BVerfGE 38, 154 - Wehrdienstopfer |
Die Notwendigkeit, Wehrgerechtigkeit im Inneren ebenso aufrechtzuerhalten wie Verteidigungsbereitschaft des grundrechtsgarantierenden Staatswesens nach außen, fordert eine enge und überschaubare, normative Ausgestaltung der Ausnahmen von der Wehrpflicht. |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 5. November 1974 |
-- 2 BvL 6/71 -- |
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 des Wehrpflichtgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1972 (BGBl. I S. 2277) - Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Verwaltungsgerichts Saarlouis vom 15. April 1970 - 1 K 453/69 -. |
Entscheidungsformel: |
§ 11 Absatz 2 Nr. 1 des Wehrpflichtgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1972 (Bundesgesetzbl. I S. 2277) ist mit dem Grundgesetz insoweit vereinbar, als er Wehrpflichtige, deren sämtliche Brüder an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 81 des Soldatenversorgungsgesetzes verstorben sind, nicht in den begünstigten Personenkreis einbezieht. |
Gründe: |
A. |
Gegenstand des Vorlageverfahrens ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 11 Abs. 2 Nr. 1 des Wehrpflichtgesetzes -- WPflG --.
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I. |
1. Das Wehrpflichtgesetz gilt derzeit in der Fassung vom 8. Dezember 1972 (BGBl. I S. 2277 ff.).
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§ 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG steht unter der Überschrift "Wehrpflicht", Unterüberschrift: "Wehrdienstausnahmen".
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Die Bestimmung lautet:
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§ 11 Befreiung vom Wehrdienst
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(1) Vom Wehrdienst sind befreit...
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(2) Vom Wehrdienst sind auf Antrag zu befreien: 1. Wehrpflichtige, deren sämtliche Brüder oder, falls keine Brüder vorhanden waren, deren sämtliche Schwestern an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes oder des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes verstorben sind, ... |
Zwischen 1956 und 1972 kam es zu mehrfachen Änderungen des Wehrpflichtgesetzes. Im Rahmen des § 11 Abs. 2 WPflG wurden dabei im wesentlichen nur weitere Befreiungsgründe hinzugefügt (vgl. insbesondere die Gesetzesnovelle vom 28. November 1960, BGBl. I S. 853) und das Antragserfordernis präzisiert. (Für die Neufassung des Gesetzes vom 28. September 1969 vgl. BGBl. I S. 1773.)
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2. Das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz -- BVG -) wurde am 20. Dezember 1950 verkündet (BGBl. 1950 S. 791).
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Der unter dem Titel "Anspruch auf Versorgung" stehende § 1, auf den § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG Bezug nimmt, lautete:
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(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
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(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch a) eine unmittelbare Kriegseinwirkung, b) eine Kriegsgefangenschaft, c) eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, d) eine mit militärischem oder mit militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist. |
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.
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(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne des Absatzes 1.
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Das Gesetz erfuhr später eine Reihe von Änderungen. Soweit sie § 1 BVG betrafen, sind sie im vorliegenden Zusammenhang ohne Belang.
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Zur Zeit gilt das Bundesversorgungsgesetz in der Fassung vom 20. Januar 1967 (BGBl. I S. 141, 180); § 1 BVG wurde zuletzt geändert und ergänzt durch das Gesetz über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes (Erstes Anpassungsgesetz) vom 26. Januar 1970 (BGBl. I S. 121).
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3. Das Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen (Soldatenversorgungsgesetz -- SVG -) wurde nach Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht am 26. Juli 1957 verkündet (BGBl. I S. 785).
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Im Dritten Teil "Beschädigtenversorgung", Abschnitt I "Versorgung der beschädigten Soldaten und ihrer Hinterbliebenen" enthielt das Gesetz folgende Bestimmungen:
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§ 80
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(1) Ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, erhält nach Beendigung des Dienstverhältnisses wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes, soweit in diesem Gesetz nichts Abweichendes bestimmt ist. In gleicher Weise erhalten die Hinterbliebenen eines Beschädigten auf Antrag Versorgung.
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(2) Absatz 1 gilt entsprechend, wenn eine Zivilperson, die 1. zum Wehrdienst einberufen ist oder 2. zur Feststellung der Wehrtauglichkeit, zu einer Eignungsprüfung oder zur Wehrüberwachung der Anordnung einer zuständigen Dienststelle folgt oder 3. an einer dienstlich angeordneten Veranstaltung zur militärischen Fortbildung teilnimmt oder 4. auf Schiffen der Bundeswehr planmäßig oder außerplanmäßig eingeschifft ist, infolge der Dienstverrichtung oder auf dem Wege zum Bestimmungsort oder auf dem Heimweg eine gesundheitliche Schädigung erleidet. Diese gesundheitliche Schädigung steht einer Wehrdienstbeschädigung gleich. |
(1) Wehrdienstbeschädigung ist eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Dienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist.
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(2) Als Wehrdienstbeschädigung gelten auch gesundheitliche Schädigungen, die ein Soldat außerhalb seines Dienstes dadurch erlitten hat, daß er angegriffen wird 1. im Hinblick auf sein pflichtgemäßes dienstliches Verhalten oder 2. wegen seiner Zugehörigkeit zur Bundeswehr aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat. |
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.
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(4). Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Wehrdienstbeschädigung.
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(5) Eine Wehrdienstbeschädigung steht einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes gleich.
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Auch das Soldatenversorgungsgesetz wurde in den folgenden Jahren mehrfach geändert. Hierbei sind weder der Sinn der §§ 80 und 81, soweit er hier von Belang ist, noch die systematische Stellung der §§ 80 und 81 im Gesetz verändert worden.
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Das Soldatenversorgungsgesetz gilt heute in der Neufassung vom 1. September 1971 (BGBl. I S. 1481 ff.).
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II. |
Im Sommer 1968 beantragte der minderjährige Kurt M ..., unterstützt von seinem Vater, Befreiung vom Grundwehrdienst. Zur Begründung führten sie an, Kurt M ... sei der einzige noch lebende Sohn seiner Eltern. Sein Bruder, Artur M ..., sei am 26. Mai 1968 während der Ableistung seines Wehrdienstes auf der Rückkehr vom Wochenendurlaub zu seiner Bundeswehreinheit in Ulm/Donau aus dem fahrenden Eisenbahnzug gestürzt und tödlich verunglückt. Das Versorgungsamt Neunkirchen hat mit Bescheid vom 29. Oktober 1968 den Tod des Artur M ... als Folge einer Schädigung im Sinne des § 81 SVG anerkannt. Sein Antrag auf Befreiung vom Wehrdienst wurde abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 WPflG nicht gegeben seien. Auf seinen Widerspruch entschied die Musterungskammer bei der Wehrbereichsverwaltung IV -- Außenstelle Saarbrücken -- auf Befreiung vom Wehrdienst. Zur Begründung führt die Kammer aus, Kurt M ... falle unter den von § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG geschützten Personenkreis: Nach Überzeugung der Kammer könne es für die Anwendung dieser Bestimmung keinen Unterschied machen, ob der einzige Bruder im letzten Weltkrieg als Soldat ums Leben gekommen sei oder ob er jetzt in Friedenszeiten als Soldat der Bundeswehr sein Leben eingebüßt habe.
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Gegen diesen Bescheid erhob die Wehrbereichsverwaltung IV gemäß § 35 Abs. 2 WPflG Klage beim Verwaltungsgericht des Saarlandes in Saarlouis.
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Das Verwaltungsgericht Saarlouis hat sein Verfahren mit Beschluß vom 15. April 1970 ausgesetzt. Es hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 11 Abs. 2 Nr. 1 des Wehrpflichtgesetzes in der -- zum Vorlagezeitpunkt gültigen -- Fassung der Bekanntmachung vom 28. September 1969 (BGBl. I S. 1773) insoweit verfassungswidrig sei, als Wehrpflichtige, deren sämtliche Brüder an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 81 Abs. 1 des Soldatenversorgungsgesetzes verstorben sind, durch die abschließende Aufzählung der Fälle der Schädigung im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes als Todesursache für den Tod von Geschwistern aus dem begünstigten Personenkreis ausgeschlossen würden.
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Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, der angefochtene Widerspruchsbescheid sei mit § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG nicht vereinbar. Bei Gültigkeit der Norm sei deshalb der Klage stattzugeben. Das Verwaltungsgericht vermöge sich der Auslegung von § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG durch die Musterungskammer nicht anzuschließen: Der klare und eindeutige Wortlaut der Norm mache ihre Anwendung im vorliegenden Fall unmöglich. Der Anwendungsbereich des § 1 BVG sei auf solche Schädigungen beschränkt, die bereits bei Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes im Jahre 1950 eingetreten gewesen seien. Hingegen bestimmten sich die versorgungsrechtlichen Rechtsfolgen im Zusammenhang mit dem Dienst in der Bundeswehr allein nach dem Soldatenversorgungsgesetz. Soweit dieses auf das Bundesversorgungsgesetz verweise, handle es sich allein um Rechtsfolgeverweisungen. Diese vermöchten nichts daran zu ändern, daß es an einer unter § 1 BVG fallenden Schädigung fehle, wenn eine Wehrdienstbeschädigung im Sinne von § 81 Abs. 1 SVG vorliege.
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Bei Verfassungsmäßigkeit des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG könne mithin der Beigeladene, dessen Bruder an einer Schädigung im Sinne von § 81 Abs. 1 SVG und nicht an einer solchen im Sinne von § 1 BVG verstorben sei, nicht vom Wehrdienst befreit werden.
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Sei die fragliche Bestimmung hingegen insoweit verfassungswidrig, als der Fall einer Schädigung im Sinne von § 81 Abs. 1 SVG als Todesursache von der in § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG getroffenen Regelung ausgenommen sei, so müsse das Gericht das vorliegende Verfahren aussetzen, bis die Materie in verfassungsmäßiger Weise gesetzlich neu geregelt sei. Der Beigeladene habe dann immerhin die Chance, an einer etwaigen Erweiterung der begünstigenden Regelung durch den Gesetzgeber teilzuhaben, ohne bis dahin Grundwehrdienst leisten zu müssen.
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Nach Überzeugung des vorlegenden Gerichts verstößt § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Es bestehe kein sachgerechter Grund dafür, Wehrpflichtige, deren sämtliche Brüder oder Schwestern an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 81 Abs. 1 SVG verstorben seien, anders zu behandeln als solche Wehrpflichtige, deren Geschwister durch eine Schädigung im Sinne von § 1 BVG zu Tode gekommen seien. § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG bezwecke den Schutz des letzten Sohnes solcher Familien, die durch den Tod ihrer anderen Kinder ein besonderer Verlust getroffen habe. § 1 Abs. 1 BVG umfasse für den Bereich der früheren Wehrmacht die gleichen Fälle gesundheitlicher Schädigungen, die für den Bereich der Bundeswehr von § 81 Abs. 1 SVG erfaßt würden. Die von § 1 BVG erfaßten Schädigungen seien lediglich früher eingetreten. Von der betroffenen Familie her gesehen sei das für den Staat erbrachte Opfer aber das gleiche, ob nun ein Sohn durch eine Beschädigung im Zusammenhang mit dem Wehrdienst bei der früheren Wehrmacht oder bei der Bundeswehr zu Tode gekommen sei.
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III. |
1. Der Bundesminister der Verteidigung hat sich wie folgt geäußert:
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Die in § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG getroffene Regelung verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz. Der Gesetzgeber habe sich innerhalb des ihm von der Verfassung gewährten Spielraumes gehalten, als er bei Einführung der Wehrpflicht jene Wehrpflichtigen privilegiert habe, deren Geschwister durch nationalsozialistisches Unrecht oder durch Kriegseinwirkungen verstorben seien.
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Zusätzlich zu seiner eigenen Meinung teilt der Bundesminister der Verteidigung die abweichenden Stellungnahmen des Bundesministers des Innern und des Bundesministers der Justiz mit.
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Beide sind der Auffassung, eine verfassungskonforme Interpretation des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG gebiete nicht nur, diejenigen Wehrpflichtigen von der Wehrpflicht freizustellen, deren sämtliche Brüder oder Schwestern an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG oder des § 1 BEG verstorben seien, sondern auch solche Wehrpflichtige, deren Geschwister auf Grund einer Schädigung nach § 81 SVG den Tod gefunden hätten. Die Bezugnahme auf § 1 BVG in § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG könne insgesamt nur dahin verstanden werden, daß mit dem Befreiungstatbestand unabhängig von den Ereignissen des Dritten Reiches das für die Allgemeinheit gebrachte Opfer derjenigen Familien gewürdigt werden solle, bei denen nur noch der "letzte Sohn" der gesetzlichen Wehrpflicht unterliege.
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2. Von den obersten Gerichtshöfen des Bundes hat nur das Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme des VIII. Senates vorgelegt. Dieser hat auf seine eigene Entscheidung vom 24. April 1969 (BVerwGE 32, 44 [50]) verwiesen und erklärt, der Begründung dieser Entscheidung sei nichts mehr hinzuzufügen. Er vermöge der gegenteiligen Auffassung des vorlegenden Verwaltungsgerichts nicht zu folgen.
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In seiner Entscheidung hat der VIII. Senat des Bundesverwaltungsgerichts die Auffassung vertreten, § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG begünstige nur diejenigen Wehrpflichtigen, deren Geschwister als "Opfer des Krieges" (§ 1 BVG) oder als Folge nationalsozialistischen Unrechts (§ 1 BEG) ihr Leben verloren hätten. Gleichzeitig hat er die Verfassungsmäßigkeit der Befreiungsregelung insoweit bejaht, als durch diese Regelung der Tod, den ein Bruder des Wehrpflichtigen im Dienst der Bundeswehr erleide, unberücksichtigt bleibe.
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B. -- I. |
Die Vorlage ist zulässig.
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1. Die Gültigkeit von § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG ist für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich, wenn man von der Auslegung der Norm durch das vorlegende Gericht ausgeht. Diese Auslegung ist nicht offensichtlich abwegig. Von ihr ist für die Prüfung der Zulässigkeit der Vorlage auszugehen (vgl. BVerfGE 11, 245 [249]; 24, 268 [275]; 31, 357 [361]).
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2. Die inhaltlich unverändert gebliebene Bestimmung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG ist heute nicht in der vom Verwaltungsgericht vorgelegten Fassung der Bekanntmachung vom 28. September 1969 (BGBl. I S. 1773), sondern in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1972 (BGBl. I S. 2277) auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Ob dem Beigeladenen des Verwaltungsverfahrens gegenwärtig ein Anspruch auf Wehrdienstbefreiung zusteht oder nicht, ist auf Grund der zur Zeit gültigen Gesetzesfassung zu entscheiden.
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II. |
§ 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
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1. Die Auslegung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG ist umstritten. Je nach dem Inhalt, welcher der Bestimmung beigelegt wird, sind die Erwägungen zur Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit verschieden. Das Bundesverfassungsgericht muß deshalb von sich aus die Rechtslage nach einfachem Recht prüfen und den Inhalt der zur Prüfung gestellten Norm selbständig ermitteln. Nur auf der Grundlage einer zutreffenden Auslegung aller in Betracht kommenden Vorschriften kann das Bundesverfassungsgericht beurteilen, ob Bestimmungen des einfachen Rechts mit dem Grundgesetz vereinbar sind (vgl. BVerfGE 7, 45 [50]; 8, 210 [217]; 10, 340 [345]; 17, 155 [163 f]; 22, 28 [33]; 25, 371 [390]).
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Die Auslegung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG führt zu folgendem Ergebnis: Die Bestimmung statuiert eine Ausnahme von der Wehrpflicht nur für solche Personen, deren Geschwister an einer Schädigung im Sinne von § 1 BVG verstorben sind. Nicht hingegen sind auch solche Wehrpflichtige erfaßt, deren sämtliche Brüder oder Schwestern an den Folgen einer Wehrdienstbeschädigung im Sinne von § 81 SVG verstorben sind.
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Für die gegenteilige Auffassung bietet weder der Wortlaut des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG noch der des § 81 SVG Anhaltspunkte:
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In § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG werden nur § 1 BVG und § 1 BEG erwähnt. Ein Hinweis auf Personen, die im Dienst der Bundeswehr ihr Leben verloren haben, fehlt. Dies ist um so bedeutsamer, als dem Gesetzgeber im Jahre 1956 bewußt war, daß er im Begriff stand, eine neue Bundeswehr zu schaffen. Unter diesen Umständen lag der Gedanke an eine Parallelregelung für die Bundeswehr nahe. Die Tatsache, daß eine solche Regelung nicht ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen worden ist, deutet eher auf eine bewußte Ausklammerung hin.
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Auch das Soldatenversorgungsgesetz statuiert nach seinem Wortlaut keine Wehrdienstausnahmen als Folge von Wehrdienstbeschädigungen im Dienst der Bundeswehr. Der dem § 1 BVG entsprechende § 80 SVG steht unter der Überschrift "Beschädigtenversorgung" und spricht auch im Text nur von "Versorgung". Er bezieht die Personen, die eine Wehrdienstbeschädigung erlitten haben, nicht in den Kreis der von § 1 BVG erfaßten Personen ein, sondern gibt ihnen ein Recht auf Versorgung "in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG", soweit im Soldatenversorgungsgesetz "nichts Abweichendes bestimmt ist". Die Formulierung "in entsprechender Anwendung ..." anstelle des im Gesetzentwurf ursprünglich enthaltenen "nach dem BVG" ist bewußt gewählt worden. Die Änderung geht auf den Vorschlag des Verteidigungsausschusses zurück (vgl. BTDrucks. II/3366 S. 50) und stellt klar, daß sich lediglich die Rechtsfolgen einer Wehrdienstbeschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz bestimmen. Hingegen bilden die §§ 80 und 81 SVG als Voraussetzung für eine "Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes" mit Hilfe des in § 81 SVG bestimmten Begriffes der "Wehrdienstbeschädigung" einen eigenen Tatbestand. Dieser ist unabhängig vom Tatbestand des § 1 BVG und macht eine gesonderte Tatbestandsfeststellung erforderlich.
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Auch die Gesetzessystematik läßt erkennen, "daß eine unter § 1 BVG fallende Schädigung fehlt, wenn eine Wehrdienstbeschädigung im Sinne von § 81 Abs. 1 SVG vorliegt, wenn also der Schaden auf den Dienst in der Bundeswehr zurückzuführen ist oder mit ihm in Zusammenhang steht" (BVerwGE 32, 44 [49]).
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Bundesversorgungsgesetz und Soldatenversorgungsgesetz regeln also zwei verschiedene Bereiche, die strikt gegeneinander abgegrenzt sind und sich nicht überschneiden.
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Das Bundesversorgungsgesetz regelt allein die Folgen solcher Schäden, die die Beschädigten zu "Kriegsopfern" gemacht haben. Die Schäden müssen also im Zusammenhang mit dem Krieg oder dem Dienst in der früheren deutschen Wehrmacht entstanden sein. Dies ergibt sich nicht nur aus der vom Gesetzgeber des Jahres 1950 gewählten und heute noch bestehenden Überschrift "Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges", sondern auch aus den vor dem Gesetzesbeschluß geführten Bundestagsdebatten (vgl. insbesondere Verhandlungen d. Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, 93. Sitzung, S. 3453). In diesen war stets nur von der Notwendigkeit die Rede, den Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen Wiedergutmachung zu leisten und in der Vergangenheit erlittene Schäden möglichst auszugleichen. Für ein Entstehen neuer, mit militärischem Dienst zusammenhängender Schädigungen fehlten im Jahre 1950 die Voraussetzungen.
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Entsprechend ist auch die Gesetzesüberschrift, die im Entwurf lautete: "Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Hinterbliebenen" vom Verteidigungsausschuß -- dessen Vorschlag vom Bundestag angenommen wurde -- in "Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen" geändert worden.
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Die Tatsache, daß der Gesetzgeber die Bereiche von Bundesversorgungsgesetz und Soldatenversorgungsgesetz verschieden geregelt hat, widerlegt die Überlegung, der Anwendungsbereich des § 1 BVG sei nachträglich durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht erweitert worden. Mit Recht hat schon das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. April 1969 ausgeführt: "Von einer solchen -- möglicherweise ursprünglich vom Gesetzgeber nicht vorausgesehenen -- Erweiterung des Anwendungsbereichs des Bundesversorgungsgesetzes könnte nur dann gesprochen werden, wenn aus der Wiedereinführung militärischer Dienstverhältnisse im Jahre 1956 keine gesetzgeberischen Folgerungen in versorgungsrechtlicher Hinsicht gezogen worden wären. Solche Folgerungen wurden aber gezogen durch das Gesetz über die Versorgung für die ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und ihre Hinterbliebenen (Soldatenversorgungsgesetz -- SVG -) vom 26. Juli 1957 (BGBl. I S. 785)" (BVerwGE 32, 44 [48]).
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Dieses Auslegungsergebnis wird durch den mit § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG verfolgten Zweck bestätigt: Aus den Debatten des Gesetzgebungsverfahrens wird das naheliegende Bestreben des Gesetzgebers ersichtlich, gerade denjenigen Personen, die im Zusammenhang mit Krieg oder ehemaliger Wehrmacht besonders schwer getroffen waren, einen abermaligen Wehrdienst zu ersparen (vgl. Verhandlungen d. Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, 157. Sitzung, S. 8577 f., 8607, 8612, 8613; 159. Sitzung, S. 8829, 8831, 8863).
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Hingegen war es nicht vorrangiger Zweck der Ausnahmeregelung, der "Erhaltung der Familie" zu dienen. Dieser Gedanke spielte erst bei den Beratungen für die Gesetzesnovelle vom 28. November 1960 (BGBl. I S. 853) eine eigenständige Rolle. Auch hierbei wurde indes in der Hauptsache auf das "Kriegsopfer" im Sinne von § 1 BVG abgestellt (vgl. den Schriftlichen Bericht des Verteidigungsausschusses, BTDrucks. III/1893 zu Nr. 6).
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2. § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG in der Fassung vom 8. Dezember 1972 (BGBl. I S. 2277) ist insoweit, als er Wehrpflichtige, deren sämtliche Brüder an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 81 des Soldatenversorgungsgesetzes verstorben sind, nicht mit in den begünstigten Personenkreis einbezieht, mit dem Grundgesetz vereinbar.
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a) Die beanstandete Regelung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz.
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Art. 3 Abs. 1 GG gewährt dem Gesetzgeber nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine sehr weitgehende Gestaltungsfreiheit. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz liegt nur dann vor, wenn der Gesetzgeber es versäumt, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Welche Sachverhaltselemente so wichtig sind, daß ihre Verschiedenheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigt, hat regelmäßig der Gesetzgeber zu entscheiden. Insbesondere ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob der Gesetzgeber jeweils die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat, sondern lediglich, ob jene äußersten Grenzen gewahrt sind (vgl. BVerfGE 1, 14 [52]; 3, 58 [135]; 4, 219 [243]; 4, 352 [357]; 9, 201 [206]; 9, 334 [337]; 11, 105 [123]; 11, 245 [253]; 11, 283 [287]; 17, 319 [330]; 17, 381 [388]; 18, 288 [298]; 19, 354 [367]; 22, 349 [364]).
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Bei Bestimmung des Personenkreises, für den eine gesetzliche Regelung Anwendung finden soll, steht dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum im Rahmen der Grundwertentscheidungen des Grundgesetzes zur Verfügung. Dieser ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere bei einer rechtsgewährenden Regelung besonders weit. Eine solche Regelung stellt die Ausnahme von der grundsätzlich alle männlichen Bürger treffenden allgemeinen Wehrpflicht dar (vgl. BVerfGE 11, 245 [253]; 17, 210 [216] mit weiteren Nachweisen).
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Für die vom Gesetzgeber in § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG gewählte differenzierende Regelung bestehen Gründe, die diese als gerechtfertigt und nicht als willkürlich erscheinen lassen. Ein gewisses Maß an Ungleichheit ist jeder differenzierenden Regelung eigen; entscheidend aber ist, ob dabei verfassungsrechtliche Grenzen der Wertung von Sachverhalten durch den Gesetzgeber beachtet sind. Das ist im vorliegenden Fall zu bejahen.
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Es gehört zu den tief im Volke verwurzelten Anschauungen, daß das Opfer des Lebens im Krieg etwas anderes ist als der Tod, den der Soldat im Frieden erleidet.
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Die allgemeine Wehrpflicht ist in den Art. 12a und 73 Nr. 1 GG verankert. Ihre Rechtfertigung findet die allgemeine Wehrpflicht darin, daß der Staat seiner in der Verfassung übernommenen Verpflichtung, die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere auch die Grundrechte seiner Bürger zu schützen (Art. 1 Abs. 1 GG), nur mit Hilfe eben dieser Bürger und ihres Eintretens für den Bestand der Bundesrepublik Deutschland nachkommen kann. Dem Schutzanspruch des Einzelnen korrespondiert deshalb die Verpflichtung, sich auch seinerseits für die Belange der im Staat organisierten Gemeinschaft einzusetzen und seinen Beitrag für die Verteidigung jener Ordnung zu leisten, deren Sicherung die Verfassung insgesamt bezweckt. Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens (vgl. Dürig in Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum GG, zu Art. 1 GG, Randnr. 48, 52 i. V. mit Art. 17a GG, Randnr. 2).
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Die Notwendigkeit, Wehrgerechtigkeit im Innern ebenso aufrechtzuerhalten wie Verteidigungsbereitschaft des grundrechtsgarantierenden Staatswesens nach außen, fordert eine hinreichend bestimmte, normative Ausgestaltung der Ausnahmen von der Wehrpflicht. Diesem Erfordernis wird von der in § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG getroffenen Regelung Rechnung getragen.
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Die Ausnahmebestimmung erstreckt sich nur auf einen eng begrenzten und überschaubaren Personenkreis. Dieser Kreis steht bereits in der Gegenwart fest und vermag sich in der Zukunft nur noch auf solche Fälle zu erweitern -- die in der Praxis nicht allzu zahlreich sein dürften --, in denen Geschwister von Wehrpflichtigen an von § 1 BVG erfaßten Spätfolgen versterben. Auch in diesen Fällen tritt die Schädigung nicht neu ein. Es aktualisiert sich lediglich eine im Keim bereits angelegte alte Schädigung. Aus dieser begrenzten Regelung ist eine Gefahr für die Wehrgerechtigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik nicht zu befürchten.
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Würde man hingegen für die Anwendung von § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG Schädigungen im Sinne von § 81 SVG den Schädigungen im Sinne von § 1 BVG gleichstellen, so ergäbe sich eine völlig veränderte Situation: Der Kreis der von § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG begünstigten Personen wäre offen und könnte sich jederzeit nicht unerheblich erweitern. Die Zahl der Ausnahmefälle von der allgemeinen Wehrpflicht würde nicht mehr eine weitgehend gleichbleibende und überschaubare Größe darstellen, sondern unberechenbar werden. Im Verteidigungsfalle ist Klarheit und Überschaubarkeit der die Wehrkraft betreffenden Verhältnisse ein unabdingbares Erfordernis. Fehlen Klarheit und Überschaubarkeit, so führt eine solche Regelung im Zusammenhang mit etwaigen Verlusten bei den Streitkräften zu einer ständig steigenden Anzahl von Ausnahmefällen. Damit würden nicht nur notwendige Dispositionen für die Zukunft erheblich erschwert, sondern die Verteidigung der Bundesrepublik ernstlich gefährdet und im Extremfall unmöglich gemacht.
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Zudem trägt die Regelung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG einer ganz bestimmten und einmaligen historischen Situation Rechnung: Es gab zu Ende des zweiten Weltkrieges in Deutschland kaum eine Familie, die nicht durch Tod oder Vermißtsein von Angehörigen schwer getroffen war. Millionen von Deutschen waren infolge des Krieges aus ihrer Heimat vertrieben worden; die militärische Niederlage hatte das staatliche und wirtschaftliche Leben weithin zusammenbrechen lassen. Diese Umstände führten damals zu einer besonders kritischen und ablehnenden Mentalität gerade der schwerstbetroffenen Familien gegenüber dem Wehrdienst. In diesem Zusammenhang müssen die von § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG -- 11 Jahre nach dem Zusammenbruch -- statuierten Wehrpflichtausnahmen gesehen werden. Dies erklärt die Ausnahmeregelung der §§ 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG, 1 BVG auch für solche Fälle, in denen der Tod zwar im Zusammenhang mit dem Dienst in der ehemaligen deutschen Wehrmacht, nicht hingegen im Zusammenhang speziell mit kriegerischen Ereignissen eingetreten ist.
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Der geschichtliche Hintergrund der Bundeswehr ist ein anderer als der der Wehrmacht des Dritten Reiches.
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Die von §§ 80, 81 SVG erfaßten Schädigungen im Dienst der Bundeswehr sind Einzelunfälle, wie sie sich mit derselben Tragik auch außerhalb dieses Dienstes -- etwa bei der Ausübung eines zivilen Berufes oder im Straßenverkehr -- ereignen können. Dies wird gerade auch am Fall des Bruders des Beigeladenen im Ausgangsverfahren deutlich, der während der Eisenbahnfahrt zu seiner Truppe aus dem fahrenden Zug gestürzt und dadurch ums Leben gekommen ist.
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Endlich darf folgendes nicht außer acht bleiben: Mit der Wiedereinführung von Streitkräften nach dem zweiten Weltkrieg stellte sich die schwere Aufgabe, die neuen Verteidigungsstreitkräfte möglichst weitgehend freizuhalten von Vorurteilen und der psychologischen Bürde der Vergangenheit. Die Ausnahmeregelung des § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG war geeignet, bei dieser Aufgabe mitzuwirken. Sie stellte einen Personenkreis vom Dienst in der Bundeswehr frei, von dem infolge der schweren Opfer der Vergangenheit typischerweise zu erwarten war, daß er der Bundeswehr nicht ohne Vorbehalte gegenübertreten würde.
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Derselbe Gesichtspunkt trifft für Wehrpflichtige, deren Geschwister im Zusammenhang mit der Bundeswehr ums Leben gekommen sind, nicht in gleicher Weise zu. Zwar wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei ihnen eine seelische Belastung bestehen. Diese wurzelt jedoch nicht in der Zeit des zweiten Weltkrieges und des Zusammenbruchs. Sie ist infolgedessen nicht geeignet, die Bundeswehr mit ihr fremden Hypotheken aus der Vergangenheit zu belasten.
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b) An diesem Ergebnis ändert sich auch nichts im Hinblick auf die in den Art. 6 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG getroffenen Grundwertentscheidungen der Verfassung.
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Zwar bezweckt Art. 6 Abs. 1 GG nicht nur den Schutz von Ehe und Familie gegen Benachteiligungen, sondern enthält auch ein Gebot zur Förderung von Familie und Ehe (vgl. BVerfGE 28, 104 [113]). Ein solches Gebot wird jedoch nicht verletzt durch die Einziehung eines Sohnes -- und sei es auch des letzten -- zur Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht. Diese ist -- wie bereits oben festgestellt -- eine verfassungsmäßige Pflicht, der alle männlichen Bürger in gleicher Weise unterliegen.
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Art. 20 Abs. 1 GG verlangt zwar, daß die staatliche Gemeinschaft in der Regel Lasten mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal, namentlich durch Eingriffe von außen, entstanden sind und mehr oder weniger zufällig nur einige Bürger oder bestimmte Gruppen getroffen haben (BVerfGE 27, 253 [283]). Bei der Gestaltung des Ausgleichs ist der Gesetzgeber jedoch in den Grenzen der Verfassung frei. Insbesondere können von ihm auf Grund von Art. 20 Abs. 1 GG nicht ganz bestimmte Einzelregelungen, wie etwa im vorliegenden Fall eine ganz konkrete Ausnahme von der Wehrdienstpflicht, gefordert werden. Die Situation wäre anders, wenn der Gesetzgeber etwa jede Fürsorge für die im Dienst der Bundeswehr geschädigten Personen und ihre Hinterbliebenen hätte vermissen lassen (vgl. BVerfGE 11, 50 [56]; 17, 210 [216]; 19, 354 [368]).
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Seuffert v. Schlabrendorff Rupp Geiger Hirsch Rottmann Wand |
Abweichende Meinung der Richter Vizepräsident Seuffert und Martin Hirsch zur Begründung des Beschlusses des Zweiten Senats vom 5. November 1097 - 2 BvL 6/71 -. |
Wir stimmen dem Beschluß mit folgender Begründung zu:
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1. Wir gehen mit der Begründung des Beschlusses davon aus, daß § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG angesichts des Wortlauts und der Gesetzesmaterialien sowie des Zusammenhangs der Gesetzesberatungen nicht anders ausgelegt werden kann als dahin, daß er nur diejenigen vom Wehrdienst befreit, deren Geschwister infolge von Schädigungen im Sinne des § 1 BVG und des § 1 BEG verstorben sind, nicht jedoch diejenigen, deren Brüder infolge einer Wehrdienstbeschädigung im Sinne des Soldatenversorgungsgesetzes verstorben sind.
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2. Diese Regelung verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
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a) § 1 BVG regelt Versorgungsansprüche sowohl der eigentlichen "Kriegsopfer", bei denen nicht in allen Fällen ein militärisches oder anderes Dienstverhältnis Voraussetzung des Versorgungsanspruchs ist, als auch derjenigen, die in einem militärischen oder militärähnlichen Dienstverhältnis (§§ 2, 3 BVG) vor dem Ende des zweiten Weltkrieges gestanden haben. In den letzteren Fällen werden also auch Ansprüche gegeben wegen Dienstunfällen usw. vor dem Kriege im Dienste der Reichswehr und Wehrmacht und in den übrigen im Bundesversorgungsgesetz bezeichneten Dienstverhältnissen.
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b) Soweit § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG den Brüdern eigentlicher "Kriegsopfer" die Wehrpflichtbefreiung auf Antrag zugestanden hat, den Brüdern von an Wehrdienstbeschädigungen im Sinne des Soldatenversorgungsgesetzes Verstorbenen dagegen nicht, ist das unter Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden. Die Behandlung von Kriegsopfern und ihren Hinterbliebenen steht -- wie auch in der Begründung des Beschlusses hervorgehoben wird -- nach tiefverwurzelten Anschauungen so außerhalb jeder Vergleichbarkeit mit anderen Fällen, daß Folgerungen aus Regelungen für Kriegsopfer auf andere Regelungen für Fälle, in denen fraglos kein "Kriegsopfer" gegeben ist, nicht gezogen werden können. Das muß erst recht gelten, wenn, wie in § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG, die "Erhaltung der Familie durch den einzigen Sohn" gesichert werden soll, eine Zielsetzung, die irrationale Elemente enthält, die mit denjenigen eng verwandt sind, auf denen die Sonderstellung der Kriegsopfer in der allgemeinen Anschauung beruht. Wenn hier den Versorgungsansprüchen der Hinterbliebenen von Kriegsopfern auch der Anspruch auf Erhaltung der Familie durch Wehrdienstbefreiung für den "einzigen Sohn" hinzugefügt wurde, so verlangt Art. 3 Abs. 1 GG nicht, daß eine solche Begünstigung auf irgendeinen anderen Personenkreis ausgedehnt wird.
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Das gleiche gilt in verstärktem Maße für die Wehrdienstbefreiung derjenigen, deren Geschwister an Verfolgungsschäden (§ 1 BEG) verstorben sind. Begünstigungen für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung sind mit keiner anderen Regelung vergleichbar und erlauben keine Rückschlüsse aus Art. 3 Abs. 1 GG auf andere Fälle.
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c) Es bleibt jedoch die Frage, ob es mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, den Hinterbliebenenfamilien von Personen, die, ohne Kriegsopfer zu sein, in Friedenszeiten infolge einer Dienstbeschädigung im militärischen oder militärähnlichen Dienst verstorben waren, die Wehrdienstbefreiung ihres "einzigen Sohnes" zu gewähren, nicht aber den Familien derjenigen, die im Wehrdienst der Bundesrepublik wegen einer Dienstbeschädigung zu Tode gekommen sind.
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Dabei muß bedacht werden, welche Alternativen für eine andere Regelung dem Gesetzgeber zur Verfügung gestanden hätten.
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Wollte man, wie das vorlegende Gericht, aber auch die Bundesminister der Justiz und des Innern offenbar empfehlen wollen, die Vergünstigung der Wehrdienstbefreiung auch denjenigen gewähren, deren Brüder infolge von Dienstbeschädigungen im Sinne des Soldatenversorgungsgesetzes verstorben sind, so entstünde die Frage, ob es mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, in diesem Zusammenhang Dienstbeschädigungen im Wehrdienst anders zu behandeln als Dienstbeschädigungen in irgendeinem anderen öffentlichen Dienst. Daß es sich um einen "militärischen" Dienst im Gegensatz zu den übrigen Diensten handelt, könnte zur Rechtfertigung einer solchen Differenzierung keinesfalls ausreichen. Wollte man darauf abstellen, daß der Wehrpflichtige nicht, wie es sonst der Fall ist, freiwillig in das Dienstverhältnis getreten ist, so müßten längerdienende Soldaten, Berufssoldaten und diejenigen, die freiwilligen Wehrdienst leisten, von der Begünstigung ausgeschlossen werden, eine Konsequenz, die mit dem Gesamtziel der Verteidigung offensichtlich nicht verträglich wäre. Die Ausdehnung der Begünstigung auf die Familien aller infolge von Dienstbeschädigungen im öffentlichen Dienst Verstorbenen, die dann als letzte Möglichkeit übrig bliebe, würde jedoch in noch viel stärkerem Ausmaß, als das im Beschluß für den Fall der Einbeziehung nur der Fälle des § 81 SVG dargestellt ist, das Potential der Verteidigung mit einem dauernden, sich ständig erneuernden und vergrößernden Unsicherheitsfaktor von erheblicher Bedeutung belasten. Eine sachlich vertretbare und mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbare Lösung im Sinne der Ausweitung der Vergünstigung ist deswegen nicht abzusehen.
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Die andere Alternative, nämlich der Ausschluß derjenigen Fälle des § 1 BVG aus der Begünstigung, bei denen es sich nicht um Kriegsopfer handelt, wäre an sich zu verwirklichen. Soweit daraus hergeleitet werden könnte, § 11 Abs. 2 Nr. 1 WPflG verstoße insoweit gegen Art. 3 Abs. 1 GG, als er auch diejenigen Fälle des § 1 BVG in die Begünstigung einbezieht, bei denen es sich nicht um Kriegsopfer handelt, wäre das kein für das vorlegende Gericht entscheidungserhebliches Ergebnis. Ein solcher Verstoß ist aber auch bezüglich der Begünstigung dieser Gruppe ebenso zu verneinen wie bezüglich des Ausschlusses der anderen Gruppe von der Begünstigung. Daß das Bundesversorgungsgesetz in die Versorgungsregelung für Kriegsopfer auch die Versorgung für die Folgen von Dienstschäden im militärischen oder militärähnlichen Dienst vor dem Kriege einbezog, war nicht gänzlich sachfremd. Das Wehrpflichtgesetz hätte zur Trennung dieser Gruppe von den eigentlichen Kriegsopfern Unterscheidungen einführen müssen, die dem Versorgungsrecht fremd sind. Das konnte aber nicht verlangt werden. Die eine Gruppe -- "einzige Söhne" aus Familien, die durch einen Todesfall infolge eines Schadensfalles nach § 1 BVG betroffen waren, ohne daß ein "Kriegsopfer" vorlag -- und die andere Gruppe -- die bei Wahrung von Art. 3 Abs. 1 GG die einzigen Söhne aus allen Familien umfassen müßte, die durch einen Todesfall nach Dienstbeschädigung im öffentlichen Dienst betroffen wurden -- sind in ihrer Bedeutung für die Wehrpflicht und für das Verteidigungspotential so verschieden, daß eine differenzierende Behandlung im Wehrrecht sachgerecht sein kann, ohne gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu verstoßen. Im einen Fall handelt es sich um eine kleine, aussterbende, für die Grundlagen der Wehrpflicht bedeutungslose Gruppe. Im anderen Fall würde es sich um eine große und ständig anwachsende Gruppe handeln, deren Einbeziehung die Grundlagen der Wehrpflicht erheblich verändern könnte. Unter diesen Umständen verlangt Art. 3 Abs. 1 GG nicht die Gleichbehandlung dieser beiden Gruppen im Wehrrecht.
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Seuffert Hirsch |