Hinzu kommt, dass - wie die folgenden Darlegungen (E 6.14) ebenfalls zeigen werden - die von den russischen Behörden einzuholenden Zusicherungen in Präzisierung des Auslieferungsentscheids des Bundesamtes jedenfalls so formuliert werden können, dass der Schutz des Beschwerdeführers vor einer menschenrechtswidrigen Behandlung verstärkt wird.
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Bereits aus diesen Gründen ist die besondere Bedeutung des vorliegenden Falles im Sinne von Art. 84 BGG zu bejahen. Ob - wie der Beschwerdeführer geltend macht - allenfalls noch weitere Gesichtspunkte dafür sprächen, den Fall an die Hand zu nehmen, kann damit offenbleiben.
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(...)
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Der Beschwerdeführer hat in seiner Eingabe vom 16. Juli 2007 auf 38 Seiten begründet, weshalb seiner Ansicht nach ein besonders bedeutender Fall gegeben sei. Diese Ausführungen sind sachbezogen und trotz ihres erheblichen Umfangs nicht weitschweifig. Er kritisiert insbesondere - mit dem Ziel der Herbeiführung eines bundesgerichtlichen Grundsatzentscheides dazu - eingehend und in Auseinandersetzung mit Stellungnahmen verschiedener Organisationen die ![]() ![]() | |
In der Eingabe vom 16. Juli 2007 hat der Beschwerdeführer keinen Eventualantrag gestellt, die Schweiz solle das Strafverfahren gegen ihn durchführen (stellvertretende Strafverfolgung). Er tat dies erst in der Stellungnahme vom 9. August 2007 zur Vernehmlassung des Bundesamtes; sodann erneut in der ergänzenden Beschwerdebegründung vom 5. September 2007.
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Der Eventualantrag ist damit verspätet. Mit Anträgen, die der Beschwerdeführer bereits in der Beschwerde hätte erheben können, ist er nach Ablauf der Beschwerdefrist ausgeschlossen (BGE 132 I 42 E. 3.3.4 S. 47 mit Hinweisen). Gemäss Art. 100 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 lit. b BGG ist die Beschwerde gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen innert zehn Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerde muss nach Art. 42 Abs. 1 BGG insbesondere die Begehren und deren Begründung enthalten. Art. 43 BGG sieht lediglich die Möglichkeit einer Nachfrist zur Ergänzung der Begründung der Beschwerde vor. Neue Begehren können nicht nachgeschoben werden.
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Auf den Eventualantrag kann daher nicht eingetreten werden.
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(...)
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Erwägung 6 | |
6.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, in Russland drohe ihm eine menschenrechtswidrige Behandlung in der Untersuchungshaft und im allfälligen Strafvollzug. Aufgrund einer Erkrankung hätten ihm ![]() ![]() | |
6.2 Wie das Bundesgericht bereits festgestellt hat, lässt die Menschenrechtslage in Russland zu wünschen übrig. Sie gibt sogar - besonders in Tschetschenien - zu schwerer Beunruhigung Anlass (BGE 126 II 324 E. 4e S. 328). Das Bundesgericht hat sich insbesondere mehrfach zu den prekären Verhältnissen in den russischen Untersuchungshaft- und Strafanstalten geäussert (BGE 123 II 161 E. 6e und f S. 168 ff.). Die medizinische Betreuung ist dort im Allgemeinen mangelhaft. Die Sterblichkeitsrate ist hoch (Urteile 1A.17/2005 vom 11. April 2005, E. 3.4; 1A.118/2003 vom 26. Juni 2003, E. 4.2, mit Hinweis). Die Zellen sind stark überbelegt, die hygienischen Verhältnisse in der Regel deplorabel. Es gibt viele Gefangene, die an Tuberkulose leiden oder HIV-positiv sind (Urteil 1A.118/2003 vom 26. Juni 2003, E. 4.3).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in zahlreichen Fällen eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch Russland aufgrund der dortigen Verhältnisse im Haftvollzug festgestellt; dies insbesondere wegen der starken Überbelegung der Zellen (Urteile i.S. Frolov gegen Russland vom 29. März 2007, Ziff. 43 ff. mit Hinweisen; ![]() ![]() | |
Wie insbesondere aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes zu schliessen ist, stellen die prekären Bedingungen im russischen Haftvollzug ein strukturelles Problem dar, das nicht nur in einzelnen Anstalten besteht (Urteil 1A.118/2003 vom 26. Juni 2003, E. 4.3). Damit ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Auslieferung der Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstossenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Das nimmt zu Recht auch die Vorinstanz an.
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6.3 Die Schweiz prüft die Auslieferungsvoraussetzungen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1) auch im Lichte ihrer grundrechtlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen. Nach Völkerrecht - wie auch schweizerischem Landesrecht - sind Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung verboten (Art. 3 EMRK und Art. 7 sowie Art. 10 Abs. 1 UNO-Pakt II [SR 0.103.2], Art. 10 Abs. 3 BV). Niemand darf in einen Staat ausgeliefert werden, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht (Art. 25 Abs. 3 BV; BGE 133 IV 76 E. 4.1 mit Hinweisen).
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Bei heiklen Konstellationen bestehen die schweizerischen Behörden beim ersuchenden Staat regelmässig auf förmliche Garantieerklärungen bezüglich der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Bei Auslieferungsfällen - auch in solchen, in denen das Europäische Auslieferungsübereinkommen anwendbar ist - kann der ersuchende Staat in einem konkreten Einzelfall zur Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien als Bedingung für eine Auslieferung ausdrücklich verpflichtet werden. Dies gilt namentlich für die Zulassung unangemeldeter Haftbesuche und die Beobachtung des Strafverfahrens durch Vertreter der Botschaft des ersuchten Staates (BGE 133 IV 76 E. 4.5 S. 88 f. mit Hinweisen).
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![]() - der Türkei (BGE 133 IV 76 E. 4; BGE 122 II 373 E. 2d S. 380; Urteil 1A.13/2007 vom 9. März 2007, E. 3); - Kasachstan (BGE 123 II 511 E. 6c S. 522 f.); - Tunesien (BGE 111 Ib 138 E. 6 S. 145 ff.); - Georgien (Urteil 1A.172/2006 vom 7. November 2006, E. 5 nicht publ. in BGE 132 II 469); - Serbien und Montenegro (Urteil 1A.4/2005 vom 28. Februar 2005, E. 4 nicht publ. in BGE 131 II 235); - der Bundesrepublik Jugoslawien (Urteil 1A.93/2002 vom 15. Mai 2002, E. 6); - Albanien (Urteil 1A.149/2004 vom 20. Juli 2004, E. 4); - Mexiko (Urteile 1A.149/1999 vom 9. September 1999, E. 8b; 1A.159/1997 vom 30. Juli 1997, E. 3); - Indien (Urteil 1A.184/1997 vom 16. September 1997, E. 4). | |
Im Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Chahal gegen Vereinigtes Königreich vom 15. November 1996 (Recueil CourEDH 1996-V S. 1831) ging es um die Ausweisung eines separatistischen ![]() ![]() | |
In einem gemeinsamen Aufruf vom 2. Dezember 2005 an die Mitglieder des Europarates legen Amnesty International, Human Rights Watch und die International Commission of Jurists dar, der ausliefernde Staat erzwinge mit diplomatischen Zusicherungen eine Ausnahme von der Folterpraxis im Empfängerstaat in einem Einzelfall. Damit werde die Folter von anderen Gefangenen im Empfängerstaat akzeptiert. Wenn ein Staat mit diplomatischen Zusicherungen eine "Insel der Legalität" im Empfängerstaat schaffe, komme das dem Eingeständnis gefährlich nahe, dass er den "Ozean des Missbrauchs", der diese Insel umgebe, akzeptiere. Diplomatische Zusicherungen hätten nicht funktioniert und nichts berechtige zur Annahme, dass die Verbesserung und Perfektionierung solcher Garantien einen adäquaten Schutz gegen Folter und andere menschenrechtswidrige Behandlung herbeiführen könnte (Reject rather than regulate, Call on Council of Europe member states not to establish minimum standards for the use of diplomatic assurances in transfers to risk of torture and other ill-treatment, S. 2).
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In einem Bericht vom März 2007 (The "Stamp of Guantanamo", The Story of Seven Men Betrayed by Russia's Diplomatic Assurances to the United States) schildert Human Rights Watch das Schicksal von sieben russischen Gefangenen, die in Guantanamo inhaftiert waren ![]() ![]() | |
Kritisch zu den diplomatischen Garantien geäussert hat sich auch die Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen in einem Vortrag vom 16. Februar 2006. Sie bemerkt insbesondere, es sei schwer anzunehmen, dass eine Regierung, die sich nicht an bindendes Recht wie das Folterverbot halte, sich an rechtlich nicht bindende zweiseitige zwischenstaatliche Abmachungen halte, welche sich einzig auf Vertrauen stützten (Address by Louise Arbour, UN High Commissioner for Human Rights, at Chatham House and the British Institute of International and Comparative Law).
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MARTINA CARONI führt aus, aus menschenrechtlicher Sicht müsse die Tauglichkeit von diplomatischen Zusicherungen als wirksamer Schutz vor Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Bestrafung verneint werden. Das Folterverbot gelte absolut. Personen, bei denen stichhaltige Gründe für die Annahme vorlägen, dass sie im Falle einer Auslieferung der tatsächlichen Gefahr von Folter oder unmenschlicher bzw. erniedrigender Behandlung ausgesetzt würden, dürften unter keinen Umständen ausgeliefert werden. Die Staaten könnten sich nicht durch das Einholen diplomatischer Zusicherungen dieser Verantwortlichkeit entziehen. Auch wenn diplomatische Zusicherungen völkerrechtlich bindend seien, sei doch die Möglichkeit eines Staates, auf die Einhaltung der abgegebenen Garantien hinzuwirken, relativ beschränkt. Die Praxis zeige, dass sich die Staaten keineswegs immer an die abgegebenen Versprechen hielten (Menschenrechtliche Wegweisungsverbote: Neuere Praxis, in: Jahrbuch für Migrationsrecht 2006/2007, Bern 2007, S. 59 f.).
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PETER POPP bemerkt, Art. 2 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG; SR 351.1), wonach einem Ersuchen zur Zusammenarbeit in Strafsachen nicht entsprochen wird, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass das Verfahren im Ausland den in der EMRK oder im UNO-Pakt II festgelegten Verfahrensgrundsätzen widerspricht, sehe die Verweigerung zwingend vor; es handle sich um keine Kann-Vorschrift. Zwar sei die Gewährung von Rechtshilfe unter Auflagen ein minus in der Perspektive des ersuchenden Staates. Indessen sei ratio legis nicht der ![]() ![]() | |
ROBERT ZIMMERMANN stimmt der Praxis der Einholung diplomatischer Zusicherungen demgegenüber offenbar zu. Er bemerkt unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, die Einholung genauer und hinreichender Garantien in Bezug auf die Haftbedingungen könne den ersuchten Staat vom Vorwurf einer Verletzung von Art. 3 EMRK schützen (La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 2. Aufl., Bern 2004, S. 458 N. 420, insb. Fn. 657).
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Am 4. April 2007 antwortete Bundespräsidentin Calmy-Rey Human Rights Watch, der Rückgriff auf diplomatische Garantien gegen die Anwendung von Folter im Rahmen der Überstellung von Personen in andere Länder könne insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz des non-refoulement problematisch sein. Diese Position habe die Schweiz sowohl im Europarat als auch in den Vereinten Nationen vertreten und habe sich nicht geändert. Den Rückgriff auf diplomatische Zusicherungen zur Umgehung des absoluten Folterverbots habe die Schweiz stets verurteilt; dies auch im gegenwärtigen Zusammenhang des Kampfes gegen den Terrorismus. In Bezug auf die schweizerische Praxis müsse unterschieden werden zwischen Fällen der Ausweisung und der Auslieferung. Diplomatische Zusicherungen seien ein angemessenes Mittel nur in Fällen der Auslieferung, da der ersuchende Staat ein starkes Interesse an der Beachtung solcher Zusicherungen habe. Falls dieser eine Zusicherung missachte, würde er die weitere Zusammenarbeit auf diesem Gebiet gefährden. In Fällen der Ausweisung aufgrund der Gesetzgebung über Asyl und ![]() ![]() | |
Dann gibt es Fälle, in denen zwar ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Verfolgte im ersuchenden Staat einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt sein könnte, dieses Risiko aber mittels diplomatischer Garantien behoben oder jedenfalls auf ein so geringes Mass herabgesetzt werden kann, dass es als nur noch theoretisch erscheint. Ein solches theoretisches Risiko einer ![]() ![]() | |
Schliesslich gibt es Fälle, in denen das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung auch mit diplomatischen Zusicherungen nicht auf ein Mass herabgesetzt werden kann, dass es als nur noch theoretisch erscheint. Als Beispiel kann auf das (E. 6.5) erwähnte Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Chahal gegen Vereinigtes Königreich verwiesen werden.
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6.8 Für die Beantwortung der Frage, in welche Kategorie der Einzelfall gehört, ist eine Risikobeurteilung vorzunehmen. Dabei ist zunächst die allgemeine menschenrechtliche Situation im ersuchenden Staat zu würdigen. Sodann - und vor allem - ist zu prüfen, ob der Verfolgte selber aufgrund der konkreten Umstände seines Falles der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt wäre (BGE 117 Ib 64 E. 5f S. 91; BGE 115 Ib 68 E. 6 S. 87; Urteil 1A.184/ 1997 vom 16. September 1997, E. 4d). Dabei spielt insbesondere eine Rolle, ob er gegebenenfalls zu einer Personengruppe gehört, die im ersuchenden Staat in besonderem Masse gefährdet ist.
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6.10 Gemäss Art. 37 Abs. 3 IRSG wird die Auslieferung abgelehnt, wenn der ersuchende Staat keine Gewähr bietet, dass (...) der Verfolgte nicht einer Behandlung unterworfen wird, die seine körperliche Integrität beeinträchtigt. Daraus folgt e contrario, dass die Auslieferung zu bewilligen ist, wenn der ersuchende Staat eine als verlässlich ![]() ![]() | |
Art. 11 EAUe sieht die Bewilligung der Auslieferung vor gegen die Zusicherung des ersuchenden Staates, dass er keine Todesstrafe vollstreckt. Ebenso kann gemäss Art. 3 Ziff. 1 Satz 2 des Zweiten Zusatzprotokolls vom 17. März 1978 zum EAUe (SR 0.353.12) der ersuchte Staat die Auslieferung bewilligen gegen die Zusicherung des ersuchenden Staates, wonach dieser dem in Abwesenheit Verurteilten das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren gewährleistet, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Die hier anwendbaren internationalen Abkommen sehen somit die Einholung von diplomatischen Zusicherungen vor. Es ist nicht ersichtlich, weshalb Letzteres nicht auch zulässig sein sollte, soweit es um das Verbot der Folter oder anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung geht.
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Er beruft sich auf den Fall von sieben Gefangenen, die nach einem Bericht von Human Rights Watch vom März 2007 von Guantanamo nach Russland überstellt und dort entgegen der von den russischen Behörden den Vereinigten Staaten abgegebenen Zusicherung misshandelt worden seien. Wie sich dem Bericht von Human Rights Watch entnehmen lässt, handelt es sich bei den sieben Betroffenen um Moslems, die zunächst von den Streitkräften der Vereinigten Staaten in Afghanistan und Pakistan gefangen gehalten wurden. Dabei ging es um die Bekämpfung des Terrorismus. Ein solcher Hintergrund besteht im vorliegenden Fall nicht. Dem Beschwerdeführer werden gemeinrechtliche Wirtschaftsdelikte vorgeworfen. Dies ist bei der Risikobeurteilung zu berücksichtigen. ![]() | |
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Die Vorinstanzen verlangen von den zuständigen russischen Behörden die Abgabe folgender Zusicherung:
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"Die Haftbedingungen dürfen nicht unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK sein; die physische und psychische Integrität der ausgelieferten Person muss gewahrt sein (vgl. auch Art. 7, 10 und 17 des UNO-Pakts II). Die Gesundheit des Häftlings muss in angemessener Weise sichergestellt werden, insbesondere mittels Zugang zu genügender medizinischer Versorgung. Die diplomatische Vertretung der Schweiz ist berechtigt, die ausgelieferte Person ohne jegliche Überwachungsmassnahmen zu besuchen. Die ausgelieferte Person hat jederzeit das Recht, sich an diese zu wenden." ![]() | |
6.14.1 Nach der von den Vorinstanzen verlangten Zusicherung hat der Beschwerdeführer jederzeit das Recht, sich an die diplomatische Vertretung der Schweiz zu wenden; diese ist berechtigt, den Beschwerdeführer ohne jegliche Überwachungsmassnahmen zu besuchen. In der Zusicherung wird aber nicht ausdrücklich verlangt, dass die diplomatische Vertretung der Schweiz das Recht haben muss, den Beschwerdeführer jederzeit und unangemeldet zu besuchen. Eine solche Zusicherung ist nach der Rechtsprechung erforderlich (BGE 133 IV 76 E. 4.8 S. 91; BGE 123 II 511 E. 6c S. 523; Urteile 1A.4/2005 vom 28. Februar 2005, E. 4.3 und 4.6 nicht publ. in BGE 131 II 235; 1A.149/2004 vom 20. Juli 2004, E. 4.3; 1A.118/2003 vom 26. Juni 2003, E. 4.4; 1A.75/1993 vom 18. März 1994, E. 5b; 1A.195/1991 vom 19. März 1992, E. 5e). Die von den russischen Behörden einzuholende Zusicherung ist entsprechend zu präzisieren. So kann vermieden werden, dass die schweizerische diplomatische Vertretung gegebenenfalls so lange hingehalten wird, bis Spuren einer menschenrechtswidrigen Behandlung beseitigt sind.
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6.14.2 Von den russischen Behörden ist zudem zu verlangen, dass sie der schweizerischen diplomatischen Vertretung den Ort der Inhaftierung des Beschwerdeführers bekannt geben und sie die schweizerische Vertretung über eine allfällige Verlegung des Beschwerdeführers in ein anderes Gefängnis unverzüglich orientieren. Diese Garantie ist von Bedeutung in Anbetracht der Grösse des russischen Staatsgebietes. Die schweizerische diplomatische Vertretung muss jederzeit wissen, wo sie den Beschwerdeführer finden kann. Die Rechtsprechung hat bereits in früheren Fällen eine entsprechende Garantie verlangt (BGE 122 II 373 E. 2d S. 380; Urteile 1A.172/2006 vom 7. November 2006, E. 5.2 nicht publ. in BGE 132 II 469; 1A.75/1993 vom 18. März 1994, E. 5b).
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6.14.3 Im Weiteren ist die Auslieferung von der Zusicherung abhängig zu machen, dass der Beschwerdeführer das Recht hat, mit seinem Wahl- oder Offizialverteidiger uneingeschränkt und unbewacht zu verkehren (ebenso BGE 133 IV 76 E. 4.2 S. 86 und E. 4.7 S. 90 f.; Urteile 1A.13/2007 vom 9. März 2007, E. 3.5; 1A.172/2006 vom 7. November 2006, E. 5.2 nicht publ. in BGE 132 II 469; 1A.184/ 1997 vom 16. September 1997, E. 4e und 4f).
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Gemäss Art. 80p Abs. 1 IRSG kann auch die Rechtsmittelinstanz, hier also das Bundesgericht, die Gewährung der Rechtshilfe an Auflagen knüpfen. Das Bundesamt wird der zuständigen russischen Behörde eine angemessene Frist für die Abgabe der präzisierten diplomatischen Zusicherungen anzusetzen haben. In der Folge wird das Bundesamt nach Art. 80p Abs. 3 IRSG zu prüfen haben, ob die Antwort der russischen Behörde den verlangten Auflagen genügt. Die entsprechende Verfügung des Bundesamts kann gemäss Art. 80p Abs. 4 Satz 1 IRSG bei der Vorinstanz angefochten werden. Die Beschwerde dagegen an das Bundesgericht ist ausgeschlossen (Art. 80p Abs. 4 Satz 2 IRSG; BGE 133 IV 134).
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6.16 Das Bundesamt wird in enger Zusammenarbeit mit dem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sicherzustellen haben, dass die schweizerische diplomatische Vertretung die Einhaltung der Garantien durch Russland überwacht (BGE 123 II 511 E. 7c am Schluss S. 525; Urteil 1A.4/2005 vom 28. Februar 2005, E. 4.6 nicht publ. in BGE 131 II 235). ![]() |