BGE 128 III 113 - Eheverbot Stiefkind |
20. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. M.W. und K.S. gegen Kantonsgericht Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) |
5A.15/2001 |
vom 6. Dezember 2001 |
Regeste |
Eheverbot zwischen Stiefelter und Stiefkind (Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB, Art. 12 EMRK). |
Das Eheverbot zwischen Stiefelter und Stiefkind, das in seiner heutigen Fassung gemäss Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB am 1. Januar 2000 in Kraft getreten ist, lässt nach dem Willen des Gesetzgebers die Eheschliessung auch dann nicht zu, wenn aus der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder hervorgegangen sind (E. 2). |
Das Verbot der Eheschliessung zwischen Stiefelter und Stiefkind ist mit Art. 12 EMRK vereinbar (E. 3-5). |
Sachverhalt |
A. M.W. heiratete am 7. Juni 1985 V.S., welche die zwei Kinder K.S., geboren im Jahr 1971, und L.S., geboren im Jahr 1976, in die Ehe brachte. Diese Ehe wurde am 14. Mai 1991 geschieden.
|
B. Am 25. September 2000 stellten M.W. und K.S., die seit Jahren im Konkubinat leben, beim Zivilstandsamt des Kreises Chur ein Gesuch um Vorbereitung der Eheschliessung. Mit Verfügung vom 26. September 2000 lehnte das Zivilstandsamt das Gesuch wegen Vorliegens eines Ehehindernisses gemäss Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB ab.
|
Die dagegen erhobene Beschwerde von M.W. und K.S. lehnte das Justiz-, Polizei- und Sanitätsdepartement des Kantons Graubünden ab. Ihre Berufung an das Kantonsgericht von Graubünden blieb ebenfalls erfolglos.
|
C. Das Bundesgericht weist die von den Heiratswilligen eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird.
|
Auszug aus den Erwägungen: |
Aus den Erwägungen:
|
Erwägung 2 |
a) Der Inhalt einer Norm ist ausgehend von ihrem Wortlaut nach ihrem Sinn und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen zu ermitteln. Ziel der Auslegung ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio legis. Erweist sich die gesetzliche Anordnung als zu undifferenziert und verlangt der Zweck der Norm für den in Frage stehenden Fall nach einer Ausnahme, kann das Gericht die Norm mittels teleologischer Reduktion für einen Fall als nicht anwendbar erklären, der gemäss dem noch möglichen Wortsinn in den Anwendungsbereich der Norm fällt. Das Gericht bleibt dabei aber an die klare Zwecksetzung der bestehenden Regelung gebunden (BGE 121 III 219 E. 1d/aa S. 224 ff.; 124 III 229 E. 3c S. 235 f.; 127 III 415 E. 2 mit Hinweisen; KRAMER, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 161 f. und 169 f.).
|
d) Aus dem Umstand, dass diese Einschränkung verworfen wurde, kann geschlossen werden, dass das Eheverbot nach dem Willen des Gesetzgebers in Stiefverhältnissen absolut gilt, dass der Gesetzgeber also auch einen Ausschluss der Fälle, in denen aus der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder hervorgehen, abgelehnt hat. Ratio legis ist die Wahrung des Friedens in der - das Stiefverhältnis begründenden - Familie. Im Hinblick auf das zu schützende Rechtsgut macht es keinen sachlich relevanten Unterschied, ob der Beziehung zwischen Stiefelter und Stiefkind Kinder entspringen oder nicht. Käme das Eheverbot im einen Fall zur Anwendung und im anderen nicht, so läge darin eine rechtsungleiche Behandlung. Daraus folgt, dass keine Ausnahmelücke vorliegt, dass das geltende Bundeszivilrecht eine Eheschliessung im vorliegenden Fall also nicht zulässt.
|
Erwägung 3 |
a) Der Prüfung einer eidgenössischen Gesetzesbestimmung auf ihre Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention steht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts nichts entgegen (BGE 117 Ib 367 E. 2d f.; 118 Ia 473 E. 5b/bb; 118 Ib 277 E. 3b; 122 II 485 E. 3; 125 II 417 E. 4d S. 225).
|
b) Gemäss Art. 12 EMRK haben Männer und Frauen mit Erreichung des heiratsfähigen Alters gemäss den einschlägigen nationalen Gesetzen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Der Hinweis auf die einschlägigen nationalen Gesetze macht deutlich, dass das Grundrecht nicht schrankenlos ist. Umgekehrt dürfen die Nationen das Recht gesetzlich auch nicht beliebig einschränken. Obwohl Art. 12 EMRK im Gegensatz zu Art. 8 EMRK die Voraussetzungen einer gerechtfertigten Beschränkung nicht nennt, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und nach der Lehre ein Grundrechtseingriff lediglich zulässig, wenn er den Kerngehalt des Rechts nicht berührt (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] i.S. Rees c. Grossbritannien vom 17. Oktober 1986, Serie A, Bd. 106, Ziff. 50) und sich die gesetzliche Grundlage auf allgemein anerkannte Gründe des öffentlichen Interesses stützt. Nationale Eheverbote müssen somit rational begründbar sein (FROWEIN/PEUKERT, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1996, N. 2 zu Art. 12 EMRK). Aus dem Prinzip der Verhältnismässigkeit ergibt sich zudem, dass das öffentliche Interesse am Verbot gegenüber dem Interesse an der Eheschliessung nicht klar unterlegen sein darf (HAEFLIGER/SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl. 1999, S. 319).
|
Erwägung 4 |
b) Von erheblicher Bedeutung ist ferner der Schutz der freien Entfaltung und der sexuellen Integrität des Stiefkindes: Die Familie bildet nach wie vor regelmässig den engsten ursprünglichsten Rahmen des Zusammenlebens, der Rahmen, in dem Kinder ihr Leben beginnen und heranwachsen. Sie soll deshalb von sexuellen Beziehungen und erotischen Spannungen freigehalten werden. Entsprechend steht die Verletzung der sexuellen Integrität des Abhängigen unter Strafe (Art. 188 StGB; STRATENWERTH, a.a.O., S. 311). Zivilrechtlich findet das Stiefverhältnis Ausdruck in der subsidiären elterlichen Sorge des Stiefelters: Gemäss Art. 299 ZGB hat er seinem Ehegatten in der Ausübung der elterlichen Sorge gegenüber dessen Kindern in angemessener Weise beizustehen und ihn zu vertreten, wenn es die Umstände erfordern. Damit befindet sich der Stiefelternteil regelmässig in einer Autoritätsstellung und das Stiefkind in einem Abhängigkeitsverhältnis. Es gilt demnach zu verhindern, dass dieses faktische Eltern-Kind-Verhältnis nahtlos in ein Paarverhältnis übergeht (HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Eherechts, 4. Aufl. 2000, Rz. 4.13; KARLHEINZ MUSCHELER, Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Eheschliessungsrechts, in: Juristenzeitung [JZ] 1997 S. 1142, S. 1145).
|
d) Die Ehe zwischen Stiefelter und Stiefkind ist im Übrigen auch in zahlreichen anderen europäischen Ländern verboten, nämlich in Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Luxemburg, Polen, Portugal, Serbien, der Türkei und Ungarn. Zwar sieht die Mehrheit dieser Länder die Möglichkeit eines Dispenses vor, doch wird dieser lediglich unter einschränkenden Voraussetzungen erteilt. So sind beispielsweise in Grossbritannien Schwäger- und Stiefverhältnisse grundsätzlich einem Dispens zugänglich, davon ausgenommen sind aber die Fälle, in welchen das Stiefkind - wie bei den Beschwerdeführenden - vor Erreichen seines achtzehnten Lebensjahres mit dem Stiefelter in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. Kein Eheverbot für Stiefverhältnisse kennen demgegenüber beispielsweise Deutschland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, das Fürstentum Liechtenstein, Schweden und Spanien (BERGMANN/FERID, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht: Belgien, 138. Lieferung, S. 51, Art. 161 ff.; Deutschland, 137. Lieferung, S. 49, §§ 1306 ff.; Finnland, 103. Lieferung, S. 22; Frankreich, 122. Lieferung, S. 68 f., Art. 161 ff.; Griechenland, 82. Lieferung, S. 17, Art. 1357; Grossbritannien, 113. Lieferung, S. 171, Art. 1 ff.; Italien, 142. Lieferung, S. 54 f., Art. 87; Fürstentum Liechtenstein, 118. Lieferung, S. 47, Art. 12 ff.; Luxemburg, 109. Lieferung, S. 53, Art. 161 ff.; Niederlande, 123. Lieferung, S. 63 f. Fn. 33; Norwegen, 138. Lieferung, §§ 3 f.; Österreich, 116. Lieferung, S. 141, Art. 4 ff.; Polen, 139. Lieferung, S. 40, Art. 14 § 1; Portugal, 132. Lieferung, S. 49, Art. 1602 lit. c; Schweden, 110. Lieferung, S. 22c, §§ 1 ff.; Spanien, 132. Lieferung, Art. 44 ff.; Türkei, 123. Lieferung, S. 24, Art. 92 Ziff. 2; Ungarn, 143. Lieferung, S. 37, § 8 Abs. 1 lit. d).
|
Erwägung 5 |
a) aa) Wird das Gesuch der Beschwerdeführenden abgewiesen, so können sie nicht heiraten. Sie werden ihre Beziehung voraussichtlich für deren ganze Dauer in der Form eines Konkubinats fortführen müssen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Konkubinat heute in unserer Gesellschaft eine weit verbreitete Form des Zusammenlebens darstellt, welche die Beschwerdeführenden schon seit Jahren freiwillig praktizieren. Rechtlich ist das Konkubinat der Ehe nur in einzelnen Bereichen gleichgestellt. Dies wirkt sich aber nicht in jedem Fall zum Nachteil der Konkubinatspartner aus (WERRO, a.a.O., N. 115 ff. und beispielsweise N. 139). Im Übrigen besteht teilweise die Möglichkeit, die Rechtsverhältnisse im Konkubinat durch Vereinbarungen jenen in der Ehe anzugleichen: so können unverheiratete Eltern beispielsweise gemeinsam die elterliche Sorge beantragen (Art. 298a Abs. 1 ZGB). Sozialversicherungsrechtlich sind Verheiratete im Hinblick auf die Witwenrente besser gestellt. Sie sind aber im Bereich der Altersrente gegenüber Konkubinatspartnern benachteiligt, ist doch die Ehepaarrente tiefer als die Summe von zwei Einzelrenten. Der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführenden auf Eheschliessung ist damit zwar von Dauer, aber nicht von einer ausserordentlichen Schwere.
|
bb) Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit berufen sich die Beschwerdeführenden auch auf die Interessen ihrer Kinder. Im schweizerischen Zivilrecht sind die ausserehelichen Kinder den ehelichen vollkommen gleichgestellt. Dass ein Kind nicht ehelich ist, kommt heute häufig vor und erscheint nicht mehr als etwas besonderes. Bei einer grossen Anzahl ehelicher Kinder wird überdies die Ehe der Eltern im Lauf ihrer Kindheit geschieden, so dass sich diese in einer Situation befinden, die jener der ausserehelichen Kinder sehr ähnlich ist. Unter diesen Umständen sind heute weder spezielle Vorurteile Dritter noch eine besondere soziale Benachteiligung zu erwarten, wie sie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor einigen Jahren noch befürchtete (Urteil i.S. F. c. Schweiz vom 18. Dezember 1987, Serie A, Bd. 128, Ziff. 36). Im Übrigen dürften auch die Beschwerdeführenden nicht von einer erheblichen Benachteiligung ausserehelicher Kinder ausgegangen sein, andernfalls hätten sie ihre Kinder nicht ausserhalb der Ehe gezeugt.
|
c) Unter diesen Umständen geht das Bundesgericht davon aus, dass der Integration des Kindes in die Stieffamilie und seiner freien Entwicklung und Entfaltung ein allgemein anerkanntes öffentliches Interesse zukommt, das die Grundrechtsbeschränkung auf Seiten der Beschwerdeführenden rechtfertigt. Die Anwendung von Art. 95 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB verstösst demnach nicht gegen Art. 12 EMRK.
|