BGE 140 I 77 |
5. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. F. gegen Ausgleichskasse des Kantons Freiburg (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_383/2013 vom 6. Dezember 2013 |
Regeste |
Art. 35 AHVG; Rentenplafonierung. |
Ob sich aus der EMRK Ansprüche auf positive staatliche Leistungen ableiten lassen, ist fraglich (E. 5.3 und 10). |
Sachverhalt |
A. Der 1938 geborene, verheiratete F. bezog seit 1. August 2003 eine ordentliche AHV-Altersrente im Maximalbetrag von monatlich Fr. 2'110.-. Nachdem seine Ehefrau B., geboren 1948, das Rentenalter erreicht hatte, sprach ihr die Ausgleichskasse des Kantons Freiburg mit Verfügung vom 21. August 2012 eine plafonierte monatliche Alters-Teilrente in Höhe von Fr. 889.- zu. Gleichentags verfügte die Ausgleichskasse die Kürzung der Altersrente des F. auf den gesetzlich zulässigen Höchstbetrag und sprach ihm ab 1. September 2012 eine monatliche Rente von Fr. 1'958.- zu. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 7. November 2012 fest. |
B. Die hiegegen erhobene Beschwerde des F. wies das Kantonsgericht Freiburg, II. Sozialversicherungsgerichtshof, mit Entscheid vom 16. April 2013 ab.
|
C. F. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt im Wesentlichen die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, die Feststellung der Nichtigkeit, eventualiter die Aufhebung und Feststellung der Völkerrechtswidrigkeit der Verfügung vom 21. August 2012 sowie die Zusprechung einer monatlichen Maximalrente (Fr. 2'110.-) seit 1. August 2003 bzw. die Nachzahlung der Differenzbeträge (monatlich Fr. 152.-) seit 1. September 2012. |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
|
Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
4. Hintergrund der mit der Schaffung der AHV im Jahr 1948 eingeführten Ehepaarrente (Art. 35 AHVG) war die dem damaligen Normalfall entsprechende klassische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und die Berechnung, wonach die Kosten eines Zweipersonenhaushaltes rund das 11 /2 -Fache eines Einpersonenhaushaltes betragen. Mit Inkrafttreten des neuen Eherechts im Jahre 1988 wurden die Ehepaarrenten im Zuge der 10. AHV-Revision durch Individualrenten mit Teilung der während der Ehe erzielten Einkommen ersetzt, wobei die Summe der beiden Individualrenten 150 Prozent der Maximalrente nicht übersteigen darf. Es steht ausser Frage, dass die Plafonierung Ehepaare bezüglich der Rentenhöhe schlechter stellt als unverheiratet zusammenlebende Paare. Zu prüfen bleibt, ob darin eine verpönte Diskriminierung liegt. |
Erwägung 5 |
5.1 Bei der Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Regelungen mit Anknüpfung an familienrechtliche Sachverhalte ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber vorbehältlich - hier fehlender - gegenteiliger Anordnungen die zivilrechtliche Bedeutung des jeweiligen Instituts im Blickfeld hatte, zumal das Familienrecht für das Sozialversicherungsrecht Voraussetzung ist und diesem grundsätzlich vorgeht (vgl. BGE 135 V 361 E. 5.3.3 S. 366 f.; BGE 124 V 64 E. 4a S. 67; BGE 121 V 125 E. 2c/aa S. 127 mit Hinweisen; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 14/04 vom 19. September 2005 E. 3, in: SVR 2006 BVG Nr. 12 S. 44). Das Gebot der Rechtsgleichheit wird verletzt, wenn ein Erlass rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen. Das Rechtsgleichheitsgebot ist insbesondere verletzt, wenn Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird, was beispielsweise zutrifft, wenn hinsichtlich einer entscheidwesentlichen Tatsache rechtliche Unterscheidungen getroffen werden, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder wenn Unterscheidungen unterlassen werden, die aufgrund der Verhältnisse hätten getroffen werden müssen (vgl. BGE 134 I 23 E. 9.1 S. 42 mit Hinweisen; BGE 133 V 569 E. 5.1 S. 570 f.;131 I 91 E. 3.2 S. 103).
|
5.2 Gemäss Art. 8 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Familienlebens. Geschützt sind tatsächlich gepflegte Beziehungen innerhalb der Kernfamilie (Eltern, Kinder), unter Umständen auch weitere Beziehungen (z.B. zu den Grosseltern; MATTHIAS KRADOLFER, Soziale Sicherheit zwischen "Verrechtlichung" und Fortentwicklung, ZBl 113/2012 S. 54 ff., 67). Die Bestimmung begründet ein Recht auf Zusammenleben und auf persönliche Kontakte unter den Familienmitgliedern (JENS MEYER-LADEWIG, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 3. Aufl. 2011, N. 53 zu Art. 8 EMRK). Der Schutz des Familienlebens umfasst aber auch den Schutz der Ehe (unabhängig vom Zusammenleben; vgl. SUSANNE LEUZINGER-NAEF, Tragweite des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens [Art. 8 EMRK] und auf Eheschliessung [Art. 12 EMRK] im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, in: Festschrift Ingeborg Schwenzer, Bd. II, 2011, S. 1050). |
5.3 Die Grundrechte auf Familie und Achtung des Familienlebens (Art. 14 BV und Art. 8 EMRK) richten sich in erster Linie als Abwehrrechte gegen den Staat. Sie begründen nur ausnahmsweise und punktuell verfassungsunmittelbare Leistungsansprüche (BGE 138 I 225 E. 3.8.1 S. 231 mit Hinweis auf GRABENWARTER/PABEL, Europäische Menschenrechtskonvention, 2012, S. 238 § 22 Rz. 21; vgl. auch BGE 129 I 12 E. 8.4 S. 23; BGE 127 I 84 E. 4b S. 88; BGE 126 II 300 E. 5 S. 314 f.; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 2013, S. 75 Rz. 165; KIENER/KÄLIN, Grundrechte, 2013, S. 36; Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] Schlumpf gegen Schweiz, Nr. 29002/06 vom 8. Januar 2009, und Petrovic gegen Österreich, Nr. 20458/92 vom 27. März 1998). Auch wenn aufgrund der Nähe zwischen gelebter Familienordnung und sozialversicherungsrechtlichen Leistungen solche Ansprüche möglicherweise das Recht auf Schutz des Familienlebens tangieren (Urteil Petrovic gegen Österreich, § 29), kann aus Art. 8 EMRK grundsätzlich kein direkter Anspruch auf positive staatliche Leistungen, welche die Ausübung des Familienlebens ermöglichen, abgeleitet werden (BGE 138 I 225 E. 3.5 S. 229; BGE 120 V 1 E. 2a S. 4; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 310/93 vom 17. Februar 1994 E. 4b/aa; E. 10 hienach). Jedoch ist bei der Auslegung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsnormen sowie bei der Ermessenshandhabung den Grundrechten und verfassungsmässigen Grundsätzen Rechnung zu tragen, soweit dies im Rahmen von Art. 190 BV, wonach Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend sind, möglich ist (BGE 134 I 105 E. 6 S. 110; BGE 126 V 334 E. 2d S. 340; BGE 118 V 206 E. 5b S. 211; BGE 113 V 22 E. 4d S. 32; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 750/04 vom 5. April 2006 E. 5.2 und I 68/02 vom 18. August 2005 E. 3.2).
|
5.4 Es ist alsdann abzuwägen zwischen den grundrechtlich geschützten Positionen der versicherten Person und dem Anliegen der Einfachheit und Zweckmässigkeit, denn der Anspruch aus Art. 8 Ziff. 1 EMRK gilt nicht absolut. Vielmehr ist nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ein Eingriff in das durch Ziff. 1 geschützte Rechtsgut zulässig, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesellschaft und Moral sowie der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (BGE 135 I 153 E. 2.2.1 S. 156). |
Erwägung 6 |
6.2 Ebenfalls wurden bis anhin keine gesetzlichen Grundlagen für eine spezielle sozialversicherungsrechtliche Absicherung von Konkubinatspartnern geschaffen (vgl. Urteil 8C_900/2010 vom 20. April 2011 E. 6.1.2, in: ARV 2012 S. 208). Demgegenüber werden im hier relevanten Bereich der AHV die Ehe und seit 1. Januar 2007 auch die registrierte Partnerschaft durch das Gesetz besonders geschützt, indem nur verheiratete oder eingetragene Partner beim Tod des Partners Anspruch auf eine Hinterlassenenrente (Art. 23 ff. AHVG) oder auf einen Verwitwetenzuschlag zur Altersrente (Art. 35bis AHVG) haben. Eine Beitragsbefreiung gemäss Art. 3 AHVG oder die Anrechnung einer Betreuungsgutschrift (nach Art. 29septies AHVG) kommt ebenfalls nur bei Ehepaaren und eingetragenen Partnerschaften zur Anwendung. Ehepaare und eingetragene Partner erhalten somit AHV- (und IV-)Leistungen oder profitieren von Beitragserleichterungen, die Konkubinatspaaren nicht zustehen. Auch in anderen Sozialversicherungen wie der beruflichen Vorsorge (Art. 19 und 19a BVG), der Unfallversicherung (Art. 29 UVG) oder der Militärversicherung (Art. 52 ff. des Bundesgesetzes vom 19. Juni 1992 über die Militärversicherung [MVG; SR 833.1]) werden Ehepaare speziell geschützt oder sogar gegenüber den anderen Versicherten finanziell privilegiert. Insgesamt liegt im Sozialversicherungsbereicheine Übervorteilung oder gar eine Diskriminierung der Ehepaare und der eingetragenen Partner gegenüber den Konkubinatspaaren jedenfalls nicht auf der Hand. In einer Gesamtbetrachtung der Sozialversicherungen finden sogar Solidaritätsflüsse von den unverheirateten zu den verheirateten Paaren statt (Bericht des Bundesamtes für Sozialversicherungen [BSV] vom 10. Juni 2013 zur Entwicklung des Anteils der öffentlichen Hand an der AHV-Finanzierung seit 1948, S. 31 Ziff. 7.5, abrufbar unter www.parlament.ch). |
6.3 Davon abgesehen, dass eine stabile eheähnliche (Wirtschafts-) Gemeinschaft - entgegen den Vorbringen in der Beschwerde - jedenfalls nicht allein durch einfache Deklaration auf der Steuererklärung rechtsgenüglich nachgewiesen werden könnte, wäre mit Blick auf die dargestellten Unterschiede zwischen Ehepaaren und eingetragenen Partnern einerseits sowie Konkubinatspaaren anderseits eine leistungsmässige Gleichbehandlung im Bereich der Altersrenten nicht einzig durch Einführung einer Rentenplafonierung auch bei Konkubinatspaaren zu bewerkstelligen. Eine Aufhebung der Plafonierung gemäss Art. 35 Abs. 1 AHVG vermöchte ebenfalls keine Gleichbehandlung zu erreichen, sondern würde vielmehr zu neuen Ungleichbehandlungen und einer (weiteren) Bevorzugung der Ehepaare führen. Der Gesetzgeber, dessen Aufgabe es - allenfalls - wäre, die Sozialversicherungsleistungen zivilstandsunabhängig auszugestalten, hat entsprechenden Bestrebungen (gegenwärtig ist die Volksinitiative "Für Ehe und Familie - gegen die Heiratsstrafe" hängig; vgl. Botschaft vom 23. Oktober 2013 zur Volksinitiative "Für Ehe und Familie - gegen die Heiratsstrafe" [nachfolgend: Botschaft], BBl 2013 8513, 8525 f. Ziff. 2.4.2) bislang nie Folge gegeben, auch unter Hinweis darauf, das Versicherungssystem sei insgesamt "austariert". Eine umfassende Neuregelung hätte nicht zuletzt zur Folge, dass bestehende sozialversicherungsrechtliche Sonderregelungen, welche Eheleute privilegieren, abzuschwächen oder aufzuheben wären. Der Beschwerdeführer klammert im Übrigen aus, dass die Aufhebung der Plafonierung nur für mittlere und hohe Einkommen - die zusammen mit den Renten aus der 2. Säule ohnehin vorsorgemässig gut gestellt sind - Verbesserungen brächte, während Personen mit tiefen und tiefsten Einkommen die Plafonierungsgrenze ohnehin nicht erreichen (Botschaft, a.a.O., 8534 f. Ziff. 4.2.2) und daher von einer Deplafonierung auch nicht profitieren könnten. Fraglich bleibt im Übrigen, ob grundsätzlich von einer verfassungs- und völkerrechtswidrigen Ungleichbehandlung gesprochen werden kann, wenn sich eine Regelung in einer Gesamtschau als vorteilhaft oder "eheneutral" auswirkt, was beispielsweise das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verneint hat (Beschluss 2 vom 25. Februar 2008 BvR 912/03 E. 2c/aa mit Hinweisen [betreffend Begrenzung des den Ehegatten steuerrechtlich gemeinsam zustehenden Vorwegabzuges für Vorsorgeaufwendungen]). |
7.1 Dem Entscheid X. gegen Österreich, Nr. 19010/07 vom 19. Februar 2013, lag das Problem zugrunde, dass die nationalen Gerichte nicht in der Lage waren, den Adoptionsantrag eines lesbischen Paares materiell zu prüfen, weil gemäss den innerstaatlichen Bestimmungen (§ 182 Abs. 2 ABGB) Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare rechtlich unmöglich waren. Demgegenüber wäre eine inhaltliche Prüfung der Adoptionsfrage unumgänglich gewesen, wenn ein (unverheiratetes) heterosexuelles Paar ein Adoptionsgesuch gestellt hätte. Die Strassburger Richter hatten zu prüfen, ob darin eine Diskriminierung gleichgeschlechtlicher gegenüber unverheirateten verschiedengeschlechtlichen Paaren liege. Der EGMR erwog, Art. 8 EMRK verpflichte die Mitgliedstaaten nicht, das Recht, ein Kind des Partners zu adoptieren, auch auf unverheiratete Paare zu erstrecken, zumal der Schutz der Familie im traditionellen Sinn grundsätzlich ein gewichtiger und legitimer Grund sei, der eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könne. Indes erlaube das österreichische Recht eine solche Adoption bei unverheirateten verschiedengeschlechtlichen Paaren. Entscheidend sei, ob die Verweigerung dieses Rechts für gleichgeschlechtliche Paare einem legitimen Zweck diene und verhältnismässig sei. Hiefür trage die österreichische Regierung die Beweislast. Diese habe aber keine besonderen Beweise oder wissenschaftlichen Studien beigebracht, die zeigen würden, dass eine Familie mit zwei Elternteilen desselben Geschlechts nicht angemessen für die Bedürfnisse eines Kindes sorgen könne. Sodann scheine es der nationalen Rechtslage auch an Kohärenz zu mangeln, weil die Adoption durch eine Einzelperson auch dann zulässig sei, wenn sie homosexuell sei. In diesem Fall müsse ein allfälliger eingetragener Partner oder eine eingetragene Partnerin zustimmen. Der österreichische Gesetzgeber habe folglich akzeptiert, dass ein Kind in einer durch ein gleichgeschlechtliches Paar gebildeten Familie aufwachse und dies für das Kind nicht schädlich sei. Damit sei der Ausschluss der Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare unverhältnismässig und verstosse gegen Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK. |
7.2 Im Entscheid Andrle gegen Tschechische Republik, Nr. 6268/08 vom 17. Februar 2011, hatte der Gerichtshof ein unterschiedliches, auf der Anzahl der grossgezogenen Kinder basierendes Pensionsalter von Männern und Frauen zu beurteilen. Die nationalstaatliche Regelung sah vor, dass das Pensionsalter für Männer 60 Jahre betrug, während es für Frauen auf 53 Jahre festgesetzt wurde, wenn sie mindestens fünf Kinder grossgezogen hatten, auf 54 Jahre bei mindestens vier Kindern, auf 55 Jahre bei zwei Kindern, auf 56 Jahre bei einem Kind und auf 57 Jahre bei kinderlosen Frauen. Der EGMR hielt fest, gesetzliche Ansprüche auf Zahlungen aus einem Sozialleistungsanspruch seien für Personen, welche die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, als Einräumung eines Eigentumsinteresses anzusehen, das in den Anwendungsbereich von Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK falle, und zwar unabhängig davon, ob die Ansprüche von vorausgegangenen Beitragszahlungen abhängen oder nicht. Auch wenn diese Bestimmung kein Recht auf Erhalt von Sozialversicherungsleistungen jeglicher Art enthalte, müsse ein Staat, wenn er sich für die Errichtung eines Sozialleistungssystems entscheidet, dieses in Einklang mit Art. 14 EMRK errichten. Im Weiteren bezeichnete der Gerichtshof Pensionssysteme als "Eckpfeiler moderner europäischer Wohlfahrtssysteme", welche auf dem Prinzip von Langzeitbeiträgen und dem daraus folgenden, zumindest teilweise vom Staat garantierten Pensionsanspruch gründen. Die Besonderheiten dieses Systems - Stabilität und Zuverlässigkeit - erlaubten eine lebenslange Familien- und Karriereplanung. Jede Anpassung des Pensionssystems müsse daher sukzessive, behutsam und massvoll vorgenommen werden. Ein anderer Ansatz würde den sozialen Frieden, die Vorhersehbarkeit des Pensionssystems und die Rechtssicherheit gefährden. Stünden bei einer Änderung verschiedene Methoden zur Auswahl, komme der nationale Gesetzgeber nicht umhin, mögliche Lösungen gut durchzudenken, zumal die Vorhersehbarkeit des Systems für die zur Beitragsleistung verpflichteten Betroffenen zu wahren sei. Im Ergebnis hielt der Gerichtshof fest, es sei ursprüngliches Ziel des unterschiedlichen, auf der Anzahl der von Frauen grossgezogenen Kindern basierenden Pensionsalters gewesen, die tatsächlichen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen auszugleichen. Unter den besonderen konkreten Umständen bleibe dieser Ansatz weiterhin vernünftig und objektiv gerechtfertigt, bis soziale und wirtschaftliche Veränderungen die Notwendigkeit einer Sonderbehandlung von Frauen beseitigt hätten. Die zeitliche Abstimmung und die fraglichen Ungleichheiten seien nicht so offensichtlich unangebracht, dass sie den weiten staatlichen Ermessensspielraum überstiegen. Der Staat könne nicht dafür kritisiert werden, kein angemessenes Gleichgewicht zwischen der behaupteten unterschiedlichen Behandlung und dem verfolgten, legitimen Ziel gewahrt zu haben. Es liege keine Verletzung von Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 1 des (von der Schweiz nicht ratifizierten) ersten Zusatzprotokolls zur EMRK vor. |
7.3 Im Urteil Stec und andere gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 65731/01 und 65900/01 vom 12. April 2006, befasste sich der Gerichtshof ebenfalls mit einem unterschiedlichen Pensionsalter von Männern und Frauen. Er kam zum Schluss, die dadurch hervorgerufene Diskriminierung, welche als Ausgleich für die von Frauen traditionell unbezahlt verrichtete Arbeit in Haushalt und Familie eingeführt worden sei, habe zur Korrektur einer "faktischen Ungleichheit" gedient und damit einen legitimen Zweck verfolgt, der die innerstaatliche Regelung als angemessen und sachlich gerechtfertigt erscheinen lasse. Das Vereinigte Königreich habe den weiten Beurteilungsspielraum, der den Staaten in einem solchen Fall zustehe ("a wide margin is usually allowed to the State under the Convention when it comes to general measures of economic or social strategy"), nicht überschritten. Art. 14 EMRK sei nicht verletzt. |
8. Der Diskriminierungsbegriff der EMRK ist bereits aus entstehungsgeschichtlichen Gründen tendenziell enger auszulegen, wenn ein Anspruch auf staatliche Leistungen der sozialen Sicherheit im Raum steht: Die Schöpfer der Konvention verfolgten das Ziel, einen Katalog von Abwehrrechten zu konzipieren unter ausdrücklicher Negation des Schutzes sozialer Rechte (ARNO FROHWERK, Soziale Not in der Rechtsprechung des EGMR, Giessen 2011, Tübingen 2012, S. 229, mit Hinweis auf: Council of Europe, Collected edition of the "Travaux préparatoires" of the European Convention on Human Rights, Vol. I, 1975, S. 219). Darüber hinaus und vor allem gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten im Bereich der Ausgestaltung von Systemen der sozialen Sicherheit einen weiten Beurteilungsspielraum zu. Dies gilt in besonderem Mass für die von zahlreichen innerstaatlichen Faktoren beeinflussten, sich generell in einer feinen Balance befindlichen Pensionssysteme. Der Gerichtshof räumt der Kohärenz nationaler Rechtssysteme (hiezu das in E. 7.1 zusammengefasste Urteil X. gegen Österreich ) auch und gerade in diesem Bereich grosses Gewicht ein und wertet weder die Kompensation von Ungleichheiten aus früheren (Beitrags-)Zeiten, auch wenn sie zu gewissen Diskriminierungen im Bereich der Anspruchshöhe führten, noch den Ausgleich anderer faktischer Differenzen zwischen verschiedenen Lebensformen durch unterschiedlich ausgestaltete staatliche Leistungen grundsätzlich als konventionswidrig (vgl. die bereits zitierten Entscheide Andrle [E. 7.2 hievor] und Stec [E. 7.3 hievor]). |
9. Ehe und Konkubinat sind (in der schweizerischen Rechtsordnung) unterschiedliche Formen des Zusammenlebens mit unterschiedlichen Rechtswirkungen. Für die nur bei verheirateten Paaren und eingetragenen Partnerschaften gesetzlich verankerte Rentenplafonierung gibt es in einer Gesamtschau des Sozialversicherungsrechts die dargelegten sachlichen Gründe (E. 6 hievor). Zwar werden diesen Lebensformen tiefere Altersrenten zugestanden, indes auch zahlreiche Privilegien eingeräumt. Von einer im Sinne des Gleichbehandlungsgebotes von Art. 8 Abs. 1 BV unzulässigen oder willkürlichen (Art. 9 BV) Diskriminierung der (wirtschaftlichen Einheit der) Ehepaare und einer dadurch bewirkten Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens kann nicht gesprochen werden. Nach dem Gesagten liesse sich die Ungleichbehandlung von (ungetrennten) Ehepaaren und eingetragenen Partnern gegenüber Konkubinaten nicht einfach mit einer Aufhebung der Rentenplafonierung gemäss Art. 35 Abs. 1 AHVG oder der Einführung einer Plafonierung für Konkubinate aus der Welt schaffen (vgl. E. 6.3), sondern es wäre eine umfassende Neuregelung unter Berücksichtigung des dargelegten komplexen Zusammenspiels gesetzlich geregelter Vor- und Nachteile der jeweiligen Lebensformen nötig, um die leistungsmässige Ungleichbehandlung im Bereich der Altersrenten zu eliminieren und diese zivilstandsunabhängig auszugestalten. Auch im Lichte der Rechtsprechung des EGMR kann in der hier strittigen Rentenplafonierung gemäss Art. 35 AHVG keine unzulässige Diskriminierung einer bestimmten (wirtschaftlichen) Lebensgemeinschaft im Sinne von Art. 8 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 EMRK gesehen werden. Einer Anwendung von Art. 35 AHVG steht somit, ohne dass näher auf das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht einzugehen wäre (vgl. hiezu BGE 139 I 16 E. 5 S. 28 ff.), nichts im Wege. |