BGE 122 II 154
 
22. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juli 1996 i.S. Y. gegen Fremdenpolizei des Kantons Zürich und Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 13b, 13c Abs. 2 und 13d Abs. 1 ANAG; Ausschaffungshaft.
Die Verletzung von für die Wahrung der Rechte des Betroffenen wesentlichen Verfahrensvorschriften führt zur Haftentlassung, es sei denn, es liegen genügend Anhaltspunkte dafür vor, dass der Ausländer die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gefährden könnte. In concreto Haftentlassung abgelehnt (E. 3).
 
Sachverhalt
Y., geboren 1970, Staatsangehöriger von Algerien, reiste am 7. Juli 1995 in die Schweiz ein und stellte am 10. Juli 1995 ein Asylgesuch. Das Bundesamt für Flüchtlinge wies das Gesuch mit Verfügung vom 15. Februar 1996 ab und wies Y. aus der Schweiz weg; die Ausreisefrist setzte es auf den 30. April 1996 an. Die Verfügung des Bundesamtes erwuchs unangefochten in Rechtskraft.
Am 15. Mai 1996 wurde Y. festgenommen. Die Fremdenpolizei des Kantons Zürich ordnete am 17. Mai 1995 gegen ihn Ausschaffungshaft an, verfügte aber noch gleichentags die Haftentlassung, wobei sie ihn gleichzeitig aufforderte, die Schweiz unverzüglich zu verlassen. Am 21. Mai 1996 wurde Y. erneut, im Hinblick auf fremdenpolizeiliche Massnahmen, verhaftet. Die Fremdenpolizei des Kantons Zürich ordnete am 22. Mai 1996 wiederum Ausschaffungshaft an und erliess am 23. Mai 1996 eine entsprechende förmliche Verfügung. Der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich bestätigte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, allein gestützt auf die Akten, mit Verfügung vom 24. Mai 1996 die Anordnung der Ausschaffungshaft und bewilligte die Haft bis 21. August 1996.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 23. Juni 1996 beantragte Y., es sei die Nichtigkeit der Verfügung des Haftrichters vom 24. Mai 1996 festzustellen; eventualiter sei die Verfügung des Haftrichters vom 24. Mai 1996 aufzuheben; der Beschwerdeführer sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Das Bundesgericht hat die Verwaltungsgerichtsbeschwerde teilweise gutgeheissen, den Entscheid des Haftrichters aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
Aus den Erwägungen:
a) Nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jedermann, dem seine Freiheit durch Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht, ein Verfahren zu beantragen, in dem von einem Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden und im Falle der Widerrechtlichkeit seine Entlassung angeordnet wird. Während die Menschenrechtskonvention das Recht auf richterliche Haftprüfung nur auf Antrag hin gewährt, verlangt Art. 13c Abs. 2 ANAG in jedem Fall eine richterliche Haftprüfung spätestens nach 96 Stunden. Das Prüfungsverfahren vor dem Richter ist somit von Amtes wegen in jedem Fall einzuleiten (ANDREAS ZÜND, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht: Verfahrensfragen und Rechtsschutz, in AJP 7/95 S. 855).
Für das Verfahren vor dem Haftrichter hat der Gesetzgeber sodann ausdrücklich eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben. Es ist zu prüfen, ob der von Ausschaffungshaft betroffene Ausländer gültig auf diese mündliche Verhandlung verzichten kann.
b) Im bundesrätlichen Entwurf zum Zwangsmassnahmengesetz (Botschaft vom 22. Dezember 1993, BBl 1994 I 305 ff.) wurde die mündliche Verhandlung vor dem Richter bloss für das Haftentlassungsgesuch ausdrücklich vorgesehen, hinsichtlich der Haftanordnung hingegen bloss eine nicht näher präzisierte richterliche Überprüfung vorgeschrieben. Die ständerätliche Kommission ergänzte den bundesrätlichen Entwurf vorerst insofern, als sie auch für die Prüfung der erstmaligen Haftanordnung eine "mündliche Anhörung" vorschlug (Amtl.Bull. 1994 S S. 131). Mit der schliesslich genehmigten Fassung, worin eine "mündliche Verhandlung" vorgeschrieben wird, sollte verdeutlicht werden, dass nicht bloss ein "beschränktes Abhören des Verhafteten" vonnöten sei (Votum von Ständerat Frick, Amtl.Bull. 1994 S S. 273). Die Ergänzung steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Umstand, dass der Nationalrat vorerst dafür optierte, schon für die Anordnung der Haft selber den Richter zuständig zu erklären (Amtl.Bull. 1994 N S. 119). Für die Variante des Ständerats mit bloss nachträglicher richterlicher Haftprüfung wurde als Argument ins Feld geführt, dass der Rechtsschutz noch grösser sei, wenn vorerst die Administrativbehörde eine begründete Haftverfügung erlasse und anschliessend der Richter unabhängig davon eine mündliche Verhandlung durchführe und in voller Kognition die Haft überprüfe (Votum Ständerat Frick, Amtl.Bull. 1994 S S. 273).
Wohl schliesst der Wortlaut des Gesetzes allein die Möglichkeit eines Verzichts auf die mündliche Verhandlung nicht ausdrücklich aus. Angesichts des umfassenden Prüfungsprogramms, welches dem Haftrichter aufgegeben ist (Art. 13c Abs. 3 ANAG), ferner der Schwere des in Frage stehenden Eingriffs in die persönliche Freiheit und schliesslich der Entstehungsgeschichte von Art. 13c Abs. 2 ANAG stellt die mündliche Verhandlung jedoch nicht bloss eine Formalität dar, auf deren Einhaltung verzichtet werden kann. Der Haftrichter vermag seinem Auftrag, nötigenfalls zusätzliche Abklärungen zu treffen, zu diesem Zweck Ergänzungsfragen zu stellen und mit voller Kognition sämtliche Aspekte der Haft zu prüfen, nicht nachzukommen, wenn er den Ausländer nicht zur Verhandlung vorlädt. Es widerspricht daher dem vom Gesetzgeber gewählten System einer Aufteilung des Verfahrens in Haftanordnungs- und Haftprüfungsstadium, wenn die Fremdenpolizei den in Ausschaffungshaft genommenen Personen regelmässig ein Formular unterbreitet, worauf sie ausdrücklich zu bestätigen haben, ob sie eine Haftrichterverhandlung wünschen oder aber darauf verzichten; es geht nicht an, einen mit verfahrensrechtlichen Fragen kaum vertrauten Ausländer vor eine derartige Wahl zu stellen. Dies ist nicht vereinbar mit der zum Schutz vor willkürlichem Freiheitsentzug aufgestellten zentralen Garantie, wonach von Amtes wegen spätestens nach 96 Stunden eine richterliche Überprüfung der Haft aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu erfolgen hat (vgl. BGE 121 II 105 E. 2c S. 109).
c) Auf die vom Beschwerdeführer mündlich abgegebene und schriftlich bestätigte Erklärung, er verzichte auf eine Verhandlung vor dem Richter, durfte im vorliegenden Fall auch aus einem anderen Grund nicht abgestellt werden:
Gemäss Art. 13d Abs. 1 ANAG kann der Verhaftete mit seinem Rechtsvertreter mündlich und schriftlich verkehren. Daraus wie schon aus Art. 4 BV ergibt sich, dass der Ausländer im Haftanordnungs- und Haftprüfungsverfahren einen rechtskundigen Vertreter beiziehen kann (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. M. vom 24. Juni 1996). Der Fremdenpolizei und dem Haftrichter lag unbestrittenermassen schon vor dem Zeitpunkt, zu welchem die Haftanordnung überprüft wurde, eine vom Beschwerdeführer ausgestellte Vollmacht vor, womit dieser lic.iur. T. und lic.iur. S. ermächtigte, ihn in allen Belangen betreffend Asylgesuch, ANAG-Verfahren usw., einschliesslich die Einsicht in die entsprechenden Akten, zu vertreten. Unter diesen Umständen hätte der Beschwerdeführer ohne Beizug seines Vertreters nicht zur Abgabe einer Prozesserklärung mit weitreichenden und für ihn nur schwer abschätzbaren Konsequenzen aufgefordert werden dürfen.
Der Haftrichter hat dadurch, dass er keine mündliche Verhandlung durchführte und im übrigen den Vertreter des Beschwerdeführers am schriftlichen Verfahren nicht teilnehmen liess, Art. 13c Abs. 2 (und Art. 13d Abs. 1) ANAG sowie den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt.
d) Verletzt eine Behörde Verfahrensrechte, ist ihr Entscheid nicht nichtig, sondern anfechtbar; der Hauptantrag des Beschwerdeführers, den Entscheid vom 24. Mai 1996 nichtig zu erklären, geht daher fehl. Angesichts der formellen Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör (BGE 120 Ib 379 E. 3b S. 383) ist jedoch die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen an einem solchen Mangel leidenden Entscheid grundsätzlich gutzuheissen und dieser unabhängig von den Erfolgsaussichten in der Sache selber aufzuheben. Eine Heilung im Verfahren vor oberer Instanz ist nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen möglich; diese sind hier von vornherein nicht erfüllt, nachdem das gesetzlich vorgesehene Verfahren nicht durchgeführt worden ist.
Der Antrag, den Entscheid vom 24. Mai 1996 aufzuheben, ist damit wegen Verletzung von Art. 4 BV bzw. von Art. 13c Abs. 2 und Art. 13d Abs. 1 ANAG gutzuheissen.
3. a) Der Beschwerdeführer beantragt unverzügliche Entlassung aus der Haft. Nicht jede Verletzung von Verfahrensvorschriften bei der Haftprüfung führt indessen auch zur Haftentlassung. Es kommt darauf an, welche Bedeutung einerseits den verletzten Vorschriften für die Wahrung der Rechte des Betroffenen und andererseits dem Interesse an einer reibungslosen Durchsetzung der Ausschaffung zukommt. Dieses vermag unter Umständen Verfahrensfehler aufzuwiegen, wenn der Ausländer die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (BGE 121 II 105 E. 2c S. 109, 110 E. 2a S. 113). Wurden wesentliche Verfahrensgarantien verletzt, muss der Ausländer freigelassen werden, es sei denn, es liegen genügend Anhaltspunkte dafür vor, dass er die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gefährden könnte (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. C. vom 6. Juni 1995). Die Garantie, dass innert 96 Stunden eine vollumfängliche richterliche Haftprüfung zu erfolgen hat, würde ihre wichtige Funktion sonst verlieren.
Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Haft ist sodann, dass sich den Akten zumindest gewisse Hinweise für das Vorliegen eines Haftgrundes entnehmen lassen (vgl. BGE 121 II 110 E. 2 S. 114/115).
b) Die hier in Frage stehende Verletzung von Verfahrensgarantien erscheint angesichts der zentralen Bedeutung der mündlichen Verhandlung gerade für die erstmalige richterliche Haftprüfung erheblich. Der Fehler lässt sich nicht damit relativieren, dass der Beschwerdeführer gegenüber der Fremdenpolizei ausdrücklich auf eine mündliche Verhandlung vor dem Richter verzichtet hat, nachdem der ordentlich bevollmächtigte Vertreter zu keinem Zeitpunkt beigezogen worden war.
Der Verfahrensverletzung ist das Verhalten des Ausländers gegenüberzustellen. Mit Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft Zürich vom 26. April 1996 ist der Beschwerdeführer der einfachen Körperverletzung sowie des Hausfriedensbruchs schuldig erklärt und mit drei Monaten Gefängnis bedingt bestraft worden. Die Körperverletzung beging der damals unter Alkoholeinfluss stehende Beschwerdeführer am 14. September 1995, als er von Türstehern am Betreten eines Lokals gehindert wurde. Er fügte zwei Personen Verletzungen zu; der Strafbefehl nennt unter anderem eine Rissquetschwunde an der Oberlippe und Kontusionen an den Ellbogen sowie eine Rissquetschwunde am Hinterkopf. Zu berücksichtigen ist ferner, dass dem Beschwerdeführer im Durchgangsheim für Asylbewerber in Schwerzenbach am 3. Oktober 1995 mit der Begründung gekündigt wurde, dass er einem anderen Mitbewohner gegenüber mehrmals gewalttätig geworden sei. In Missachtung des gleichzeitig gegen ihn verhängten Hausverbots übernachtete der Beschwerdeführer am 12./13. Oktober in diesem Heim und beging dadurch Hausfriedensbruch. Am 21. Mai 1996 hielt er sich unberechtigterweise in der Asylantenunterkunft in Volketswil auf und belästigte dort die Asylantenbetreuerin, welche die Polizei herbeirufen musste, worauf er wiederum verhaftet wurde.
Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer durch seine Gewalttätigkeit in nicht zu bagatellisierender Weise auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet hat und weiterhin gefährden könnte. Sodann lässt sich angesichts der Aktenlage offensichtlich nicht sagen, es lägen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Haftgrundes, so des vom Haftrichter seinem Entscheid zugrunde gelegten Haftgrundes von Art. 13b Abs. 1 lit. c ANAG, vor.
Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, trotz des gewichtigen Verfahrensfehlers davon abzusehen, die Haftentlassung anzuordnen. Der Haftrichter hat aber unverzüglich, d.h. spätestens innert 96 Stunden ab Zustellung des vollständigen bundesgerichtlichen Urteils, die Verhandlung zu wiederholen, dem Vertreter des Beschwerdeführers die Teilnahme daran zu ermöglichen und hernach neu über die Genehmigung der Ausschaffungshaft zu entscheiden.