BGE 133 V 196 |
26. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S. Winterthur Versicherungen gegen A., C. und R. sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
U 266/06 vom 28. Dezember 2006 |
Regeste |
Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 103 lit. a OG; Art. 61 ATSG: Kantonales Beschwerdeverfahren. |
Aus den Erwägungen: |
Mit dem kantonalen Verfahrensrecht hat sich das Eidgenössische Versicherungsgericht grundsätzlich nicht zu befassen. Denn die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts ist gemäss Art. 104 lit. a OG auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt. Es hat daher nur zu prüfen, ob die Anwendung des einschlägigen kantonalen Verfahrensrechts oder - bei Fehlen solcher Vorschriften - die Ermessensausübung durch das kantonale Gericht zu einer Verletzung von Bundesrecht geführt hat. Dabei fällt praktisch vor allem eine Prüfung der Verletzung verfassungsmässiger Rechte und Grundsätze in Betracht (BGE 120 V 413 E. 4a S. 416; BGE 114 V 203 E. 1a S. 205, mit Hinweisen).
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1.2 Der verfassungsrechtliche Gehörsanspruch (Art. 29 Abs. 2 BV) beinhaltet u.a. das Recht des Einzelnen, sich zu den ihn betreffenden hoheitlichen Anordnungen zu äussern und seinen Standpunkt zu allen relevanten Fragen des Falles vorgängig des Entscheides wirksam zur Geltung zu bringen (BGE 117 Ia 262 E. 4b S. 268; THOMAS COTTIER, Der Anspruch auf rechtliches Gehör ?[Art. 4 BV], in: recht 1984 S. 10; ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 135; MICHELE ALBERTINI, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Bern 2000, Abhandlungen zum Schweizerischen Recht, neue Folge, Heft 637, S. 259). Dieser wesentliche Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör stellt ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56; BGE 126 V 130 E. 2b S. 131, je mit Hinweisen) und kann im Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren mit den Erfordernissen eines geordneten Verfahrensganges oder der Prozessökonomie kollidieren. Verfahrensstrenge und -ökonomie führen namentlich dann zu einer Vereitelung des im Gehörsanspruch enthaltenen Äusserungs- und Mitwirkungsrechts, wenn die entsprechenden Verfahrensvorschriften überspitzt formalistisch gehandhabt werden (COTTIER, a.a.O., S. 13). Mit dem Gehörsanspruch ist aber ohne weiteres vereinbar, dass dem Betroffenen für die Ausübung seines Äusserungsrechts eine bestimmte Frist gesetzt wird. Diese muss lediglich angemessen, d.h. so bemessen sein, dass dem Betroffenen eine gehörige Wahrung seines Äusserungsrechts - gegebenenfalls unter Beizug eines Rechtsvertreters - effektiv möglich ist (vgl. BGE 86 I 2 ff.; COTTIER, a.a.O., S. 13; ALBERTINI, a.a.O., S. 341). Hingegen kann aus dem Gehörsanspruch nicht abgeleitet werden, dass die Folgen der nicht rechtzeitigen Ausübung des Äusserungsrechts (Säumnis) nur eintreten, wenn sie vorgängig explizit angedroht worden sind (KLAUS REINHARDT, Das rechtliche Gehör in Verwaltungssachen, Diss. Zürich 1967, S. 99; a.M. R. TINNER, Das rechtliche Gehör, in: ZSR 1964 II 337 f.). |
1.3 Gemäss Art. 69 Ingress in Verbindung mit Art. 83 des bernischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Mai 1989 (VRPG; BSG 155.21) hat das Verwaltungsgericht eine nicht offensichtlich unbegründete oder unzulässige Beschwerde so zu instruieren, dass es sie der Vorinstanz und den übrigen am Verfahren Beteiligten zustellt und den Schriftenwechsel durchführt. Die im Instruktionsverfahren angesetzten richterlichen Fristen können erstreckt werden, wenn vor Ablauf der Frist darum nachgesucht wird (Art. 43 Abs. 1 VRPG). Nicht vorgeschrieben ist, dass mit den im Instruktionsverfahren angesetzten Fristen die im Falle ihrer Nichtwahrung eintretenden Säumnisfolgen angedroht werden müssen. Das Verwaltungsgericht hat daher im vorliegenden Fall ein gesetzeskonformes Instruktionsverfahren durchgeführt, indem es der Winterthur weder mit der ersten Fristansetzung für die Einreichung einer Beschwerdeantwort noch zusammen mit der Fristverlängerung bis 9. Februar 2006 Säumnisfolgen angedroht und die erst nach deren Ablauf erstattete Beschwerdeantwort als unbeachtlich aus den Akten gewiesen hat. Das in dieser Weise und in Übereinstimmung mit dem kantonalen Verfahrensrecht durchgeführte Instruktionsverfahren sowie die der Nichteinhaltung der Beschwerdeantwortfrist beigemessene Rechtsfolge beinhalten auch keine Verletzung des verfassungsmässigen Anspruchs auf rechtliches Gehör. |
Das kantonale Verfahrensrecht kann namentlich im Interesse der nicht rechtskundig vertretenen Parteien statuieren, dass auch die Ansetzung erstreckbarer behördlicher/richterlicher Fristen stets mit der Androhung der Säumnisfolgen zu verbinden ist, wie dies für die Bundesverwaltungsrechtspflege in Art. 23 VwVG und in § 196 des Gerichtsverfassungsgesetzes für den Kanton Zürich vom 13. Juni 1976 (GVG; LS 211.1) für die Zivil- und Strafrechtspflege der Fall ist. Dadurch werden die Parteien davor bewahrt, sich aus Unwissenheit prozessuale Nachteile zuzuziehen und Rechtskundige werden dadurch vor einem unverhältnismässigen Rechtsverlust geschützt (HAUSER/SCHWERI, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz, Zürich 2002, N. 6 zu § 196). Es dürfte auf dem Vorbildcharakter der Bestimmungen von Art. 23 VwVG und § 196 GVG/ZH beruhen, wenn auch für das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungsgerichtsverfahren generell die ausdrückliche Androhung der Säumnisfolgen bereits mit der Fristansetzung für die Erstattung einer Beschwerdeantwort postuliert wird (KÖLZ/ BOSSHART/RÖHL, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, N. 3 zu § 12; CHRISTIAN ZÜND, Kommentar zum Gesetz über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Diss. Zürich 1998, S. 137; KIESER, a.a.O., N. 70 zu Art. 61). Da aber Art. 23 VwVG nicht zu den nach Art. 1 Abs. 3 VwVG im Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht anwendbaren Bestimmungen des VwVG gehört und auch die in Art. 61 lit. a-i ATSG statuierten Mindestanforderungen keine entsprechende Verfahrensgestaltung vorschreiben, sind die Kantone von Bundesrechts wegen nicht gehalten, den Schriftenwechsel im Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht in dieser Weise durchzuführen. Eine solche Bedeutung kann den bundesrechtlichen Minimalanforderungen an das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht umso weniger beigemessen werden, als der in Art. 61 lit. c ATSG statuierte Untersuchungsgrundsatz die Säumnisfolgen im Vergleich zum Zivilprozess stark relativiert. Denn der Untersuchungsgrundsatz verpflichtet den Richter von Amtes wegen, für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195; BGE 122 V 157 E. 1a S. 158, je mit Hinweisen). Gestützt darauf können daher die einer Partei aus der Nichteinhaltung einer Beschwerdeantwortfrist erwachsenden Säumnisfolgen dadurch gemildert werden, dass entscheidwesentliche Tatsachen oder Beweismittel nachträglich von Amtes wegen noch berücksichtigt oder zweifelhafte, aber nicht rechtzeitig bestrittene Sachbehauptungen von Amtes wegen abgeklärt werden (GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983, S. 62; KÖLZ/BOSSHART/RÖHL, a.a.O., N. 2 zu § 12). Im vorliegenden Fall steht allerdings die aus dem Untersuchungsgrundsatz fliessende richterliche Pflicht zu amtswegiger Sachverhaltsergänzung oder -abklärung nicht zur Diskussion, weil die Beschwerdegegner A., C. und R. in ihrer vorinstanzlichen Beschwerde den (einfachen) Sachverhalt vollständig vorgetragen und dokumentiert haben und einzig Rechtsfragen streitig sind. Rechtsfragen unterstehen aber verfahrensrechtlich ohnehin dem Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen (iura novit curia), welcher bedeutet, dass der Richter an die Rechtsauffassungen der Parteien nicht gebunden ist; auch nicht an die von ihnen nach Massgabe des kantonalen Verfahrensrechts form- und fristgerecht vorgetragenen Rechtsbehauptungen. |
1.5 Zusammenfassend hat somit der kantonale Richter dadurch, dass er zusammen mit der der Winterthur für die Einreichung ihrer Beschwerdeantwort angesetzten Frist keine Säumnisfolgen angedroht und die nach Ablauf dieser Frist verspätet eingereichte Beschwerdeantwort aus den Akten gewiesen hat, weder den verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) noch die bundesrechtlichen Minimalanforderungen an das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht (Art. 61 ATSG) verletzt.
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