BVerfGE 88, 173 - Bosnien-Herzegowina
 
Urteil
– 2 BvE 5/93, 2 BvQ 11/93 –
in den Verfahren 1. über den Antrag festzustellen, daß die Entscheidungen a) der Bundesregierung vom 2. April 1993, die Soldaten der deutschen Bundeswehr auch bei der durch VN-Sicherheitsrats-Resolution 816 nun angelegten militärischen Durchsetzung der Überflugverbote über Bosnien in den AWACS-Frühwarn- und Einsatzführungssystemen dritter Staaten weiter Dienst tun zu lassen bzw. sie von dort nicht zurückzurufen sowie b) des Bundesministers der Verteidigung, die betreffenden Soldaten eben diesen Dienst in den AWACS-Maschinen auch in der jetzigen Phase möglicher militärischer Verwicklung weiter ausüben zu lassen, gegen Art. 20 Abs. 3 sowie gegen Art. 87 a Abs. 2, 79 Abs. 1 und 2 GG verstoßen, hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, Antragsteller: 1) Fraktion der F.D.P. im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Vorsitzenden, Bundeshaus, Bonn, 2) Frau Ina Albowitz und weitere 54 Abgeordnete der F.D.P.-Bundestagsfraktion, Bundeshaus, Bonn, – Bevollmächtigter zu 1) und 2): Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Graf-Spee-Straße 18 a, Kiel –, Bevollmächtigter zu 1): Rechtsanwalt Prof. Dr. Rüdiger Zuck, Robert-Koch-Straße 2, Stuttgart –, Antragsgegner: 1) die Bundesregierung, vertreten durch den Bundeskanzler, Adenauerallee 139/141, Bonn, 2) der Bundesminister der Verteidigung, Hardthöhe, Bonn, – Bevollmächtigter zu 1) und 2): Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, Tannenstraße 2, Baldham – 2 BvE 5/93 –; 2. über den Antrag, im Wege der einstweiligen Anordnung a) die Durchführung des Beschlusses des Bundeskabinetts vom 2. April 1993, mit dem der Verbleib der Soldaten der Bundeswehr in den zur Überwachung des Luftraums über Bosnien-Herzegowina eingesetzten AWACS-Flugzeugen angeordnet wird, einstweilen bis zur Entscheidung über den alsbald anzustrengenden Organstreit auszusetzen und b) die Antragsgegnerin anzuweisen, die Soldaten der Bundeswehr aus den zur Überwachung des Luftraums über Bosnien-Herzegowina eingesetzten AWACS-Flugzeugen einstweilen bis zur Entscheidung über den alsbald anzustrengenden Organstreit abzuziehen, Antragstellerin: Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Vorsitzenden, Bundeshaus, Bonn, – Bevollmächtigter: Prof. Dr. Michael Bothe, Theodor-Heuss-Straße 6, Bensheim –, Antragsgegnerin: die Bundesregierung, vertreten durch den Bundeskanzler, Adenauerallee 139/141, Bonn, – Bevollmächtigter: Prof. Dr. Dieter Blumenwitz, Tannenstraße 2, Baldham – 2 BvQ 11/93 –.
 
Entscheidungsformel:
Die Anträge werden abgelehnt.
 
Gründe:
 
A.
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfahren betreffen den Beschluß der Bundesregierung über die Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung des von den Vereinten Nationen verhängten Flugverbotes im Luftraum über Bosnien-Herzegowina.
I.
1. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhängte mit der Resolution 781 vom 9. Oktober 1992 ein Flugverbot für Militärflugzeuge im Luftraum über Bosnien-Herzegowina und ersuchte die Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR), es zu überwachen. Die Mitglieder der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) übernahmen diese Aufgabe und setzten dazu AWACS (Airborne Warning and Control System – luftgestütztes Frühwarn- und Kontrollsystem)-Fernaufklärer ein, in denen Soldaten verschiedener NATO-Mi[t]gliedsländer als integrierte Einheit tätig sind. Mit diesen Flugzeugen werden Flugbewegungen aus großer Höhe erfaßt; sie können zugleich als Feuerleitstand für den Einsatz von Jagdflugzeugen gegen gegnerische Flugzeuge dienen. Etwa ein Drittel des militärischen Personals des AWACS-Verbandes sind Soldaten der Bundeswehr in verschiedenen Funktionen.
Am 31. März 1993 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 816, deren hier maßgebliche Bestimmungen in Nrn. 1 und 4 lauten:
    Der Sicherheitsrat ... in Ausführung des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen ...
    1. beschließt, das durch die Resolution 781 (1992) erlassene Verbot auf alle Flüge mit Starrflügel- oder Drehflügelluftfahrzeugen im Luftraum der Republik Bosnien und Herzegowina auszudehnen, wobei dieses Verbot nicht für von UNPROFOR nach Absatz 2 genehmigte Flüge gilt;
    4. ermächtigt die Mitgliedstaaten, sieben Tage nach der Verabschiedung dieser Resolution im Auftrag des Sicherheitsrats sowie unter der Voraussetzung, daß sie eng mit dem Generalsekretär und UNPROFOR zusammenarbeiten, einzeln oder durch regionale Organisationen oder Abmachungen im Falle weiterer Verstöße alle notwendigen Maßnahmen im Luftraum der Republik Bosnien und Herzegowina zu ergreifen, um die Einhaltung des in Absatz 1 genannten Flugverbotes unter angemessener Berücksichtigung der jeweiligen Umstände sowie der Art der Flüge sicherzustellen; ...
Am 2. April 1993 traf die Bundesregierung gegen die Stimmen der F.D.P.-Minister folgende Entscheidung:
    4. Sie [die Bundesregierung] ist einverstanden, daß der NATO-AWACS-Verband nunmehr in Übereinstimmung mit Sicherheitsratsresolution 816 vom 31.03.1993 auch unter deutscher Beteiligung daran mitwirkt, dieses Flugverbot durchzusetzen."
Der NATO-Rat erklärte mit Beschluß vom 2. April 1993 seine Bereitschaft, die Umsetzung der vom Sicherheitsrat beschlossenen Resolution 816 zu unterstützen. Er bestätigte darüber hinaus seine Zustimmung zu den einzelnen Durchsetzungsphasen, den Einsatzrichtlinien sowie den sonstigen Planungen.
2. Die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses der Bundesregierung ist zwischen den Mitgliedern, die den Unionsparteien angehören, und denen, die F.D.P.-Mitglieder sind, sowie zwischen den Koalitionsparteien umstritten. Man kam überein, daß die Bundesregierung mit der Mehrheit ihrer Mitglieder den Beschluß fassen könne, die F.D.P.-Fraktion hiergegen aber einen Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen werde mit dem Ziel, die Verfassungswidrigkeit dieses Beschlusses feststellen zu lassen; mit diesem Antrag sollte ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung verbunden werden, um den Vollzug der Regierungsentscheidung zu hindern. Solche Anträge haben die Antragsteller im Verfahren 2 BvE 5/93 gestellt.
3. Die Bundestagsfraktion der SPD hält den Beschluß der Bundesregierung ebenfalls für verfassungswidrig und beantragt den Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
II.
1. Die Antragsteller vertreten die Auffassung, die Entscheidung der Bundesregierung verletze die Rechte des Bundestages; die Fraktionen seien befugt, diese Rechte im Wege der Prozeßstandschaft geltend zu machen. Die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion seien darüberhinaus in eigenen parlamentarischen Mitwirkungsrechten verletzt.
Der Kampfeinsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Bündnisgebietes ohne Eintritt des Bündnisfalles sei weder durch Art. 87 a Abs. 2 GG noch durch Art. 24 Abs. 2 GG gedeckt. Hierfür hätte es einer Änderung des Grundgesetzes bedurft. Art. 87 a Abs. 2 GG statuiere im Erfordernis eines "ausdrücklichen" Zulassens des Streitkräfteeinsatzes einen spezifischen Übergehungsschutz zugunsten des verfassungsändernden Gesetzgebers. Die SPD-Fraktion macht darüber hinaus geltend, daß die Bundesregierung durch den angegriffenen Beschluß an einem inhaltlichen Wandel der NATO- und WEU-Verträge mitwirke und dadurch Rechte des Bundestages aus Art. 59 Abs. 2 GG verletze. Außerdem fehle die gesetzliche Grundlage, um deutsche Soldaten dem Kommando des NATO-Oberbefehlshabers Europa zu unterstellen.
2. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung sei zur Abwehr schwerer Nachteile zum gemeinen Wohl dringend geboten. Leben und Gesundheit deutscher Soldaten würden gefährdet, ohne daß dies parlamentarisch entschieden und verantwortet worden sei. Die militärische Durchsetzung des Flugverbotes stelle eine bewaffnete kriegerische Konfrontation dar. Dies könne den Soldaten der Bundeswehr und ihren Angehörigen nur auf der Grundlage einer gesicherten Rechtslage zugemutet werden.
Sollte die einstweilige Anordnung nicht ergehen und kämen deshalb Soldaten zu Schaden, werde die angegriffene Maßnahme später jedoch im Hauptsacheverfahren für verfassungswidrig erklärt, so wäre dies für "die soziologische Verfassung des deutschen Staates, das Integrationsgefühl der Bürger und die Rechtfertigungsnachfrage der Betroffenen geradezu verheerend".
Die SPD-Fraktion macht geltend, die Bundesrepublik schaffe durch die Beteiligung an der Militäraktion einen für sie völkerrechtlich verbindlichen Vertrauenstatbestand und enge faktisch den Spielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers ein. Allein deshalb sei die Beteiligung des Parlamentes nach Art. 59 Abs. 2 GG erforderlich. Der Entscheidung der Bundesregierung liege eine neue Verfassungsauslegung zugrunde; sollte diese keinen Bestand haben, so beeinträchtige der neuerliche Wechsel das Vertrauen der Soldaten und der Verbündeten in die Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der Bundesrepublik.
Das AWACS-System bleibe auch ohne deutsche Beteiligung funktionsfähig. Der wesentliche Schaden einer einstweiligen Anordnung könne nur auf politischem Gebiet liegen; sie beende jedoch den politischen Begründungsnotstand für die deutsche Zurückhaltung bei der Beteiligung an internationalen militärischen Maßnahmen zur Friedenssicherung überzeugend und belege die Kraft des deutschen Rechtsstaates.
Die verfassungsrechtlichen Beschränkungen des Einsatzes der Bundeswehr seien im Ausland bekannt. Es werde nicht erwartet, daß die Bundesrepublik sich über ihre Verfassung hinwegsetze. Umgekehrt könnte eine Änderung der Praxis ohne Änderung der Verfassung oder ohne eine verfassungsgerichtliche Klarstellung den Eindruck erwecken, die bisher vorgebrachten Bedenken seien nicht gewichtig, ja sogar nur vorgeschoben gewesen. Da zur Beteiligung an den militärischen Maßnahmen aufgrund der Sicherheitsratsresolution weder aufgrund der VN-Charta noch des NATO-Vertrages eine Verpflichtung bestehe, könne der Bundesrepublik nicht die Nichterfüllung ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgehalten werden.
III.
Die Antragsgegner halten die Anträge für unzulässig, jedenfalls für unbegründet.
1. Den Fraktionen fehle die Antragsbefugnis, weil zwischen ihnen und der Bundesregierung nicht das erforderliche verfassungsrechtliche Rechtsverhältnis bestehe. Art. 87 a Abs. 2 GG sei nicht dazu bestimmt, Rechte des Bundestages zur Gesetzgebung zu gewährleisten.
2. a) Die Zulässigkeit von Kampfeinsätzen von Soldaten der Bundeswehr im Rahmen der NATO zur Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen, die vom VN-Sicherheitsrat verhängt worden sind, ergebe sich aus Art. 24 Abs. 2 GG. Art. 87 a Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen. Dieser Einsatz der Streitkräfte verlange keine Mitwirkung des Parlaments.
b) Der Verbleib der deutschen Soldaten an Bord der AWACS-Flugzeuge führe zu keiner in die Zukunft wirkenden allgemeinen völkerrechtlichen Bindung der Bundesrepublik. Die Bundesregierung könne völkerrechtlich ihre Haltung in den NATO-Gremien und gegenüber den Vereinten Nationen ändern und die deutschen Soldaten aus dem AWACS-Verband zurückziehen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber werde deshalb nicht vor vollendete Tatsachen gestellt.
Die Gefahren für die deutschen Soldaten in den AWACS-Flugzeugen seien nicht größer als bei den seit Monaten laufenden Überwachungsflügen und geringer als bei den humanitären Hilfsflügen. Die behaupteten konkreten Gefährdungen seien wegen der Einsatzbedingungen nicht gegeben.
Erginge die einstweilige Anordnung, bliebe der Organstreit in der Hauptsache aber erfolglos, so ergäben sich schwerwiegende Nachteile für die Bundesrepublik. Ohne deutsche Beteiligung sei die Einsatzfähigkeit des AWACS-Verbandes in Frage gestellt, jedenfalls aber nachhaltig eingeschränkt. Das von den Vereinten Nationen verhängte Flugverbot sei zeitlich und räumlich nur noch lückenhaft durchzusetzen.
Bündnispolitisch würde der Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu einem Vertrauensverlust bei den NATO-Partnern führen, der letztlich die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands mindere. Das Zurückziehen deutscher Kräfte aus einem integrierten Verband komme einer Aufkündigung der Bündnissolidarität gleich. Die Bundesrepublik habe die Solidarität ihrer Partner immer wieder eingefordert. Bei einem Abzug des deutschen Personals aus dem AWACS-Verband würde gerade in dem Augenblick das die NATO-Allianz ausmachende Prinzip der Gegenseitigkeit unterlaufen, in dem die Partnerstaaten Solidarität erwarteten. Zugleich werde die Entwicklung von Strategie und Organisation der NATO, die sich in Richtung auf multinationale Verbände bewege, empfindlich gestört.
IV.
In der mündlichen Verhandlung haben sich Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung sowie Generale der Bundeswehr geäußert. Der Generalsekretär der NATO hat zu bündnispolitischen Fragen Stellung genommen.
 
B.
Eine einstweilige Anordnung kann nicht ergehen.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen betroffen ist (vgl. auch BVerfGE 83, 162 [171 f.]).
Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht wägt die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl. BVerfGE 86,390 [395]; st. Rspr.).
2. Der Antrag der Antragsteller im Verfahren 2 BvE 5/93 und der angekündigte Antrag der Antragstellerin im Verfahren 2 BvQ 11/93 gegen die Bundesregierung sind weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Diese Anträge sind insbesondere nicht deshalb unzulässig, weil es etwa an einer Maßnahme im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG fehlte. Der Beschluß der Bundesregierung vom 2. April 1993 stellt eine solche Maßnahme dar. Er entscheidet mit rechtserheblicher Wirkung über die Teilnahme deutscher Soldaten an der Überwachung und Durchsetzung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina durch den NATO-AWACS-Verband nach Maßgabe der Resolutionen 781, 786 und 816 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Seine Umsetzung bedarf, wie sich auch aus der mündlichen Verhandlung ergeben hat, selbst dann keiner erneuten Beschlußfassung durch die Bundesregierung, wenn das Bundesverfassungsgericht die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung als unzulässig verwerfen oder mit der Begründung zurückweisen würde, der Organstreit sei unzulässig. Dies hat Bundesminister Bohl in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt. Dem Beschluß liegt danach auch kein mündlicher oder stillschweigender Vorbehalt dieses Inhalts zugrunde. Die Möglichkeit, daß der Beschluß bei veränderter politischer Lage aufgehoben oder geändert werden könnte, bedeutet nicht, daß ihm Rechtserheblichkeit nicht zukäme.
Einer weiteren Prüfung der Zulässigkeit der Organstreitverfahren bedarf es nicht, weil die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung aufgrund der gebotenen Folgenabwägung keinen Erfolg haben.
3. a) Ergeht die einstweilige Anordnung, erweist sich aber der Einsatz deutscher Soldaten später verfassungsrechtlich als zulässig, drohen der Bundesrepublik Deutschland schwere Nachteile.
Die Bundesrepublik Deutschland unterhält und betreibt von Anfang an zusammen mit elf anderen, der NATO angehörenden Nationen den NATO-Frühwarnverband (AWACS-Verband) als voll integrierten Verband des Bündnisses. Sein allgemeiner Auftrag besteht darin, im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidigung Frühwarnung zu betreiben und die Luftlageerstellung zu unterstützen. Der deutsche Anteil am militärischen Personal beträgt über 30%; die Flugsicherung wird ausschließlich von Deutschen gewährleistet. Die mündliche Verhandlung hat ergeben, daß dem Einsatz gerade dieses Verbandes für die Durchsetzung des Flugverbots eine Schlüsselrolle zukommt. Wenn die gefestigte, auf eingehender Schulung beruhende Zusammenarbeit bei den Einsätzen des AWACS-Verbandes aufgrund vorangegangener Resolutionen des VN-Sicherheitsrates gerade in dem Zeitpunkt abgebrochen würde, in dem nach Auffassung der Bündnispartner ein besonders gewichtiger Einsatz ansteht, so müßte dies nach Einschätzung der Bundesregierung, aber auch des Generalsekretärs der NATO, von den Bündnispartnern – ungeachtet etwaiger Möglichkeiten, das Ausscheiden deutscher Soldaten auszugleichen – als eine empfindliche Störung der von der Völkerrechtsgemeinschaft autorisierten und von der NATO unterstützten Maßnahme empfunden werden.
Die mündliche Verhandlung hat zudem ergeben, daß bei einem Abzug der deutschen Soldaten aus dem AWACS-Verband dessen Einsatzfähigkeit erheblich beeinträchtigt, die Durchsetzung des Flugverbots mithin gefährdet wäre. Die auf Zusammenarbeit der jeweils 1718 Besatzungsmitglieder unterschiedlicher Nationen beruhende Einsatzfähigkeit des Verbandes würde nach Auskunft des Kommandeurs der Einheit, Brigadegeneral Ehmann, bei Herausnahme der deutschen Besatzungen selbst unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten nach 14 Tagen – gemessen am Einsatzauftrag – entscheidend geschwächt. Die mit der Resolution 816 des Sicherheitsrats beabsichtigte politische Signalwirkung würde so verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat keine Anhaltspunkte, die zu der Annahme zwingen, daß diese Einschätzungen fehlerhaft sein könnten.
Führt das Verfahren in der Hauptsache zu einer abschließenden Klärung dahin, daß die Verfassung die Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Maßnahme nicht erlaubt, so muß das Bündnis das Ausscheiden deutscher Soldaten hinnehmen, selbst wenn dadurch die Einsatzfähigkeit des integrierten NATO-Verbandes empfindlich geschwächt würde und nur noch eine lückenhafte Durchsetzung des Flugverbotes möglich wäre. Es handelte sich dann um die Klärung der verfassungsrechtlichen Grundlage eines Mitgliedstaates für den Einsatz seiner Streitkräfte, wie sie auch nach Art. 11 des NATO-Vertrages jedem Bündnispartner vorbehalten ist. Solange indes die Verfassungsrechtsfrage noch offen ist, läge ein schwerer Nachteil vor, wenn die Bundesregierung entgegen ihrer Rechtsauffassung und politischen Einschätzung die deutschen Soldaten aus dem Verband abziehen müßte, sich später aber erwiese, daß die Verfassung die Mitwirkung deutscher Streitkräfte zuläßt. Dadurch würde das Vertrauen, das sich die Bundesrepublik Deutschland innerhalb des Bündnisses durch ihre bisherige stetige Mitwirkung in dem AWACS-Verband erworben hat, aufs Spiel gesetzt.
Die Haltung der Bundesregierung zum AWACS-Einsatz beruht maßgeblich auf der Tatsache, daß der Sicherheitsrat in seiner Resolution 816 diese Maßnahme im Rahmen des Friedensauftrages nach Kapitel VII VN-Charta autorisiert hat und erwartet, daß die in ihr angesprochenen Mitgliedstaaten einzeln oder durch regionale Organisationen sich daran beteiligen. Diese Erwartung wurde in der mündlichen Verhandlung sowohl vom Bundesminister des Auswärtigen wie vom Bundesminister der Verteidigung bestätigt; ihre Grundlage ist die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen und in der NATO. Unbeschadet der in der Vergangenheit und gegenwärtig geäußerten verfassungsrechtlichen Vorbehalte hat die Bundesrepublik Deutschland gerade in jüngster Zeit in einer Reihe von internationalen Dokumenten ihre Bereitschaft bekundet, im Rahmen der verschiedenen Bündnissysteme friedenserhaltende und friedensherstellende Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats zu unterstützen (vgl. etwa das neue Strategische Konzept des Bündnisses, veröffentlicht auf der Tagung der Staats- und Regierungschefs des Nordatlantikrates am 7. und 8. November 1991 in Rom, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 128 vom 13. November 1991, S. 1039 [1045 unter Nr. 42]; die sogenannte Petersberg-Erklärung der Westeuropäischen Union vom 19. Juni 1992, Bulletin Nr. 68 vom 23. Juni 1992, S. 649, unter I. 2., II. 4.; Kommuniqué der Ministertagung des Nordatlantikrates vom 17. Dezember 1992 in Brüssel, Bulletin Nr. 141 vom 29. Dezember 1992, S. 1305 [1309 unter Nr. 6-8]).
Erginge die einstweilige Anordnung, müßte die Bundesrepublik Deutschland, indem sie ihre Mitwirkung an dem integrierten multinationalen Verband im Rahmen einer völkerrechtlich vereinbarten Friedenssicherungsaufgabe im Augenblick der Aktion abbricht, die durch ihr bisheriges Verhalten begründete Erwartung enttäuschen. Angesichts der Unaufschiebbarkeit der Maßnahme könnte sie den ihr obliegenden Beitrag zur Friedenssicherung gerade jetzt nicht leisten, wo er gefordert ist. Ein Vertrauensverlust bei den Bündnispartnern und allen europäischen Nachbarn wäre unvermeidlich, der dadurch entstehende Schaden nicht wiedergutzumachen.
b) Demgegenüber wiegen die Nachteile weniger schwer, die entstehen, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, die Mitwirkung deutscher Soldaten sich später aber als unzulässig erweist.
Durch eine Mitwirkung deutscher Soldaten in dem AWACS-Verband – sie allein ist Gegenstand dieses Urteils – wird kein völkerrechtlich erheblicher Vertrauenstatbestand begründet. Eine solche Mitwirkung kann auf der Grundlage des anhängigen Verfahrens und des vorliegenden Urteils nur als vorläufige, in ihrer Fortsetzung vom Ausgang der Hauptsacheverfahren abhängige Zusammenarbeit gedeutet werden, zumal wenn die Bundesregierung dies den beteiligten auswärtigen Staaten notifizieren wird.
Ein wesentlicher Schaden erwächst dem Gemeinwohl auch nicht aus der Situation der zum Einsatz kommenden deutschen Soldaten. Nach der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Einschätzung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Naumann, und des Kommandeurs des AWACS-Verbandes, Brigadegeneral Ehmann, besteht für die Soldaten bei der gegebenen Einsatzplanung keine erhebliche militärische Gefährdungslage; deren Eintreten sei zudem militärpolitisch wenig wahrscheinlich.
Der Soldat trägt auch kein rechtliches Risiko, wenn sich später die Verfassungswidrigkeit des Einsatzes ergeben sollte. Die Tätigkeit des Verbandes hält sich im Rahmen des Beschlusses des Sicherheitsrates 816 vom 31. März 1993 und steht im Einklang mit der Zielsetzung der Charta der Vereinten Nationen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten, unabhängig von der abschließenden Klärung der Frage, ob die Bundesregierung seinen Einsatz anordnen durfte. Die Verantwortung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Anordnung tragen nicht die an dem Einsatz beteiligten Soldaten sondern die Bundesregierung. Das Gesetz stellt die Soldaten von dieser Verantwortlichkeit frei (§ 11 Soldatengesetz).
Allerdings kann in einer Lage, in der Soldaten der Bundeswehr erstmalig zu einem Kampfeinsatz geschickt werden und dieser nicht der unmittelbaren Verteidigung gegen Angriffe auf die Bundesrepublik oder einen ihrer Bündnispartner dient, ein Nachteil für das gemeine Wohl daraus erwachsen, daß bei späterer Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Einsatzes das Vertrauen der Soldaten darauf enttäuscht wird, daß eine so weittragende Entscheidung auf einer gesicherten verfassungsrechtlichen Grundlage beruht. Dieser Nachteil tritt hier jedoch an Bedeutung zurück; die Bundeswehrführung wird darauf verweisen können, daß ihre Befehle auf einer verantwortlichen Beurteilung der komplexen Rechtslage durch die dafür zuständige, demokratisch legitimierte Bundesregierung beruhten.
Auch für die innerstaatliche Ordnung entsteht kein nicht wiedergutzumachender Nachteil. Vollendete Tatsachen werden nicht geschaffen. Erkennbar ist für die Bürger in Deutschland, daß über die Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Mitwirkung deutscher Soldaten bei der Durchsetzung der Sicherheitsratsresolution 816 vom 31. März 1993 derzeit noch nicht entschieden ist, die in der Hauptsache zu treffende Entscheidung aber sofort befolgt werden wird. Deshalb kann weder für das Rechtsbewußtsein in Deutschland noch für das Vertrauen in die verfassungsrechtliche Gebundenheit der Bundesrepublik Deutschland ein Schaden entstehen. Eine wie immer geartete Präjudizierung künftiger Entscheidungen von Verfassungsorganen tritt nicht ein. Entgegen der seitens der Antragsteller geäußerten Auffassung könnte daher bei der Entscheidung über die Hauptsache das Argument nicht gehört werden, der Einsatz des AWACS-Verbandes unter Beteiligung deutscher Soldaten habe als Element der Staatspraxis Gewicht für die Auslegung des NATO-Vertrages.
Die Überzeugungskraft der Argumente, mit denen die Antragsteller ihre abweichende Gewichtung der bei Nichterlaß einer einstweiligen Anordnung befürchteten Nachteile begründen, leidet im übrigen daran, daß mit den Anträgen nur der Abzug des fliegenden Personals des AWACS-Verbandes begehrt wird, obwohl die vorgetragenen Bedenken – abgesehen von der Frage nach einer potentiellen Gefährdung – in gleicher Weise für das Bodenpersonal gelten, dessen Einsatz sie bis zur Entscheidung in der Hauptsache hinzunehmen bereit sind.
 
C.
Das Urteil ist im Ergebnis mit 5:3 Stimmen ergangen.
(gez.) Mahrenholz Böckenförde Klein Graßhof Kruis Kirchhof Winter Sommer