BGE 143 I 292
 
26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn gegen A. (Beschwerde in Strafsachen)
 
1B_115/2016 vom 21. März 2017
 
Regeste
Art. 113 Abs. 1 und Art. 280 f. i.V.m. Art. 269 ff. StPO; Art. 10 Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 und Art. 36 BV; Art. 8 EMRK; Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten.
 
Sachverhalt


BGE 143 I 292 (293):

A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn führt eine Strafuntersuchung gegen A. und B. (im Folgenden: die Beschuldigten). Sie wirft ihnen vor, ihren im Mai 2010 geborenen gemeinsamen Sohn am 26. Juli 2010 vorsätzlich getötet zu haben. Schon ab einem Zeitpunkt kurz nach der Geburt hätten sie dem Sohn zudem vorsätzlich verschiedene schwere und einfache Körperverletzungen zugefügt. Überdies hätten die Beschuldigten ihrer im Februar 2012 geborenen gemeinsamen Tochter, als diese ca. 7 Wochen alt gewesen sei, eine schwere Körperverletzung zugefügt. Die bei der Tochter festgestellten medizinischen Befunde seien typisch für ein Schütteltrauma. Am 27. April 2012 habe die Tochter neurochirurgisch operiert werden müssen.
B. Mit Verfügung vom 9. Mai 2012 ordnete die Staatsanwaltschaft den Einsatz technischer Überwachungsgeräte zum Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes (Audio-Überwachung) in der Wohnung der Beschuldigten im Kanton Basel-Landschaft an. Die Staatsanwaltschaft verfügte den Einsatz der Überwachungsgeräte für die Dauer von einem Monat, beginnend ab der ersten Entlassung eines Beschuldigten aus der Untersuchungshaft. Sie ordnete den Einsatz nur gegenüber den Beschuldigten an und beauftragte die Polizei mit der Installation, der Durchführung sowie der Auswertung der Überwachung. Für die Installation der Überwachungsgeräte gewährte sie der Polizei den Zutritt zu den betreffenden Räumlichkeiten.
Gleichentags ersuchte die Staatsanwaltschaft das Haftgericht des Kantons Solothurn um Genehmigung der Überwachung.
Am 10. Mai 2012 genehmigte das Haftgericht die Überwachung gemäss der Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 9. Mai 2012.
Am 20. Juni 2012 beendete die Staatsanwaltschaft die Überwachung der Wohnung im Kanton Basel-Landschaft per 22. Juni 2012, da sich gezeigt hatte, dass sich die Beschuldigten dort nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft nur noch sporadisch für wenige Stunden aufhielten.


BGE 143 I 292 (294):

C. Am 21. August 2012 ordnete die Staatsanwaltschaft die Audio-Überwachung der neuen Wohnung der Beschuldigten im Kanton Solothurn für die Dauer eines Monats ab dem 24. August 2012 an. Dies genehmigte das Haftgericht am 23. August 2012.
In der Folge verlängerte die Staatsanwaltschaft die Überwachung der Wohnung zweimal, was das Haftgericht jeweils genehmigte. Am 24. Oktober 2012 beendete die Staatsanwaltschaft die Überwachung per 29. Oktober 2012.
D. Die Überwachungen betrafen die Umstände des Todes des Sohnes. Am 8. April 2015 ersuchte der neu zuständige Staatsanwalt das Haftgericht um Genehmigung der Verwertung aller fallrelevanten Erkenntnisse mit Bezug auf die Tochter als Zufallsfunde. Am 9. April 2015 entsprach das Haftgericht dem Gesuch.
E. Am 22. Mai 2015 setzte die Staatsanwaltschaft A. über die Überwachung in Kenntnis.
Am 8. Juni 2015 erhob A. gegen die Überwachung Beschwerde.
Am 3. Februar 2016 hiess das Obergericht des Kantons Solothurn (Beschwerdekammer) die Beschwerde gut. Es hob sämtliche Verfügungen der Staatsanwaltschaft und des Haftgerichts auf, mit denen diese die Audio-Überwachungen der Wohnungen angeordnet bzw. genehmigt hatten. Das Obergericht erklärte die aus den Überwachungen gewonnenen Erkenntnisse für unverwertbar. Es ordnete deren Entfernung aus den Akten, die Vernichtung der in den Akten liegenden Tonträger und die unwiederbringliche Löschung der sich bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei befindenden Aufnahmen an. Die Löschungen seien zu dokumentieren.
Das Obergericht befand unter Hinweis auf ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (BVerfGE 109 279), die Überwachung sei unverhältnismässig gewesen. Zudem habe die Staatsanwaltschaft keine Massnahmen zum Schutz des absoluten Kernbereichs der privaten Lebensgestaltung der Beschuldigten getroffen.
F. Die Staatsanwaltschaft, vertreten durch den Oberstaatsanwalt, führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben. Die Beschwerde von A. vom 8. Juni 2015 sei vollumfänglich abzuweisen. Eventualiter sei der Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an dieses zurückzuweisen. (...)
(Auszug)
 


BGE 143 I 292 (295):

Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
Nach Art. 281 StPO darf der Einsatz nur gegenüber der beschuldigten Person angeordnet werden (Abs. 1). Räumlichkeiten oder Fahrzeuge von Drittpersonen dürfen nur überwacht werden, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen angenommen werden muss, dass die beschuldigte Person sich in diesen Räumlichkeiten aufhält oder dieses Fahrzeug benutzt (Abs. 2). Der Einsatz darf nicht angeordnet werden, um: a. zu Beweiszwecken Vorgänge zu erfassen, an denen eine beschuldigte Person beteiligt ist, die sich im Freiheitsentzug befindet; b. Räumlichkeiten oder Fahrzeuge einer Drittperson zu überwachen, die einer der in den Artikeln 170-173 genannten Berufsgruppen angehört (Abs. 3). Im Übrigen richtet sich der Einsatz technischer Überwachungsgeräte nach den Artikeln 269-279 (Abs. 4).
Art. 269-279 StPO betreffen die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs. Gemäss Art. 269 Abs. 1 StPO ist die Überwachung zulässig, wenn: a. der dringende Verdacht besteht, eine in Absatz 2 genannte Straftat sei begangen worden; b. die Schwere der Straftat die Überwachung rechtfertigt; und c. die bisherigen Untersuchungshandlungen erfolglos geblieben sind oder die Ermittlungen sonst aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden (Abs. 1). Art. 269 Abs. 2 StPO nennt verschiedene Straftaten ("Katalogtaten"), zu deren Verfolgung eine Überwachung angeordnet werden kann, so unter anderem vorsätzliche Tötung gemäss Art. 111 StGB und schwere Körperverletzung gemäss Art. 122 StGB (lit. a).
Auch der Einsatz technischer Überwachungsgeräte bedarf der Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht (Art. 272 Abs. 1 StPO). Dieses erteilt die Genehmigung für höchstens 3 Monate. Die Genehmigung kann ein- oder mehrmals um jeweils höchstens 3 Monate verlängert werden (Art. 274 Abs. 5 StPO). Die Staatsanwaltschaft teilt der überwachten beschuldigten Person Grund, Art und Dauer der Überwachung spätestens mit Abschluss des

BGE 143 I 292 (296):

Vorverfahrens grundsätzlich mit. Die überwachte Person kann Beschwerde erheben (Abs. 279 StPO).
Gemäss Art. 36 BV bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein (Abs. 1). Sie müssen verhältnismässig sein (Abs. 3). Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar (Abs. 4).
Die Überwachung stellte ebenso einen Eingriff dar in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK (BGE 109 Ia 273 E. 4a S. 280; MEYER-LADEWIG/NETTESHEIM, in: EMRK, Handkommentar, Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer [Hrsg.], 4. Aufl. 2017, N. 35 zu Art. 8 EMRK; JULIANE PÄTZOLD, in: Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Karpenstein/Meyer [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 77 zu Art. 8 EMRK; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, N. 46 zu Art. 8 EMRK). Die Behörde darf nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft unter anderem notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Bei Abwägung aller Umstände muss der Eingriff verhältnismässig sein. Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an (MEYER- LADEWIG/NETTESHEIM, a.a.O., N. 40 zu Art. 8 EMRK).
Die Vorinstanz bejaht zu Recht den dringenden Tatverdacht gemäss Art. 269 Abs. 1 lit. a StPO. Es geht um den Verdacht einer vorsätzlichen Tötung sowie schwerer Körperverletzungen und damit Katalogtaten nach Art. 269 Abs. 2 lit. a StPO. Vorsätzliche Tötung wird gemäss Art. 111 StGB mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft, schwere Körperverletzung gemäss Art. 122 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen. Diese Delikte gehören zu den schwersten des Strafgesetzbuches. Es geht um den Schutz von Leib und Leben und damit das höchste Rechtsgut. Den Beschuldigten wird die vorsätzliche Tötung des Sohnes vorgeworfen; überdies mehrfache schwere Körperverletzungen gegenüber beiden Kindern. Diese Taten wiegen gesamthaft ausserordentlich schwer. Die Schwere der den Beschuldigten zur Last gelegten Straftaten rechtfertigte daher die Überwachung, womit auch die Voraussetzung gemäss Art. 269 Abs. 1 lit. b StPO erfüllt ist.
Die den Beschuldigten zur Last gelegten Taten sollen in ihrer Wohnung stattgefunden haben. Drittpersonen als Täter kommen kaum in Betracht. Tatzeugen gibt es nicht; ebenso wenig Tatspuren, die es ermöglichten, Misshandlungen einem der Beschuldigten zuzuordnen. Letztere verweigern die Aussage. Die einzigen Beweise sind die ärztlichen Befunde. Danach bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Tod des Sohnes, dessen vorher erlittene Verletzungen und jene der Tochter auf Gewalteinwirkung zurückzuführen sind. Die Beschwerdeführerin kam somit beweismässig nicht weiter, obwohl sie insoweit alle übrigen ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft hatte. Ohne die Überwachung wären die Ermittlungen zumindest unverhältnismässig erschwert worden. Damit war der Eingriff auch gemäss Art. 269 Abs. 1 lit. c StPO zulässig.
Die Voraussetzungen für die Überwachung gemäss Art. 269 StPO waren demnach ebenfalls erfüllt.
2.4.1 Worin der unantastbare Kerngehalt eines Grundrechts besteht, lässt sich nur schwer auf abstrakte Weise bestimmen. In der Lehre wird teilweise der normative Gehalt dieses Begriffs überhaupt in Frage gestellt (RAINER SCHWEIZER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 45 zu Art. 36 BV; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, 3. Aufl. 2013, S. 116 N. 254) oder als "eher allgemein gefasste Leit- und Orientierungslinie" (ASTRID EPINEY, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 63 zu Art. 36 BV) bzw. als interessante Idee, die aber bloss wenig Anwendung gefunden habe (PASCAL MAHON, Droit constitutionnel, Bd. II, 3. Aufl. 2015, S. 68 N. 39), bezeichnet. Hinsichtlich des Kerngehalts der persönlichen Freiheit hält MARKUS SCHEFER (Der Kerngehalt der Grundrechte, 2001, S. 452 f.) dafür, der Kerngehalt der individuellen Selbstbestimmung werde durch Eingriffe in den Post- und Fernmeldeverkehr a priori nicht verletzt. Diese besonders intensiv geschützten Gehalte von Art. 13 BV stellten keine Kerngehalte dar; Eingriffe könnten zur Verfolgung schwerwiegender Straftaten unabdingbar sein und erschienen in gewissem Rahmen zulässig.
2.4.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, welche die Vorinstanz übergeht, verletzt der Einsatz technischer Überwachungsgeräte den Kerngehalt der persönlichen Freiheit nicht. Anders verhält es sich beim Einsatz von Lügendetektoren, der Narkoanalyse oder Wahrheitsseren. Diese Untersuchungsmethoden bedeuten einen Eingriff in den seelischen Eigenraum des Menschen. Dem Betroffenen werden dadurch gegen seinen Willen oder unter Umgehung seines Willens Aussagen entlockt, oder seine Willensbildung wird überhaupt ausgeschaltet. Solche Methoden greifen in den Kerngehalt der persönlichen Freiheit ein und dürfen daher nicht eingesetzt werden. Von diesen Methoden unterscheidet sich der Einsatz technischer Überwachungsgeräte wesentlich. Dieser bedeutet keinen Einbruch in den seelischen Eigenraum des Menschen. Vielmehr werden mit der technischen Überwachung akustischer oder optischer Art ausschliesslich Wissens- und Willensäusserungen sowie Handlungen erfasst, welche die überwachte Person aus freiem Willen tatsächlich ausgeführt hat, wenn auch nicht in der Absicht und im Bewusstsein, sie den Überwachungsorganen zur Kenntnis kommen zu lassen. Es können demnach mit dem Einsatz technischer Überwachungsgeräte

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nur Tatsachen übermittelt werden. Bei dieser Sachlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit, der richterlichen Kontrolle und der grundsätzlichen Pflicht zur nachträglichen Mitteilung kann von einer Aushöhlung der persönlichen Freiheit nicht gesprochen werden (BGE 109 Ia 273 E. 7 S. 288 ff.; bestätigt in BGE 131 I 272 E. 4.4.1 S. 278 und im Urteil P 543/83 vom 9. Mai 1984 E. 8d, in: ZBl 86/1985 S. 26 f.).
Der Gesetzgeber hat insoweit bei Erlass der Schweizerischen Strafprozessordnung für einen Spezialfall einen Vorbehalt angebracht. Gemäss Art. 281 Abs. 3 lit. a StPO darf der Einsatz technischer Überwachungsgeräte nicht angeordnet werden, um zu Beweiszwecken Vorgänge zu erfassen, an denen eine beschuldigte Person beteiligt ist, die sich im Freiheitsentzug befindet. Wie der Bundesrat ausführt, wäre es gestützt auf diese Bestimmung unzulässig, die Vorgänge in der Zelle einer Person in Untersuchungshaft zu beobachten und aufzuzeichnen, um die Ergebnisse zu Beweiszwecken zu verwenden. Eine derartige Massnahme geriete in Konflikt mit dem Kerngehalt der Grundrechte auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV und auf Schutz der Privatsphäre nach Art. 13 Abs. 1 BV (Botschaft, a.a.O., 1252). Der Gesetzgeber folgte insoweit einer in der Literatur vertretenen Auffassung (PETER GOLDSCHMID, Der Einsatz technischer Überwachungsgeräte im Strafprozess, 2001, S. 37 ff.). In weiteren Bereichen erachtete der Gesetzgeber den Kerngehalt nicht als betroffen. Sonst hätte er den Einsatz technischer Überwachungsgeräte auch insoweit ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat insbesondere den Einsatz technischer Geräte in einer Wohnung, den geradezu typischen Fall der Abhörung oder Aufzeichnung des nicht öffentlich gesprochenen Worts, nicht als unzulässig erklärt. Damit ist davon auszugehen, dass er insoweit den Kerngehalt nicht als betroffen ansah.
Im Lichte der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, auf die zurückzukommen kein Anlass besteht, und der Wertungen des Gesetzes, das für das Bundesgericht massgebend ist (Art. 190 BV), verletzen die Anordnungen der Überwachung den Kerngehalt der verfassungsmässigen Rechte der Beschuldigten im vorliegenden Fall nicht.
2.4.3 Die Vorinstanz verweist auf das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (BVerfGE 109 279), dem sie für die Beurteilung des vorliegenden Falles grosses Gewicht beimisst. Das Bundesverfassungsgericht erklärte darin bestimmte

BGE 143 I 292 (300):

Vorschriften der deutschen Strafprozessordnung (dStPO) zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung als verfassungswidrig. Es verpflichtete den deutschen Gesetzgeber, einen verfassungsmässigen Rechtszustand bis spätestens zum 30. Juni 2005 herzustellen. Es erwog, werde jemand zum Objekt einer Beobachtung, gehe damit nicht zwingend eine Missachtung seines Werts als Mensch einher. Bei Beobachtungen sei aber ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren. Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit könnten einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen (S. 313). Für die Beurteilung, ob ein Sachverhalt dem unantastbaren Kernbereich zuzuordnen sei, seien die Besonderheiten des jeweiligen Falles massgebend (S. 314). Gespräche, die Angaben über begangene Straftaten enthielten, gehörten ihrem Inhalt nach nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung an. Ein Abhören des nicht öffentlich gesprochenen Worts in Wohnungen habe zur Vermeidung von Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu unterbleiben, wenn sich jemand allein oder ausschliesslich mit Personen in der Wohnung aufhalte, zu denen er in einem besonderen, den Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis stehe - etwa mit Familienangehörigen oder sonstigen engsten Vertrauten - und es keine konkreten Anhaltspunkte gebe, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufwiesen (S. 319 f.). Der Schutzbereich von Räumlichkeiten hänge von ihrer konkreten Nutzung ab. Die Anforderungen an die Rechtmässigkeit der Wohnraumüberwachung seien umso strenger, je grösser die Wahrscheinlichkeit sei, dass mit ihr Gespräche höchstpersönlichen Inhalts erfasst würden. Eine solche Wahrscheinlichkeit sei typischerweise beim Abhören von Gesprächen mit engsten Familienangehörigen, sonstigen engsten Vertrauten und einzelnen Berufsgeheimnisträgern gegeben. Bei diesem Personenkreis dürften Überwachungsmassnahmen nur ergriffen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Gesprächsinhalte zwischen dem Beschuldigten und diesen Personen keinen absoluten Schutz erforderten, insbesondere bei einer Tatbeteiligung der das Gespräch führenden Personen. Ein konkreter Verdacht auf solche Gesprächsinhalte müsse schon im Zeitpunkt der Anordnung bestehen. Die deutsche Strafprozessordnung in der damaligen Fassung sichere nicht, dass eine Überwachung jedenfalls dann ausgeschlossen bleibe, wenn sich der Beschuldigte


BGE 143 I 292 (301):

allein mit seinen engsten Familienangehörigen oder anderen engsten Vertrauten in der Wohnung aufhalte und keine Anhaltspunkte für deren Tatbeteiligung bestünden (S. 328 f.).
Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts stützen somit die Auffassung der Vorinstanz nicht, die Anordnung der Überwachung sei im vorliegenden Fall unzulässig gewesen. Vielmehr sprechen sie für das Gegenteil.
Der deutsche Gesetzgeber änderte im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Strafprozessordnung. Gemäss § 100c Abs. 4 dStPO in der nunmehr geltenden Fassung darf die akustische Wohnraumüberwachung nur angeordnet werden, soweit aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte, insbesondere zu der Art der zu überwachenden Räumlichkeiten und dem Verhältnis der zu überwachenden Personen zueinander, anzunehmen ist, dass durch die Überwachung Äusserungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, nicht erfasst werden. Gespräche in Betriebs- und Geschäftsräumen sind in der Regel nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen. Das Gleiche gilt für Gespräche über begangene Straftaten und Äusserungen, mittels derer Straftaten begangen werden.
Der letzte Satz von § 100c Abs. 4 dStPO nimmt also insbesondere Gespräche über begangene Straftaten aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung aus. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich z.B. Eheleute in ihrer Wohnung über einen begangenen Mord unterhalten, darf abgehört werden (BGHSt 53 294, S. 303 N. 29; BERTRAM SCHMITT, in: Strafprozessordnung, Kurzkommentar, Meyer-Gossner/Schmitt [Hrsg.], 59. Aufl., München 2016, N. 16 zu § 100c dStPO).
Dies spricht dafür, dass die Anordnung der Überwachung im vorliegenden Fall auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre. Wie es sich damit verhält, kann jedoch dahingestellt bleiben, da die schweizerischen Gerichte das schweizerische und nicht das deutsche Recht anzuwenden haben.
 
Erwägung 2.5


BGE 143 I 292 (302):

Dem kann nicht gefolgt werden. Dass Drittpersonen als Täter ernsthaft in Frage kommen könnten, ist nicht ersichtlich. Die Grosseltern hatten die Kinder jeweils nur kurz in der Obhut. Als der Sohn verstarb, befanden sich lediglich die Beschuldigten mit ihm in der Wohnung. Gegen diese besteht daher ein starker Tatverdacht. Es geht um Tötung sowie mehrfache schwere Körperverletzungen und damit gravierende Delikte. Die Überwachung richtete sich zudem gegen damalige Ehegatten, welche beide beschuldigt sind. Der Fall läge womöglich anders, wenn nur einer der beiden beschuldigt gewesen wäre, da gemäss Art. 197 Abs. 2 StPO Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, besonders zurückhaltend einzusetzen sind. Sind beide Ehegatten der Tat verdächtigt, ist die Überwachung somit eher zulässig. Angeordnet wurde sodann eine Audio-Überwachung gemäss Art. 280 lit. a StPO, und nicht zusätzlich eine Videoüberwachung gemäss Art. 280 lit. b StPO. Eine alleinige Audio-Überwachung greift weniger weit in die Grundrechte ein. Die Überwachung der Wohnung im Kanton Basel-Landschaft führte zu keinem sehr schweren Eingriff in die Rechte der Beschuldigten, da diese die Wohnung faktisch aufgegeben hatten und sich nur noch sporadisch für wenige Stunden dort aufhielten. Die Überwachung der Wohnung im Kanton Solothurn dauerte gut zwei Monate. Diese Dauer erscheint in Anbetracht der Schwere der Tatvorwürfe nicht als übermässig lange. Die Überwachung beschränkte sich auf einen Zeitraum, in dem wegen bevorstehender Einvernahmen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür bestand, dass sich die Beschuldigten über die Taten unterhalten. Würdigt man dies gesamthaft, stand die Zwangsmassnahme in einem vernünftigen Verhältnis zum damit verfolgten Zweck und war sie den Beschuldigten deshalb zumutbar.
2.5.2.1 Die Vorinstanz legt dar, trotz der Schwere der den Beschuldigten vorgeworfenen Taten könne nicht von einem kriminellen Umfeld oder von organisierter Kriminalität ausgegangen werden. Das ist nicht von Belang. Zwar ist einzuräumen, dass bei einem kriminellen Umfeld oder organisierter Kriminalität - etwa im Zusammenhang mit Entführungen - noch gravierendere Tötungsdelikte und Körperverletzungen denkbar sind, als sie den Beschuldigten zur Last gelegt werden. Deshalb sind die diesen vorgeworfenen Taten

BGE 143 I 292 (303):

jedoch nicht zu verharmlosen. Diese wiegen gesamthaft sehr schwer. Dass mit Blick darauf die Überwachung gerechtfertigt war, wurde bereits dargelegt (oben E. 2.3). Im Übrigen ist festzustellen, dass der Katalog der Straftaten nach Art. 269 Abs. 2 StPO die Überwachung nicht auf solche beschränkt, bei denen ein kriminelles Umfeld oder organisierte Kriminalität besteht. Die Vorinstanz scheint auch insoweit vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts beeinflusst worden zu sein. Wie sich daraus ergibt, hat der deutsche Gesetzgeber die akustische Wohnraumüberwachung insbesondere in die Strafprozessordnung aufgenommen, um das rechtliche Instrumentarium zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu verbessern. Auch der deutsche Gesetzgeber hat den Anwendungsbereich der Überwachung jedoch nicht auf die organisierte Kriminalität begrenzt (BVerfGE 109 279, S. 335/336). Es ist deshalb zumindest missverständlich, wenn die Vorinstanz ausführt, die deutsche Gesetzgebung sehe die Zulässigkeit der Überwachung von Wohnungen im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität vor.
2.5.2.2 Die Vorinstanz legt weiter dar, die Überwachung habe dazu gedient, das Schweigerecht der Beschuldigten, von welchem diese Gebrauch gemacht hätten, zu umgehen. Das sei zwar gemäss Art. 113 Abs. 1 StPO nicht als grundsätzlich unzulässig anzusehen. Die Verhältnismässigkeit sei jedoch unter diesen Umständen noch weitergehend und in besonderem Masse zu beachten.
Gemäss Art. 113 Abs. 1 StPO muss sich die beschuldigte Person nicht selbst belasten. Sie hat namentlich das Recht, die Aussage und ihre Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. Sie muss sich aber den gesetzlich vorgesehenen Zwangsmassnahmen unterziehen.
Die Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten gemäss Art. 280 f. StPO ist im 5. Titel der Strafprozessordnung (Art. 196 ff.) enthalten, der die Zwangsmassnahmen regelt. Sie stellt somit unstreitig eine Zwangsmassnahme dar. Die Anordnung der Überwachung war demnach gemäss Art. 113 Abs. 1 StPO zulässig, auch wenn die Beschuldigten die Aussagen verweigert hatten. Von den gesetzlichen Zwangsmassnahmen ist nicht zurückhaltender Gebrauch zu machen, wenn der Beschuldigte die Aussage verweigert. Sonst hätte es dieser in der Hand, mit der Verweigerung der Aussage auf die Zulässigkeit einer Zwangsmassnahme einzuwirken. Zwar soll der Beschuldigte, wenn er die Aussage verweigert, nicht schlechtergestellt werden. Bessergestellt werden soll er aber auch nicht. Zu einer

BGE 143 I 292 (304):

solchen Besserstellung führte die Auffassung der Vorinstanz. Sie ist deshalb abzulehnen. An die Verhältnismässigkeit einer Zwangsmassnahme sind keine höheren Anforderungen zu stellen, wenn der Beschuldigte die Aussage verweigert. Die Vorinstanz stützt sich insoweit auf einen nicht massgeblichen Gesichtspunkt.