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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Marcel Schröer, A. Tschentscher | |||
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Dem zuständigen Minister steht bei der Beurteilung des öffentlichen Interesses an der Allgemeinverbindlichkeit ein weites normatives Ermessen zu Die rechtlichen Grenzen dieses Ermessens sind erst dann überschritten, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung und der hiernach zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen - einschließlich der Interessen der Tarifvertragsparteien - schlechthin unvertretbar oder unverhältnismäßig ist. |
Art. 9 Abs. 3, 19 Abs. 4, 93 Abs. 1 Nr. 2. 100 Abs. 1 GG; TVG § 5; DVO-TVG § 7 VwGO §§ 40, 43, 47, 113 Abs. 1 Satz 4; VwVfG § 35 |
Urteil |
des 7. Senats vom 3. November 1988 - |
- BVerwG 7 C 115.86 - |
I. Verwaltungsgericht Stuttgart II. Verwaltungsgerichtshof Mannheim | |
Die Parteien streiten um die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen über Lohn, Urlaubsgeld und Vergütung für Auszubildende, die die klagende Gewerkschaft mit den beigeladenen Arbeitgeberverbänden abgeschlossen hat. Die Tarifverträge traten mit Ausnahme der Urlaubsgeld abkommen rückwirkend in Kraft.
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Dem von der Klägerin gemeinsam mit den beigeladenen Arbeitgeber verbänden beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg gestellten Antrag, die Tarifverträge vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an für allgemeinverbindlich zu erklären, gab das Ministerium insoweit statt, als es die Lohntarifverträge mit Wirkung vom Tage der Bekanntmachung des Antrags für allgemeinverbindlich erklärte. Die Urlaubsgeldabkommen und die Tarifverträge über die Vergütung für Auszubildende wurden nicht für allgemeinverbindlich erklärt, weil die Allgemeinverbindlicherklärung dieser Verträge nicht im öffentlichen Interesse geboten erscheine. Der beantragten rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung der Lohntarifverträge stünden Gründe des Vertrauensschutzes entgegen. ![]() | 2 |
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Aus den Gründen: | |
1. Die Parteien streiten darum, ob das beklagte Land die im Antrag der Klägerin genannten Tarifverträge gemäß § 5 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) uneingeschränkt für allgemeinverbindlich erklären mußte. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 44, 322 [340 ff.]; 55, 7 [24]; 64, 208 [215]) ist die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ein Akt der Rechtsetzung, der darauf abzielt, auch die nicht organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sogenannten Außenseiter, den Bestimmungen des Tarifvertrags zu unterwerfen. Mit ihr nimmt der Staat die Rechtsregeln, die die Tarifvertragsparteien für ihre Mitglieder durch Vertrag geschaffen haben, in seinen Willen auf und dehnt die Verbindlichkeit dieser Regeln auf Personen aus, die bisher vom Tarifvertrag nicht erfaßt wurden. Als "staatlicher Hoheitsakt" (BVerfGE 44, 322 [344]) unterfällt die Allgemeinverbindlicherklärung dem öffentlichen Recht. Deshalb ist auch über den von der Klägerin verfolgten Anspruch auf Erlaß der Allgemeinverbindlicherklärung nach Maßgabe öffentlichen Rechts zu entscheiden.
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Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit liegt nicht vor. Sie wäre nur dann zu bejahen, wenn die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlicher Normen den eigentlichen Kern des Rechtsstreits bilden würde oder - anders ausgedrückt - wenn das streitige Rechtsverhältnis entscheidend vom Verfassungsrecht geformt wäre (Senatsurteil vom 11. Juli 1985 - BVerwG 7C 64.83 -, NJW 1985, 2344; Senatsbeschluß vom 5. Februar 1976 -, BVerwGE 50, 124 [130]). Das ist hier nicht der Fall.
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Grundlage des von der Klägerin verfolgten Anspruchs ist § 5 TVG, also eine Norm des einfachen Rechts, nicht des Verfassungsrechts. Daß die Verfassung in ihrem Artikel 9 Abs. 3 eine gesetzliche Regelung des Tarifvertragsrechts fordert (vgl. BVerfGE 50, 290 [369]; 58, 233 [248 f.]) und daß das Tarifvertragsgesetz deshalb im Lichte dieser verfassungsrechtlichen Bestimmungen ausgelegt werden muß, ist ohne Bedeutung. Denn ein Rechtsverhältnis, das wie das hier streitige nicht selbst unmittelbar dem Ver ![]() ![]() | 6 |
Auch der Umstand, daß die Klägerin, wie sich aus dem zur Rechtsnatur der Allgemeinverbindlicherklärung Gesagten ergibt, einen Anspruch auf staatliche Rechtsetzung geltend macht, führt nicht zur Annahme einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit. Zwar ist das Verfahren zur Entscheidung über die Rechtsgültigkeit eines förmlichen nachkonstitutionellen Bundes oder Landesgesetzes den Verfassungsgerichten des Bundes oder der Länder vorbehalten (BVerfGE 70, 35 [55]). Dementsprechend kann auch der Anspruch eines Bürgers auf Erlaß eines förmlichen Gesetzes, soweit ein solcher Anspruch besteht, nur vor den Verfassungsgerichten durchgesetzt weiden (BVerwGE 75, 330 [334]). Die Klägerin verfolgt jedoch keinen Anspruch auf Erlaß eines förmlichen Gesetzes durch den Bundes- oder Landesgesetzgeber, sondern einen Anspruch auf Erlaß einer Rechtsnorm mit Rang unterhalb des Gesetzes durch die zuständige oberste Landesbehörde Der Rang der Rechtsnorm, um die gestritten wird, ist für die Frage nach dem einzuschlagenden Rechtsweg von entscheidender Bedeutung: Betrifft der Streit die Gültigkeit oder den Erlaß eines förmlichen Gesetzes, so sind die Verfassungsgerichte zur Entscheidung berufen, denn über eine Verletzung der Verfassung durch den zu ihrer Beachtung verpflichteten Gesetzgeber haben allein sie zu entscheiden (BVerfGE 10, 124 [127 f.]; 70, 35 [67 -abweichende Meinung Steinberger -]). Dagegen ist die gerichtliche Kontrolle der Exekutive, auch soweit sie rechtsetzend tätig wird, Aufgabe der Verwaltungsgerichte (BVerfGE 68, 319 [325 f.]; BVerfG, Beschluß vom 18. Dezember 1985 - 2 BvR 1167/87 u.a. - NJW 1986, 1483). Aus diesem Grund dürfen die Verwaltungsgerichte, wenn es für die Entscheidung über ![]() ![]() | 7 |
Da der vorliegende Rechtsstreit überdies auch nicht einem anderen Gericht zugewiesen ist - der Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags wird von der Zuständigkeit der Arbeitsgerichte nach §§ 2, 2 a des Arbeitsgerichtsgesetzes nicht erfaßt -, ist für ihn gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet.
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2. Das Berufungsgericht äußert im Hinblick darauf, daß die Klägerin einen Anspruch auf Erlaß einer Rechtsnsorm verfolgt, Zweifel, ob die in § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO gewährleistete verwaltungsgerichtliche Kontrolle sich auch auf Ansprüche dieser Art erstreckt. Diese Zweifel sind nicht begründet.
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a) Allerdings hat der Senat in seinem vom Berufungsgericht erwähnten Urteil vom 26. Januar 1962, BVerwGE 13, 328 [329], ausgesprochen, der Erlaß einer inhaltlich Normcharakter tragenden Regelung könne nicht im Verwaltungsrechtsweg erzwungen werden, denn die Träger der Staatsgewalt würden in den der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung unterliegenden öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten allein in ihren Verwaltungsfunktionen vor Gericht gezogen. Dem liegt ersichtlich die Vorstellung zugrunde, daß der Erlaß von Rechtsnormen dem Wohl der Allgemeinheit, nicht der Erfüllung von Individualansprüchen dient und daß deshalb weder ein Anlaß noch die Notwendigkeit besteht, solche Ansprüche im Rechtsweg durchzusetzen.
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Die der zitierten Senatsrechtsprechung zugrundeliegende Prämisse erweist sich bei erneuter Überprüfung als nicht hinreichend tragfähig. Es ist zwar richtig, daß Individualansprüche auf oder beim Erlaß von Rechtsnormen wegen der Eigenart der rechtsetzenden Tätigkeit des Staates im allgemeinen nicht bestehen; sie sind aber, wie der vorliegende Fall verdeutlicht, ![]() ![]() | 11 |
Rechtsnormen enthalten - typischerweise - abstrakt-generelle Regelungen und werden mit diesem Regelungsinhalt im Interesse der Allgemeinheit erlassen. Das schließt indes nicht die Möglichkeit aus, daß der einzelne durch die Norm begünstigte Bürger einen Anspruch auf ihren Erlaß hat Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann sich aus den Grundrechten ein Anspruch des Bürgers auf Erlaß eines ihn begünstigenden förmlichen Gesetzes ergeben, wenn dem betreffenden Grundrecht ein bestimmter Handlungsauftrag an den Gesetzgeber zu entnehmen ist; letzteres ist freilich wegen der prinzipiellen Freiheit des Gesetzgebers, ob und wie er von seinen Gesetzgebungsbefugnissen Gebrauch macht, nur ausnahmsweise möglich (BVerfG, NJW 1987, 2287 mit weiteren Nachweisen; zum Anspruch des Bürgers aus Art. 7 Abs. 4 GG auf Erlaß eines Ersatzschulfinanzierungsgesetzes: BVerfGE 75, 40 [56 ff.] und Senatsurteil vom 17. März 1988 - BVerwGE 79, 154 [156 f.]). Ebenso ist es denkbar, daß die Grundrechte dem Bürger einen Anspruch auf Erlaß einer untergesetzlichen Rechtsnorm vermitteln. Auch aufgrund eines einfachen Gesetzes können dem Bürger Ansprüche auf oder beim Erlaß von Rechtsverordnungen, Satzungen oder anderen untergesetzlichen Rechtsnormen zustehen. Es gibt keinen Satz des Verfassungsrechts, der dem Gesetzgeber die Begründung solcher Ansprüche verbietet. Das gilt um so mehr deswegen, weil die Handlungsform des Verwaltungsakts - innerhalb gewisser Grenzen - gegen diejenige der Rechtsnorm austauschbar ist, also Einzelfallregelungen im Gewand von Rechtsnormen ergehen können (vgl. BayVGH, BayVBl. 1980, 209 [211] mit Anmerkung Würtenberger, BayVBl. 1980, 662). In Betracht kommt sowohl die Begründung von Befugnissen zur Mitwirkung am Rechtsetzungsverfahren (Antragsrechte, Anhörungsrechte oder dgl.) als auch die von materiellen Rechten bis hin zum strikten Anspruch auf Erlaß einer bestimm ten Rechtsnorm. ![]() | 12 |
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b) Das Berufungsgericht bezieht sich zur Begründung seiner Zweifel an der Möglichkeit einer verwaltungsgerichtlichen "Normerlaßklage" auch ![]() ![]() ![]() ![]() | 14 |
3. Im vorliegenden Fall ist zwar nicht die von der Klägerin für richtig gehaltene sogenannte Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend §113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, wohl aber eine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO die geeignete und zulässige Klageart.
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a) Mit der Fortsetzungsfeststellungsklage kann die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts begehrt werden. Sie ist hier deshalb nicht einschlägig, weil die von der Klägerin angegriffene Entscheidung des baden-württembergischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung kein Verwaltungsakt ist. Daß die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags und auch die Ablehnung eines hierauf gerichteten Antrags einer Tarifvertragspartei keine Verwaltungsakte sind, hat der Senat bereits in BVerwGE 7, 82 und 188 entschieden. Hieran ist - insoweit in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht - festzuhalten. Wie ![]() ![]() | 16 |
Allein das Antragsrecht der Tarifvertragsparteien reicht zur Annahme eines Verwaltungsakts nicht aus. Wie das Beispiel des Petitionsbescheids nach Art. 17 GG zeigt, der kein Verwaltungsakt ist (vgl. Senatsbeschluß vom 1. September 1976 - BVerwG 7B 107.75 -, NJW 1977, 118), endet nicht jedes antragsabhängige Verwaltungsverfahren mit einem Verwaltungsakt gegenüber dem Antragsteller. Ausschlaggebend ist, ob die Behörde nach dem objektiven Sinngehalt ihrer Entscheidung Rechte des Antragstellers in der in § 35 VwVfG vorausgesetzten Weise "regelt", d. h. begründet, ändert, aufhebt oder verbindlich feststellt oder die Begründung, Änderung, Aufhebung oder verbindliche Feststellung solcher Rechte verbindlich ablehnt (BVerwGE 69, 374 [377]; 77, 268 [271]). Bei der Entscheidung über den Antrag einer Tarifvertragspartei auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags läßt sich ein derartiger individueller Rechtsfolgenausspruch der Behörde gegenüber dem Antragsteller nicht feststellen:
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Das mit dem Antrag einer Tarifvertragspartei eingeleitete Verfahren nach § 5 TVG und der Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes vom 20. Februar 1970 (BGB1. I S. 193) - DVO-TVG - ist auf die beantragte Allgemeinverbindlicherklärung, also auf die Ausübung von Rechtsetzungsbefugnissen gerichtet. Ziel des Antrags und des Verfahrens ist mithin eine andere Entscheidung als die Erweiterung oder die Feststellung ![]() ![]() | 18 |
b) Wenngleich die Klägerin hiernach nicht entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines durch Zeitablauf erledigten Verwaltungsakts begehren kann, hat sie doch durch ihren Antrag ein konkretes Rechtsverhältnis zum beklagten Land begründet, das gemäß § 43 Abs. 1 VwGO der Klärung im Wege der Feststellungsklage zugänglich ist. Derart klärungsfähig und klärungsbedürftig ist namentlich die zwischen den Parteien umstrittene Frage, welche Rechte der Klägerin aus ihrem Antrag erwachsen sind und ob das baden-württembergische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung diese Rechte mit seiner Entscheidung verletzt hat. Da die Klägerin unzweifelhaft die Allgemeinverbindlicherklärung der von ihr geschlossenen Tarifverträge beantragen durfte, läßt sich die Möglichkeit, daß ihr ein Anspruch auf diese Erklärung oder doch auf rechtsfehlerfreie Entscheidung über ihren Antrag zustand, nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Eine vorrangige andere Klage (§ 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO), insbesondere eine Leistungsklage auf uneingeschränkte Allgemeinverbindlicherklärung der in ihrem Antrag genannten Tarifverträge, kann die Klägerin schon deshalb nicht erheben, weil diese Verträge nach ihrem Ablauf durch neue Verträge ersetzt worden sind und damit jetzt nicht mehr für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die Klägerin hat auch das nach § 43 Abs. 1 VwGO nötige berechtigte Interesse an der erstrebten Feststellung der Verletzung ihrer Rechte, weil sie in ständiger Praxis nach dem Abschluß neuer Tarifverträge deren Allgemeinverbindlicherklärung beantragt und deshalb damit rechnen muß, daß ein solcher Antrag künftig erneut, und sei es wiederum nur teilweise, abgelehnt wird. Die Gefahr der Wiederholung gleichartiger Verwaltungsakte ist im Rahmen des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO als hinreichender Grund für das Interesse des Klägers an einer Sachentscheidung anerkannt. Im vorliegenden Fall muß, ![]() ![]() | 19 |
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a) Das beklagte Land war gemäß § 5 TVG der Klägerin gegenüber allerdings zu einer rechtmäßigen Entscheidung über den gestellten Antrag verpflichtet. Das folgt aus dem Umstand, daß die im Tarifvertragsgesetz vorgesehene Möglichkeit, einen Tarifvertrag auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich zu erklären, nicht nur im öffentlichen Interesse besteht, sondern zugleich auch den Interessen der antragstellenden Tarifvertragsparteien dient. Die Allgemeinverbindlicherklärung begünstigt die Tarifvertragsparteien nicht nur tatsächlich und unbeabsichtigt im Sinne eines bloßen Rechtsreflexes; vielmehr ist § 5 TVG im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG dahin auszulegen, daß die Begünstigung beabsichtigt ist.
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Sinn und Zweck der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 3 TVG stellen sich nämlich nach der diese Vorschrift als verfassungsgemäß und damit rechtsgültig bestätigenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. insbesondere BVerfGE 44, 322 ff.) wie folgt dar:
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Mit dem Tarifvertrag regeln die Vertragspartner einverständlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer nach § 3 Abs. 1 TVG beiderseits an den Inhalt der Tarifnormen gebundenen Mitglieder. Dieser Regelung ![]() ![]() | 23 |
Alle genannten Ziele der Allgemeinverbindlicherklärung liegen im öffentlichen Interesse. Soweit mit ihr der soziale Schutz von Außenseitern bezweckt ist, bedarf dies keiner näheren Darlegung. Aber auch sonst zielt die Allgemeinverbindlicherklärung stets auf die Förderung des Gemeinwohls ab. Denn das Grundgesetz gewährleistet in Art. 9 Abs. 3 eine Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrags grundsätzlich den Koalitionen überlassen hat. Diesen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG die im öffent ![]() ![]() | 24 |
Andererseits liegen die zuletzt genannten Ziele der Allgemeinverbindlicherklärung auch, wenn nicht sogar in erster Linie im Interesse der Tarifvertragsparteien selbst. Denn die Tarifvertragsparteien handeln beim Abschluß von Tarifverträgen nicht im Namen des Staates, sondern machen von einer ihnen grundrechtlich verbürgten Freiheit Gebrauch. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG schützt für jedermann und für alle Berufe das Recht, sich zu Koalitionen zusammenzuschließen, sowie auch die Koalition als solche und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in der Vorschrift genannten Zwecke zu verfolgen (BVerfGE 55, 7 [21]; 73, 261 [270]). Hierzu gehört der Abschluß von Tarifverträgen als das wichtigste Mittel der autonomen Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Auch die Tarifautonomie ist den Koalitionen in Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich gewährleistet (BVerfGE 50, 290 [369]; 58, 233 [248]). Sie ist freilich nicht in allen Einzelheiten in der Verfassung vorgezeichnet, sondern vom Gesetzgeber durch einfaches Gesetz zu entfalten (BVerfG a.a.O.). Letzteres ist im Tarifvertragsgesetz geschehen. Wenn aber das Tarifvertragsgesetz insgesamt das Recht der Koalitionen auf koalitionsgemäße Betätigung sichert und die ihnen garantierte Tarifautonomie entfaltet, so gilt dasselbe insbesondere auch für die Regelung des § 5 TVG über die Allgemeinverbindlicherklärung, denn diese zielt, wie dargelegt, darauf ab, die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung zu wahren. Dementsprechend bezeichnet das Bundesverfassungsgericht die Allgemeinverbindlicherklärung als "ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen soll, indem sie den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhilft" (BVerfGE 44, 322 [342]). An anderer Stelle seiner Entscheidung vom 24. Mai 1977 heißt es (a.a.O. S. 345): "Die vom Gesetzgeber gewählte Rechtsetzungsform soll der Garantie des Kern ![]() ![]() | 25 |
Auf eine die Tarifparteien begünstigende Regelung deutet übrigens auch die Antragsabhängigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung hin (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Oktober 1986 - BVerwG 1 C 44.84 -, NJW 1987, 856 [857]). Hinzu kommt, daß nach der prinzipiellen Ordnung des Verhältnisses des einzelnen zum Staat im Grundgesetz bei gesetzlichen Begünstigungen ohnehin im Zweifel ein rechtlich geschütztes Individualinteresse zu bejahen ist (BVerfGE 15, 275 [281 f.], BVerwG, Urteil vom 21. Oktober 1986 - BVerwG 1 C 44.84 -, a.a.O.). Der Hinweis des Berufungsgerichts auf den Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG und das dort für allein maßgeblich erklärte öffentliche Interesse begründet keinen beachtlichen Einwand. Auch wenn Maßstab einer gesetzlich vorgesehenen Begünstigung das öffentliche Interesse ist, kann das Gesetz nach Maßgabe dieses Maßstabs zugleich das Interesse des einzelnen an der Begünstigung rechtlich schützen, so daß dieser eine rechtsfehlerfreie Entscheidung zu beanspruchen hat (BVerwGE 65, 19 [22]; allgemein zur möglichen Identität von öffentlichem und privatem Interesse Leisner, DÖV 1970, 217 ff.). Den Tarifvertragsparteien steht mithin nach § 5 TVG nicht nur ein Antragsrecht, sondern darüber hinaus auch eine dieses Recht ergänzende materielle Rechtsposition zu.
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An der in BVerwGE 7, 188 geäußerten und vom Berufungsgericht geteilten Rechtsauffassung, eine Tarifvertragspartei könne durch die Ablehnung ihres Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung nicht in ihren Rechten verletzt werden, hält der Senat nach alledem nicht länger fest.
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Das den Tarifvertragsparteien zustehende materielle Recht ist freilich nicht gleichbedeutend mit einem strikten Rechtsanspruch auf Erlaß der Allgemeinverbindlicherklärung, und zwar auch dann nicht, wenn die in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG normierte tatbestandliche Voraussetzung der Allgemeinverbindlicherklärung (Mindestanteil der bei den tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer von 50%) erfüllt ist. Denn damit ergibt sich lediglich die Möglichkeit ihres Erlasses nach Maßgabe des ![]() ![]() | 28 |
Diese Entscheidungsfreiheit ist eine Ausprägung des auch mit Rechtsetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens (vgl. dazu Badura, Das normative Ermessen beim Erlaß von Rechtsverordnungen und Satzungen, in: Gedächtnisschrift für W. Martens, 1987, S. 25 ff.; Schmidt- Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz a.a.O., Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 217) und wird erst dann rechtswidrig ausgeübt, wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung in § 5 TVG und der hiernach zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen - einschließlich der Interessen der Tarifvertragsparteien -schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist (vgl. BVerfGE 45, 142 [162 f.]). Demgemäß kann die antragstellende Tarifvertragspartei die Verneinung des öffentlichen Interesses an der Allgemeinverbindlichkeit durch den zuständigen Minister nur daraufhin verwaltungsgerichtlich überprüfen lassen, ob diese äußersten rechtlichen Grenzen seiner Rechtsetzungsbefugnis überschritten sind. Überdies spricht - da das mögliche öffentliche Interesse an der Allgemeinverbindlichkeit nicht in seiner Gesamtheit, sondern nur in Teilbereichen mit den Interessen der Tarifvertragsparteien übereinstimmt und da auch die Interessen der Tarifvertragsparteien nicht immer gleichläufig sind - manches dafür, daß die antragstellende Tarifvertragspar ![]() ![]() | 29 |
b) Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage dagegen, daß das baden-württembergische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung ihren Antrag, soweit er die von ihr geschlossenen Tarifverträge über die Gewährung von Urlaubsgeld und über die Vergütung für Auszubildende betraf, insgesamt abgelehnt und daß es die Lohntarifverträge nicht, wie beantragt, sondern erst mit Wirkung vom Tage der Bekanntmachung des Antrags für allgemeinverbindlich erklärt hat.
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Die Ablehnung des Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung der Urlaubsgeldabkommen und der Tarifverträge über Ausbildungsvergütungen hat das Ministerium wie folgt begründet: Hinsichtlich der Urlaubsgeldabkommen habe nicht glaubhaft gemacht werden können, daß ohne eine Allgemeinverbindlicherklärung unvertretbare Arbeitsbedingungen bestehen würden. Die wirtschaftliche Grundlage der Arbeitnehmerhaushalte werde durch die Löhne und nicht durch das Urlaubsgeld bestimmt, das zudem gegenüber 1982 mit 12 bis 17 DM nur um einen verhältnismäßig geringen Betrag erhöht worden sei. Dasselbe gelte für die Ausbildungsvergütungen. Wesentlich sei, daß die Unterlassung einer Allgemeinverbindlicherklärung insoweit nicht zu einer Schwächung der Tarifvertragsparteien führen werde. Zu den Ausbildungsvergütungen hat das Ministerium im gerichtlichen Verfahren nachgetragen, daß diese schon durch die Vorschrift des § 10 des Berufsbildungsgesetzes auf einer angemessenen Höhe gehalten würden und daß die Erhaltung der Möglichkeit, niedrigere als die tariflichen Ausbildungsvergütungen zu vereinbaren, zur Bereitstellung zusätzlicher Ausbildungsplätze beitragen könne. ![]() | 31 |
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Ebensowenig war das Ministerium verpflichtet, schon deshalb, weil es dem Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung der Lohntarifverträge stattgab, seiner Erklärung zugleich auch antragsgemäß Rückwirkung beizumessen. Gemäß § 7 Satz 2 DVO-TVG wird der Beginn der Allgemeinverbindlichkeit von dem zuständigen Minister bestimmt; dieser soll in der Regel keinen Zeitpunkt vor der Bekanntmachung des Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung wählen (§ 7 Satz 3 DVO-TVG). Zwar entfällt die dem Minister in § 7 Satz 3 DVO-TVG auferlegte Beschränkung immer dann, wenn es sich um die Erneuerung eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags handelt; ein solcher Fall lag hier vor, weil die früheren Lohntarifverträge ebenfalls für allgemeinverbindlich erklärt worden waren. Das heißt aber nicht, daß ein Tarifvertrag, der einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag nach dessen Ablauf ersetzt, stets rückwirkend auf den Zeitpunkt seines Inkrafttretens für allgemeinverbindlich zu erklären wäre. Vielmehr kann sich der zuständige Minister in derartigen Fällen in den Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen (vgl. BAG, Urteil vom 3. November 1982 - 4 AZR 1255/79 - AP Nr. 18 zu § 5 TVG) für die Rückwirkung, aber auch im Interesse der hiervon nachteilig Betroffenen gegen sie entscheiden. Wenn sich im vorliegenden Fall das baden-württembergische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung in Anbetracht des vergleichsweise langen Zeitraums, der - ohne sein Verschulden - von dem Außerkrafttreten der früheren Lohntarifverträge bis zur Bekanntmachung des Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung verstrichen war, sowie mit Rücksicht darauf, daß möglicherweise einzelne nicht tarifgebundene Arbeitgeber nach so langer Zeit nicht mehr auf Lohnnachzahlungen eingerichtet waren, gegen die von der Klägerin beantragte Rückwirkung entschied, so war das rechtlich unbedenklich. ![]() | 33 |
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