BGE 142 IV 29 |
6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm (Beschwerde in Strafsachen) |
1B_419/2015 vom 21. Dezember 2015 |
Regeste |
Art. 226 Abs. 4 lit. c, Art. 227 Abs. 5, Art. 237 Abs. 1 StPO; Anordnung von Ersatzmassnahmen an Stelle der Untersuchungshaft. |
Sachverhalt |
A. Die Staatsanwaltschaft Zofingen-Kulm führt gegen den tunesischen Staatsangehörigen A. eine Strafuntersuchung wegen Verdachts der mehrfachen Drohung und mehrfachen Nötigung (im Rahmen häuslicher Gewalt). A. wurde am 24. August 2015 festgenommen und mit Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Aargau einstweilen bis zum 24. November 2015 wegen Kollusions- und Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft versetzt. Ein von ihm gestelltes Haftentlassungsgesuch, dem die Staatsanwaltschaft nicht entsprechen wollte, wies das Zwangsmassnahmengericht mit Entscheid vom 21. September 2015 ab.
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B. Am 19. Oktober 2015 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht gestützt auf Art. 227 Abs. 1 und 2 sowie Art. 237 StPO die Anordnung von Ersatzmassnahmen anstelle der bestehenden Untersuchungshaft. Das Zwangsmassnahmengericht wies dieses Begehren mit Verfügung vom 26. Oktober 2015 ab. Es bejahte Flucht- sowie Wiederholungsgefahr und erwog, die vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen, mit denen der Fluchtgefahr begegnet werden sollte, seien nicht von ausreichender Sicherungsqualität.
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C. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 2. Dezember 2015 gelangt A. an das Bundesgericht und beantragt, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und er sei, allenfalls unter Anordnung von Ersatzmassnahmen, aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen: |
3.2 Nach dem Wortlaut von Art. 226 Abs. 4 lit. c StPO resp. Art. 227 Abs. 5 StPO, der in allen Amtssprachen einheitlich ist, hat das Zwangsmassnahmengericht im Haftanordnungs- oder -prüfungsverfahren stets zu untersuchen, ob der Haftzweck mit weniger einschneidenden Massnahmen erreicht werden kann. Insoweit wird der verfassungs- und konventionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV; Art. 5 Ziff. 3 EMRK) positivrechtlich konkretisiert und umgesetzt. Strafprozessuale Haft darf nur als "ultima ratio" angeordnet oder aufrechterhalten werden. Wo sie durch mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von ihrer Anordnung oder Fortdauer abgesehen und an ihrer Stelle eine solche Ersatzmassnahme verfügt werden (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 197 Abs. 1 lit. c StPO). Dies gebietet insbesondere Art. 237 Abs. 1 StPO: Danach ordnet das zuständige Gericht an Stelle von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen. Mit anderen Worten sind Ersatzmassnahmen zu verfügen, wenn sie Flucht-, Kollusions-, Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr zu bannen vermögen (vgl. BGE 140 IV 74 E. 2.2 S. 78).
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Wenngleich Art. 226 Abs. 4 lit. c StPO und Art. 227 Abs. 5 StPO für den hier zu beurteilenden Fall nicht direkt anwendbar sind, ist ihnen dennoch zu entnehmen, dass der zuständige Haftrichter gehalten ist, diejenigen Zwangsmassnahmen zu treffen, die am geringsten in die Grundrechtsposition des Beschuldigten eingreifen. Nach deren Sinn und Zweck dient die Haftprüfung durch das Zwangsmassnahmengericht insoweit dem Schutz der beschuldigten Person. Es hat der Staatsanwaltschaft, der im Vorverfahren eine starke Stellung zukommt (vgl. E. 3.4 hernach), als korrektives Gegengewicht gegenüberzutreten (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung der Strafprozessordnung, BBl 2006 1085, 1107 Ziff. 1.5.2.3 und 1137 Ziff. 2.2.1.3; PETER GOLDSCHMID, Das Zwangsmassnahmengericht, forumpoenale 1/2011 S. 39). Dies spricht wiederum dafür, dass es ihm verwehrt sein soll, über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinauszugehen und anstelle der beantragten Ersatzmassnahmen Untersuchungshaft anzuordnen oder aufrechtzuerhalten.
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3.3 Dasselbe ergibt sich aus der Botschaft zur Vereinheitlichung der Strafprozessordnung. Wie bereits ausgeführt (vgl. nicht publ. E. 2.2), schliesst diese im Rahmen der erstmaligen Anordnung von Untersuchungshaft die Möglichkeit für das Zwangsmassnahmengericht aus, eine solche anzuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft lediglich Ersatzmassnahmen beantragt hat (BBl 2006 1085, 1232 zu Art. 225 Abs. 4). Während eine Lehrmeinung den aus Art. 226 Abs. 4 lit. c StPO abgeleiteten Umkehrschluss für diskutabel erachtet (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 10 zu Art. 226 StPO) und eine weitere dazu bemerkt, die StPO kenne in diesem Zusammenhang kein (zwangsmassnahmenrechtliches) Verbot der reformatio in peius (MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Fn. 93 zu Art. 226 StPO), teilt das Schrifttum grösstenteils die in der Botschaft vertretene Auffassung, ohne sie jedoch näher zu erörtern (vgl. DANIEL LOGOS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 20 zu Art. 226 StPO; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2013, N. 24 zu Art. 226 StPO; HUG/SCHEIDEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 13 zu Art. 226 StPO; MATTHIAS HÄRRI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 46 zu Art. 237 StPO; FABIO MANFRIN, Ersatzmassnahmenrecht nach Schweizerischer Strafprozessordnung, 2014, S. 302). Nach der Botschaft ist das Zwangsmassnahmengericht insoweit an das Begehren der Staatsanwaltschaft gebunden, als es mangels entsprechenden Antrags nicht auf Untersuchungshaft erkennen kann; indes steht sie der Möglichkeit einer Anordnung anderer als der beantragten Ersatzmassnahmen, mithin auch schärferen, nicht entgegen. Auch die Lehre räumt dem Zwangsmassnahmengericht eine solche Befugnis ein, sofern der beschuldigten Person vorgängig das rechtliche Gehör gewährt wird (vgl. HUG/SCHEIDEGGER, a.a.O., N. 13 zu Art. 226 StPO; FORSTER, a.a.O., Fn. 93 zu Art. 226 StPO; SCHMID, a.a.O., N. 10 zu Art. 226 StPO). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind denn auch diejenigen Ersatzmassnahmen zu verfügen, die ihrerseits verhältnismässig sind (BGE 140 IV 74 E. 2.2 S. 78).
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3.4 Die Frage, ob das Zwangsmassnahmengericht über das Begehren der Staatsanwaltschaft um Anordnung von Ersatzmassnahmen hinausgehen darf, hängt des Weiteren von seiner Funktion und von der gesetzlichen Kompetenzordnung ab. Nach Art. 18 i.V.m. Art. 224 ff. bzw. Art. 237 StPO ist es zwar zuständig für die Anordnung der Untersuchungshaft und von Ersatzmassnahmen (vgl. BGE 137 IV 92 E. 2.1 S. 95; Urteil 1B_126/2012 vom 28. März 2012 E. 2.2.1; FORSTER, a.a.O., N. 4 zu Art. 226 StPO; HÄRRI, a.a.O., N. 46 zu Art. 237 StPO), während der Staatsanwaltschaft im Haftanordnungs- und -prüfungsverfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht mangels Leitungsbefugnissen materiell Parteistellung zukommt (vgl. BGE 137 IV 87 E. 3.3.2 S. 91 f. mit Hinweisen). Dies ändert jedoch nichts am Grundsatz, dass die Staatsanwaltschaft im (übrigen) Vorverfahren die Verfahrensleitung innehat (Art. 16 Abs. 2 und Art. 61 lit. a StPO) und für die Führung des Strafverfahrens auf dieser Stufe generell verantwortlich ist. Sie hat diejenigen Verfahrenshandlungen vorzunehmen, die für eine gesetzeskonforme, sachgerechte und ordnungsgemässe Durchführung des Vorverfahrens notwendig sind und der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs dienen (Art. 16 Abs. 1 und Art. 62 ff. StPO; vgl. BGE 138 IV 124 E. 2.2.1 S. 145). Ihren Begehren kommt deshalb massgebliches Gewicht und wegweisender Charakter zu. Insoweit hat die Staatsanwaltschaft als Garantin des Strafverfahrens dafür besorgt zu sein, dass dessen Fortführung durch die Freilassung der beschuldigten Person nicht erschwert oder sogar vereitelt wird, sondern dass - wenn nötig - diejenigen Zwangsmassnahmen getroffen werden, die erforderlich sind, um es zielführend voranzutreiben. Erachtet sie somit, nachdem sie den belastenden und entlastenden Umständen mit gleicher Sorgfalt nachgegangen ist und eingehende Kenntnisse des Straffalls erworben hat (Art. 6 StPO), im konkreten Einzelfall Ersatzmassnahmen für die Durchführung des Strafverfahrens als ausreichend, kann sich das Zwangsmassnahmengericht nicht darüber hinwegsetzen und an deren Stelle Untersuchungshaft anordnen, ansonsten es sich in die Führung des Strafverfahrens einmischt und sich Kompetenzen anmasst, die ihm von Gesetzes wegen nicht zustehen. Seine Funktion liegt vielmehr in der Kontrolle der Rechtmässigkeit der beantragten Zwangsmassnahmen, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit.
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3.5 Aus all diesen Gründen ist das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung in der StPO als qualifiziertes Schweigen einzustufen. Das Zwangsmassnahmengericht kann von Gesetzes wegen keine Untersuchungshaft verfügen oder aufrechterhalten, wenn die Staatsanwaltschaft lediglich Ersatzmassnahmen beantragt hat. Sind deren Voraussetzungen erfüllt, kann es zwar in Abweichung des Antrags der Staatsanwaltschaft und unter Wahrung des rechtlichen Gehörs andere oder eine Kombination von Ersatzmassnahmen anordnen, die insgesamt stärker in die Grundrechtsposition des Beschuldigten eingreifen (vgl. Art. 10 Abs. 2 BV; BGE 133 I 27 E. 3.5 S. 32). Um aber auf Untersuchungshaft erkennen zu können, bedarf es eines entsprechenden Begehrens der Staatsanwaltschaft. Diese hat mithin mindestens im Eventualstandpunkt einen Haftantrag zu stellen, wenn der Beschuldigte für den Fall, dass die Ersatzmassnahmen mit Blick auf die angestrebten, im öffentlichen Interesse liegenden Ziele (z.B. die Sicherstellung seiner Anwesenheit im Strafverfahren) eine bloss unzureichende Wirkung entfalten könnten, nicht freizulassen ist. (...)
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