BGE 134 II 33 |
4. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Kanton Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
1C_45/2007 vom 30. November 2007 |
Regeste |
Art. 2 Abs. 1 OHG; opferhilferechtlicher Begriff der Straftat. |
Sachverhalt |
A. X. wurde am 4. November 2001 von Polizeibeamten der Stadtpolizei Zürich, die irrtümlicherweise annahmen, es mit einem bewaffneten Drogenhändler zu tun zu haben, in Handschellen gelegt und festgenommen. Am 4. Februar 2002 erstattete er gegen die Polizeibeamten unter anderem wegen Körperverletzung Strafanzeige.
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Das am 10. Oktober 2003 gestellte Gesuch um opferhilferechtliche Entschädigung und Genugtuung wurde mit Verfügung vom 17. Oktober 2003 von der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, bis zum Abschluss des Straf- und Staatshaftungsverfahrens sistiert.
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Mangels Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Polizeibeamten stellte die Bezirksanwaltschaft Zürich das Strafverfahren ein. Der gegen die Verfahrenseinstellung von X. eingelegte Rekurs blieb erfolglos. Mit Beschluss vom 24. März 2004 wies die III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich die Nichtigkeitsbeschwerde von X. ebenfalls ab.
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In der Folge wies die Kantonale Opferhilfestelle das Gesuch um Opferhilfeleistungen mit Verfügung vom 1. Juni 2006 ab. Sie begründete diesen Entscheid damit, dass aufgrund der Ergebnisse des Strafverfahrens keine Straftat vorliege. Der Gesuchsteller habe daher keine opferhilferechtlichen Ansprüche, weshalb es sich erübrige, den Ausgang des Staatshaftungsverfahrens abzuwarten. Gegen diese Verfügung erhob X. Beschwerde und beantragte neben deren Aufhebung die Gewährung von Sofort- und Langzeithilfe sowie Entschädigungs- und Genugtuungsleistungen, eventualiter Sofort- und Beratungshilfe für die Durchsetzung seiner Ansprüche. Des Weitern stellte er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung. Mit Urteil vom 2. Februar 2007 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, die Beschwerde ab. Es schützte den Standpunkt der Kantonalen Opferhilfestelle, mangels Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Beamten liege keine Straftat vor. Die Polizeibeamten hätten bei ihrer Aktion vom 4. November 2001 im Sinne eines Sachverhaltsirrtums geglaubt, in Ausübung ihrer Amtspflicht zu handeln, und seien - unter Berücksichtigung dieses Sachverhaltsirrtums - gesetzmässig und verhältnismässig vorgegangen. Somit liege ein Rechtfertigungsgrund vor, und X. komme demzufolge nicht Opfereigenschaft im Sinne des OHG zu. Ferner wies das Sozialversicherungsgericht das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ab.
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B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X. beim Bundesgericht die Aufhebung des Urteils des Sozialversicherungsgerichts, die Zusprechung von Sofort- und Langzeithilfe sowie Entschädigung und Genugtuung, eventuell die Zusprechung von Sofort- und Beratungshilfe für die Durchsetzung seiner opferhilferechtlichen Ansprüche.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 5 |
5.2 In seiner Vernehmlassung äussert sich das Bundesamt für Justiz dahingehend, dass gemäss herrschender Rechtslehre die Opfereigenschaft zu verneinen sei, wenn für die inkriminierte Handlung ein Rechtfertigungsgrund vorliege. Allerdings könne man sich fragen, ob mit Blick auf den Zweck des Opferhilfegesetzes im Falle eines Sachverhaltsirrtums dennoch von einer Straftat auszugehen sei, wenn andernfalls ein stossendes Ergebnis resultiere.
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5.3 Beim Sachverhaltsirrtum handelt es sich um einen Vorsatzmangel (vgl. GUIDO JENNY, in: Alexander Niggli/Hans Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I, Rz. 8 zu Art. 19 aStGB). Dieser ist in Art. 19 des zur Zeit der zu beurteilenden Handlungen der Polizeibeamten in Kraft stehenden Fassung des StGB (gleichermassen in Art. 13 des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches) folgendermassen normiert: Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt der Richter die Tat zugunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat (Art. 19 Abs. 1 aStGB, Art. 13 Abs. 1 StGB). Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Verübung der Tat mit Strafe bedroht ist (Art. 19 Abs. 2 aStGB, Art. 13 Abs. 2 StGB). Dem Sachverhaltsirrtum gleichgestellt ist der Fall, dass der Täter irrigerweise einen Sachverhalt für gegeben hält, der, läge er wirklich vor, sein Verhalten als gerechtfertigt erscheinen liesse (Putativrechtfertigung). Zwar handelt der Täter in dieser Konstellation nicht ohne tatbestandsmässigen Verwirklichungswillen. Jedoch richtet sich der Wille des Täters nicht auf die Verwirklichung von Unrecht, sondern auf die Ausübung eines Rechts, so dass es im Ergebnis gleich wie beim Sachverhaltsirrtum an dem für vorsätzliches Verhalten charakteristischen Handlungsunwert fehlt. Der Täter haftet aber für fahrlässige Begehung, wenn er den Irrtum bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte vermeiden können und eine entsprechende Strafdrohung besteht (vgl. BGE 129 IV 6 E. 3.2 S. 14; BGE 125 IV 49 E. 2e S. 56 ff.; BGE 123 IV 97 E. 2c S. 98 f.; BGE 106 IV 1 E. 2a S. 3; BGE 102 IV 65 E. 2 S. 67 f.; JENNY, a.a.O., Rz. 12 zu Art. 19 aStGB; GÜNTER STRATENWERTH/WOLFGANG WOHLERS, Schweizerisches Strafgesetzbuch - Handkommentar, Bern 2007, Rz. 4 zu Art. 13 StGB; KURT SEELMANN, Strafrecht - Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Basel/ Genf/München 2005, S. 80 f.; ANDREAS DONATSCH/BRIGITTE TAG, Strafrecht I - Verbrechenslehre, 8. Aufl., Zürich 2006, S. 214 f.).
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Demnach wären die Polizeibeamten im vorliegenden Fall wegen fahrlässiger Körperverletzung zu bestrafen gewesen, wenn sie bei pflichtgemässer Vorsicht hätten erkennen können, dass es sich beim Beschwerdeführer nicht um den gesuchten Drogenhändler handelte. Dass den Polizeibeamten diesbezüglich eine pflichtwidrige Unvorsichtigkeit angelastet werden könnte, geht aus dem Beschluss des Obergerichts vom 24. März 2004 jedoch nicht hervor und wurde vom Beschwerdeführer auch nicht geltend gemacht.
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Das Sozialversicherungsgericht schloss sich dem vom Obergericht vertretenen Standpunkt an, dass die Polizeibeamten einerseits im Sinne eines Sachverhaltsirrtums glaubten, in Ausübung ihrer Amtspflicht zu handeln, und andererseits - unter Berücksichtigung dieses Irrtums - gesetzmässig und verhältnismässig vorgegangen seien. Somit sei ein Rechtfertigungsgrund für die physische Beeinträchtigung des Beschwerdeführers gegeben. Eine Straftat liege nicht vor, weshalb dem Beschwerdeführer keine Opferstellung zukomme. Es stellt sich vorliegend die Frage, ob trotz mangelnder Fahrlässigkeit der Polizeibeamten bezüglich ihres Irrtums über die Person des zu Verhaftenden und über den fehlenden Rechtfertigungsgrund für ihr Handeln entgegen der Auffassung des Sozialversicherungsgerichts unter opferhilferechtlichen Gesichtspunkten die Opferstellung des Beschwerdeführers bejaht werden muss.
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Das Bundesgericht legte in den Entscheiden BGE 122 II 315 (E. 3c S. 320) und BGE 122 II 211 (E. 3b S. 215) dar, dass die Körperverletzung oder Tötung für die Begründung der Opferstellung nicht genügt, sondern diese mindestens fahrlässig begangen worden sein muss. In nachfolgenden Entscheiden vertiefte und bestätigte das Bundesgericht diese Rechtsprechung. Im Urteil 1A.52/2000 vom 24. November 2000 (E. 2f) führte es dazu Folgendes aus: Nach dem aktuellen Stand von Rechtsprechung und Lehre werden Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht mehr als Schuldformen betrachtet, sondern zum typischerweise rechtswidrigen Verhalten, d.h. zum subjektiven Tatbestand gezählt. Der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 OHG spricht daher dafür, auch den subjektiven Tatbestand einer Straftat zu verlangen, und nur vom Erfordernis der Schuld abzusehen. Für diese Auslegung spricht auch der Zusammenhang mit den Bestimmungen über die opferhilferechtliche Entschädigungs- und Genugtuungsleistung (Art. 11 ff. OHG). Liesse man auch in diesem Zusammenhang das Vorliegen des objektiven Tatbestands einer Straftat genügen, würde dies im Ergebnis die Einführung einer allgemeinen (nicht nur auf die Fälle der Unzurechnungsfähigkeit des Täters beschränkten) Kausalhaftung bedeuten. Der Zweck des Opferhilfegesetzes, den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe zu leisten, spricht zumindest nicht gegen das Abstellen auf den subjektiven Tatbestand, selbst wenn der Nachweis des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit des Täters manchmal Schwierigkeiten bereitet. Für die Wahrnehmung der prozessualen Rechte des Opfers im Strafverfahren wie auch für die Gewährung von Soforthilfe genügt es, wenn eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt. Dies wird regelmässig zu bejahen sein, wenn der objektive Tatbestand einer Straftat realisiert ist. Erst wenn feststeht, dass der angebliche Täter den subjektiven Tatbestand der betreffenden Straftat nicht erfüllt hat, kann dem Verletzten die Opferstellung für die Zukunft aberkannt werden, wobei die bereits geleistete Hilfe grundsätzlich nicht zurückgefordert werden kann. Schliesslich ist die Entstehungsgeschichte des Opferhilfegesetzes zu berücksichtigen: In seiner Botschaft vom 6. Juli 1983 zur Volksinitiative "zur Entschädigung der Opfer von Gewaltverbrechen" rechtfertigte der Bundesrat den Einbezug von Opfern fahrlässig begangener Delikte mit dem Argument, die Folgen von vorsätzlichem und fahrlässigem Verhalten seien für das Opfer dieselben; zudem könne eine Beschränkung auf vorsätzliche Straftaten zu Abgrenzungsproblemen und zu Schwierigkeiten führen, wenn z.B. der Täter unbekannt oder flüchtig sei (BBl 1983 III 894). Gewollt war damit eine Ausdehnung des Geltungsbereichs der Opferhilfe auch auf fahrlässig begangene Straftaten, nicht dagegen eine vollständige Aufgabe des subjektiven Tatbestands. Es ist somit daran festzuhalten, dass der Begriff der Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG nicht nur die Verwirklichung eines objektiven Straftatbestandes, sondern auch vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln voraussetzt (vgl. in diesem Sinn auch das Urteil des Bundesgerichts 1A.206/1999 vom 10. Februar 2000, E. 2).
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Im vorliegenden Fall steht eine Körperverletzung zur Diskussion, welche die Polizeibeamten dem Beschwerdeführer im Zuge der Festnahme zufügten. Wie oben dargelegt (E. 5.3) irrten sich die Beamten in der Person des zu Verhaftenden und dementsprechend im Vorliegen des Rechtfertigungsgrundes der Amtspflicht nicht aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit. Infolgedessen konnte ihnen der Übergriff nicht als fahrlässig begangene Körperverletzung strafrechtlich zur Last gelegt werden (Art. 19 Abs. 2 aStGB e contrario). Da vorliegend somit nur der objektive, nicht aber der subjektive Tatbestand des Körperverletzungsdelikts erfüllt war, liegt keine Straftat im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG vor und ist die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers zu verneinen.
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5.5 Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlass. Im revidierten Opferhilfegesetz vom 23. März 2007 (BBl 2007 S. 2299; Ablauf der Referendumsfrist am 12. Juli 2007) wurde der Begriff des Opfers als Grundsatz unverändert übernommen (vgl. die Botschaft vom 27. Dezember 2005 zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die Hilfe an Opfer von Straftaten, BBl 2005 S. 7203). Gemäss Art. 1 Abs. 1 des noch nicht in Kraft stehenden revidierten OHG hat jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), Anspruch auf Unterstützung nach diesem Gesetz (Opferhilfe). Art. 1 Abs. 3 des revidierten OHG bestimmt, dass der Anspruch auf Opferhilfe unabhängig davon besteht, ob der Täter oder die Täterin ermittelt worden ist (lit. a), sich schuldhaft verhalten hat (lit. b) oder vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat (lit. c). Neu ist die ausdrückliche Erwähnung im Gesetzestext, dass es für die Opferqualifikation nicht darauf ankommt, ob auf der subjektiven Tatbestandsseite Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorliegt. Dem Wortlaut von Art. 1 des revidierten OHG ist indessen nicht zu entnehmen, dass der Begriff der Straftat als objektiv und subjektiv tatbestandsmässiges, rechtswidriges Verhalten eine Veränderung erfahren hätte. Auch die Materialien zum neuen OHG lassen nicht auf einen Verzicht auf die Erfüllung des subjektiven Tatbestandes schliessen. Im Gegenteil wurde Art. 1 des revidierten OHG redaktionell auf die heute herrschende Lehre und Rechtsprechung abgestimmt, wonach Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht im Rahmen des Verschuldens zu prüfen, sondern als subjektive Tatbestandselemente zu würdigen sind (BBl 2005 S. 7203 f.).
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5.6 Nach dem Gesagten liegt keine Straftat im Sinne des Opferhilfegesetzes vor und ist die Voraussetzung der Opfereigenschaft zur Geltendmachung opferhilferechtlicher Ansprüche somit nicht erfüllt. Dies betrifft nicht nur die Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche gemäss Art. 11 ff. OHG, sondern auch die erst vor dem Sozialversicherungsgericht gestellten Begehren um Sofort- und weitere Hilfe der kantonalen Opferhilfestelle im Sinn von Art. 3 Abs. 2 bis 4 OHG. Hilfeleistungen der Opferberatungsstelle kämen nur in Frage, solange das Vorliegen einer Straftat nicht geklärt ist (BGE 125 II 265 E. 2c/aa S. 270). Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet und ist insoweit abzuweisen.
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5.7 Wie (...) erwähnt, entspringt das Opferhilfegesetz nicht dem Gedanken der Staatshaftung, sondern der Hilfeleistung an Opfer von Straftaten. Eine andere Frage ist, ob der Kanton Zürich gestützt auf das kantonale Staatshaftungsrecht für das Handeln seiner Beamten (kausal) einzustehen hat. Diese Frage gehört indessen nicht zum vorliegenden Verfahrensgegenstand, weshalb sie offengelassen wird.
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