BVerfGE 52, 277 - Tanzveranstaltungen
Es liegt innerhalb der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und ist nicht grundgesetzwidrig, wenn nach § 4 Abs. 2 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit Jugendlichen ab 16 Jahren die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen von 22 bis 24 Uhr nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten gestattet werden darf.
 
Beschluß
des Ersten Senats vom 16. Oktober 1979 gemäß § 24 BVerfGG
– 1 BvL 51/79 –
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 4 Abs. 2 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit – Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts Merzig vom 9. April 1979 (5 OWi 111/79) –.
 
Entscheidungsformel:
§ 4 Absatz 2 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit vom 27. Juli 1957 (Bundesgesetzbl. I S. 1058) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
 
Gründe:
I.
Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß nach dem Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit Jugendlichen von 16 Jahren und darüber die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen ab 22 Uhr bis 24 Uhr nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten gestattet werden darf.
1. § 4 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit – im folgenden: JSchöG – in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 27. Juli 1957 (BGBl. I S. 1058) lautet:
    § 4
    (1) Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren darf die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen nicht gestattet werden.
    (2) Jugendlichen von sechzehn Jahren oder darüber darf die Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen bis 24 Uhr gestattet werden, jedoch ab 22 Uhr nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten.
    (3) Ausnahmen von Absatz 1 und 2 können auf Vorschlag der in § 2 des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922
    (Reichsgesetzbl. I S. 633) vorgesehenen Organen (Landesjugendamt, Jugendamt) zugelassen werden.
2. Der Landrat des Kreises Merzig-Wadern hat gegen die Inhaberin einer Diskothek eine Geldbuße von 100 DM wegen eines Verstoßes gegen § 4 und § 14 JSchöG verhängt, weil 11 Jugendliche von 16-18 Jahren während einer öffentlichen Tanzveranstaltung nach 23 Uhr in den Räumen ihrer Diskothek verweilten, obwohl sie nicht in Begleitung eines Erziehungsberechtigten waren. Gegen den Bußgeldbescheid hat die Betroffene Einspruch eingelegt. Das Amtsgericht hat in der Hauptverhandlung das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG das Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung der Frage angerufen, ob § 4 Abs. 2 JSchöG mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Zur Begründung der Vorlage führt das Amtsgericht aus, daß es § 4 Abs. 2 JSchöG für verfassungswidrig halte, weil das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit gleichartige Sachverhalte ungleich behandele. Die Betroffene hätte in dem vorderen Raum ihres Etablissements, der als normale Gaststätte ausgestaltet sei, Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren unbeschränkt Alkohol – mit Ausnahme von Branntwein – trinken lassen dürfen (§ 3 JSchöG). Es sei kein Gesichtspunkt einzusehen, der das Tanzen als jugendgefährdender erscheinen lassen könnte als das Sichbetrinken. Vielmehr sei nach den Erkenntnissen der Jugendpsychologie auf Grund Alkoholkonsums eher mit Aggressionshandlungen zu rechnen als auf Grund des Tanzens.
Die einzige Erklärung, die für die unterschiedliche Altersgrenze in den §§ 3 und 4 des genannten Gesetzes sprechen könnte, sei eine überholte und durch keinerlei Ermessensentscheidung zu rechtfertigende Tabuisierung sexueller oder erotischer Handlungen. Der Staat handle willkürlich, wenn er ein Verhalten, das objektiv ungefährlicher sein dürfte als der Alkoholkonsum, nämlich das Tanzen, einem höheren Rechtswidrigkeitsvorwurf unterstelle.
§ 4 Abs. 2 JSchöG verstoße daher gegen die allgemeine Handlungsfreiheit und den Gleichheitssatz. Auch könnte die Freiheit der Gewerbeausübung angesprochen sein.
II.
Die Vorlage ist zulässig; die Auffassung des vorlegenden Gerichts ist jedoch unbegründet im Sinne des § 24 BVerfGG.
1. Der Gleichheitssatz ist nicht verletzt.
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln (BVerfGE 11, 192 [203]). Bei der Anwendung des Gleichheitssatzes ist daher stets zu fragen, ob eine Person oder Gruppe durch die als gleichheitswidrig angegriffene Vorschrift ohne sachlich vertretbaren, d.h. ohne rechtlich zureichenden Grund – also willkürlich – anders (schlechter) gestellt wird als eine andere Personengruppe, die man als vergleichbar ihr gegenüberstellt (vgl. BVerfGE 22, 387 [415]). Die beanstandete Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 JSchöG behandelt alle Betroffenen, das sind die Jugendlichen ab 16 Jahren, gleich, insofern ihre Anwesenheit bei öffentlichen Tanzveranstaltungen von 22 bis 24 Uhr nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten gestattet werden darf.
Das vorlegende Gericht vergleicht die in § 4 Abs. 2 Satz 2 JSchöG getroffene Regelung mit derjenigen des § 2 und des § 3 JSchöG, wonach Jugendliche ab 16 Jahren sich in Gaststätten nach 22 Uhr ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten aufhalten und an sie alkoholische Getränke – mit Ausnahme von Branntwein – abgegeben werden dürfen. Abgesehen davon, daß es sich hier um einen anderen Sachverhalt handelt, kann die Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 JSchöG auch unter diesem Gesichtspunkt nicht als willkürlich beurteilt werden. Nach Art. 3 Abs. 1 GG ist der Gesetzgeber zwar gehalten, wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 4, 144 [155]; st. Rspr.); dabei kommt dem Gesetzgeber jedoch eine weitgehende Gestaltungsfreiheit zu. Das Bundesverfassungsgericht kann nur die Überschreitung äußerster Grenzen beanstanden. Eine gesetzliche Regelung ist nur dann als willkürlich anzusehen, wenn ihre Unsachlichkeit evident ist (BVerfGE 12, 326 [333]; 14, 142 [150]; 19, 101 [115]; 23, 135 [143]). Ob der Gesetzgeber die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat, hat das Bundesverfassungsgericht nicht nachzuprüfen (BVerfGE 1, 14 [52]; 38, 154 [166] m.w.N.).
Das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit will Gefährdungen vorbeugen, denen die heranwachsende Generation im Bereich des öffentlichen Lebens ausgesetzt ist. Auf welchem Wege und mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden soll, ist der Entscheidung des Gesetzgebers anheimgegeben. Maßgebend für die Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 2 JSchöG war die Überlegung, daß nicht so sehr der Tanz selbst jugendgefährdend ist, als vielmehr die Atmosphäre eines öffentlichen Tanzlokals, insbesondere in vorgerückter Stunde. Deshalb sollen Jugendliche auf öffentlichen Tanzveranstaltungen nach 22 Uhr nur dann geduldet werden, wenn sie von einem Erziehungsberechtigten begleitet sind. Dieser soll darüber entscheiden, ob er die Anwesenheit seines Sohnes, seiner Tochter oder des von ihm in Obhut genommenen Jugendlichen nach 22 Uhr für vertretbar hält oder nicht (vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Jugendfragen über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit, BT-Drucks. II/3565, S. 2, zu § 4). Diese Begründung der getroffenen Regelung ist unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes und bei einer Orientierung an der durchschnittlichen Lebenserfahrung vertretbar, jedenfalls nicht evident unsachlich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß § 4 Abs. 3 JSchöG Ausnahmen von der Bestimmung des § 4 Abs. 2 JSchöG zuläßt. Die vom vorlegenden Gericht herausgestellten Merkmale "sich betrinken" und "tanzen" sind damit für eine Beurteilung der getroffenen Regelungen am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG keine geeigneten Vergleichssachverhalte.
2. § 4 Abs. 2 JSchöG verstößt auch nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG.
Soweit § 4 Abs. 2 JSchöG in Verbindung mit § 13 und § 14 JSchöG Veranstaltern und Gewerbetreibenden Pflichten auferlegt, stellt er eine Berufsausübungsregelung im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG dar. Soweit die Bestimmung Jugendliche betrifft, wird deren allgemeine Handlungsfreiheit eingeschränkt.
a) Eine Berufsausübungsregelung ist verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt erscheint, das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Zweckes verhältnismäßig (geeignet und erforderlich) und die Beschränkung den Betroffenen zumutbar ist (vgl. BVerfGE 46, 120 [145] m.w.N.). Bei der Anwendung dieses Prüfungsmaßstabes ist im vorliegenden Fall zu beachten, daß die beanstandete Regelung keinen unmittelbar berufsregelnden Charakter hat, sondern in erster Linie dem Zwecke des Jugendschutzes dient. In solchen Fällen gebührt dem Gesetzgeber ein weiterer Raum der Beurteilung und Gestaltung als in denjenigen unmittelbarer Regelung.
Zwar ist nicht zu verkennen, daß die praktische Anwendung des § 4 Abs. 2 JSchöG für den Veranstalter oft mit Schwierigkeiten verbunden sein mag. Die dadurch gegebenen Belastungen sind jedoch weder unverhältnismäßig groß noch für die Betroffenen unzumutbar, zumal da gemäß § 4 Abs. 3 JSchöG Ausnahmen zugelassen werden können. Die Bestimmung des § 4 Abs. 2 JSchöG genügt daher den Anforderungen, die an die Verfassungsmäßigkeit einer Berufsausübungsregelung zu stellen sind.
b) Die zur Prüfung gestellte Vorschrift gehört zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und schränkt die allgemeine Handlungsfreiheit der betroffenen Jugendlichen in verfassungsrechtlich zulässiger Weise ein; denn sie ist sowohl mit Art. 3 Abs. 1 GG als auch mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar; ein Verstoß gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes ist nicht ersichtlich. Sie beschwert die betroffenen Jugendlichen weder unverhältnismäßig noch unzumutbar.
(gez.) Dr. Benda Dr. Böhmer Dr. Simon Dr. Faller Dr. Katzenstein Dr. Niemeyer Dr. Heußner