BGE 130 III 729 - Fürsorgerische Freiheitsentziehung Zug |
99. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Zug (staatsrechtliche Beschwerde) |
5P.367/2004 |
vom 1. November 2004 |
Regeste |
Art. 397d ZGB; fürsorgerische Freiheitsentziehung; gerichtliche Beurteilung. |
Das Recht, jederzeit ein Entlassungsgesuch zu stellen und den gesuchsabweisenden Entscheid gerichtlich beurteilen zu lassen, wird durch den Grundsatz des Handelns nach Treu und Glauben eingeschränkt. Auf in unvernünftigen Abständen gestellte Begehren ist nicht einzutreten. Anwendungsfall (E. 2). |
Sachverhalt |
Im Rahmen fürsorgerischer Freiheitsentziehung wurde X. am 3. Juli 2003 in die Psychiatrische Klinik A. eingewiesen. Ihr Gesuch um Entlassung wurde am 27. August 2003 abgelehnt. Die anschliessenden Rechtsmittelverfahren blieben ohne Erfolg (zuletzt: Urteil des Bundesgerichts 5C.218/2003 vom 4. Dezember 2003).
|
Nach Erhalt des bundesgerichtlichen Urteils stellte X. am 16. Dezember 2003 ein Gesuch um sofortige Aufhebung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung und Entlassung aus der Klinik. Das Gesuch wurde mit Urteil vom 18. Juni 2004 kantonal letztinstanzlich abgewiesen. Die dagegen eingereichten Rechtsmittel wies das Bundesgericht ab, soweit darauf eingetreten werden konnte (Urteile 5P.317/2004 und 5C.171/2004 vom 1. November 2004). |
Am 30. Juni 2004 verlangte X. erneut ihre Entlassung. Der Gemeinderat G. trat auf ihr Gesuch nicht ein. Das kantonale Verwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde ab. X. hat das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 16. August 2004 wiederum vor Bundesgericht angefochten. Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden kann.
|
Auszug aus den Erwägungen: |
Aus den Erwägungen:
|
Erwägung 2 |
2.1.1 Die Beschwerdeführerin ist befugt, "jederzeit" die Entlassung aus der Anstalt zu verlangen. Zwar hat die Expertenkommission sich mit der Frage beschäftigt, ob für das Entlassungsgesuch eine Sperrfrist vorzusehen sei, doch hat der Bundesrat mit Rücksicht auf die Unverzichtbarkeit und Unverjährbarkeit der persönlichen Freiheit davon abgesehen, eine solche Bestimmung in den Entwurf zu einem Bundesgesetz über die fürsorgerische Freiheitsentziehung aufzunehmen. Ein Entlassungsgesuch sollte jederzeit möglich sein (Botschaft, BBl 1977 III 1, S. 38); infolgedessen kann auch immer wieder der Richter angerufen werden, wenn die Entlassung verweigert wird (Art. 397d Abs. 2 ZGB; DESCHENAUX/STEINAUER, Personnes physiques et tutelle, 4. Aufl., Bern 2001, N. 1192 S. 446 und N. 1210 S. 450 f.). Die Wahrnehmung dieses Rechts steht freilich - wie die Rechtsausübung schlechthin - unter dem Vorbehalt des Handelns nach Treu und Glauben. Auf in unvernünftigen Abständen erhobene Klagen ist mangels Rechtsschutzinteresses nicht einzutreten (SPIRIG, Zürcher Kommentar, 1995, N. 63 zu Art. 397d ZGB; GEISER, Basler Kommentar, 2002, N. 28 Abs. 2 zu Art. 397a ZGB). |
2.1.2 Weder aus dem Anspruch auf Haftprüfung gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK noch aus der gleichlaufenden Garantie in Art. 31 Abs. 4 BV folgt etwas Abweichendes: Ist der Freiheitsentzug von persönlichen Eigenschaften (z.B. Geisteskrankheit) oder sonstigen veränderlichen Umständen abhängig, besteht ein Recht auf Haftprüfung in "angemessenen" bzw. "vernünftigen Abständen" (FROWEIN/ Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., Kehl/Strassburg/Arlington 1996, N. 136 zu Art. 5 EMRK; VEST, in: Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich/Basel/Genf/Lachen 2002, N. 31 zu Art. 31 BV; HOTTELIER, Les garanties de procédure, in: Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, § 51 N. 43 f. S. 819 f., mit Hinweisen; aus der Rechtsprechung, z.B. BGE 124 II 1 E. 2c S. 4/5). Es ist somit zulässig, bei offensichtlich unzulässigen Beschwerden die Häufigkeit von Rekursen zu begrenzen (SCHÜRMANN, Die Gesetzgebung über die fürsorgerische Freiheitsentziehung in ihrer praktischen Anwendung im Lichte von Art. 5 EMRK, in: Die sozialpsychiatrische Gesetzgebung. Eine Bilanz, Fribourg 1992, S. 31 ff., S. 42 bei Anm. 40; aus der Rechtsprechung, z.B. BGE 126 I 26 E. 4b/bb S. 31). Für die Frage, welche Abstände zwischen periodischen Haftprüfungen als "angemessen" anzusehen sind, kommt es auf die Verhältnisse des konkreten Einzelfalls und auf die Besonderheiten der anwendbaren Prozessvorschriften an. Während relativ lange Abstände angebracht und zulässig sind, wenn es sich um die Unterbringung eines Geisteskranken handelt, dürfen diese Abstände nur verhältnismässig kurz sein, wenn der Betroffene sich unter dem Verdacht der Begehung einer Straftat in Untersuchungshaft befindet. Dort ändern sich die Umstände nämlich meist nur mittelfristig, hier dagegen vermögen neue Beweismittel den Haftgrund auch kurzfristig zu beseitigen (VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], 2. Aufl., Zürich 1999, S. 232 N. 369; aus der Rechtsprechung, z.B. BGE 123 I 31 E. 4c S. 38).
|
2.1.3 Die Behauptung der Beschwerdeführerin, in rechtlicher Hinsicht bestehe ein uneingeschränktes Recht, Entlassungsgesuche zu stellen und gesuchsabweisende Entscheide gerichtlich beurteilen zu lassen, findet weder in bundesgesetzlichen Bestimmungen noch in verfassungsrechtlichen Grundsätzen eine Stütze. |
2.2 Strittig ist die Anwendung dieser Grundsätze im konkreten Einzelfall auf Grund der gesamten Umstände tatsächlicher Art:
|
2.2.1 Das Verwaltungsgericht hat vorweg auf seine letzte materielle Beurteilung eines Entlassungsgesuchs hingewiesen und Folgendes festgehalten: Bei der Beschwerdeführerin liege eine Geisteskrankheit vor. Eine akute Selbst- oder Fremdgefährung im Sinne von Suizidalität bei Überforderung oder drohender Gewaltanwendung sei nicht gegeben, hingegen könne Suizidalität bei Überforderung zufolge ungenügend vorbereiteter Klinikentlassung schnell entstehen, und es müsse von Selbstgefährdung im Sinne von Selbstdestruktion gesprochen werden, lebe die Beschwerdeführerin doch in massiver sozialer Isolation sowie schwerer seelischer und affektiver Verwahrlosung. Eine Entlassung aus der Klinik sei - nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit - erst in Betracht zu ziehen, wenn das vom Gutachter aufgezeigte Problemlösungssystem für ein Leben ausserhalb der Klinik effektiv installiert und tragfähig vorhanden sei. Das Problemlösungssystem beinhalte eine professionell begleitete Wohnlösung, eine gute Tagesstruktur, am besten an einem geschützten Arbeitsplatz, eine angemessene ärztlich-therapeutische Behandlung inklusive Einnahme der nötigen Medikamente, eine beistandschaftliche oder vormundschaftliche Unterstützung sowie die klare Bereitschaft, die Unterstützung durch das Helfersystem konstruktiv zu nutzen. Die Erarbeitung des Problemlösungssystems müsse in der Klinik erfolgen.
|
2.2.2 In Beurteilung der Frage nach einer zwischenzeitlich eingetretenen Änderung der Verhältnisse hat das Verwaltungsgericht festgehalten, das vom Gutachter aufgezeigte Problemlösungssystem greife noch in keiner Weise. Es liege zwar die Erklärung eines Psychiaters vor, die ambulante Behandlung zu übernehmen. Hingegen sei weder die verordnungsgemässe Einnahme von Medikamenten gewährleistet noch bestünden Möglichkeiten oder auch blosse Vorschläge hinsichtlich der Unterbringung, einer Tagesstruktur und eines geschützten Arbeitsplatzes. Auch habe die vormundschaftliche Massnahme bisher, insbesondere angesichts der Opposition der Beschwerdeführerin, nicht errichtet werden können. Aus früheren Verfahren der seit Februar 2002 immer wieder in Kliniken behandelten Beschwerdeführerin werde zudem deutlich, dass es ihr wesentlich an Krankheitseinsicht und Kooperationsbereitschaft fehle. |
2.2.3 Was die Beschwerdeführerin gegen diese Beurteilung einwendet, ist nicht stichhaltig. Dass ein Arzt bereit ist, sie ausserhalb der Klinik zu behandeln, genügt gemäss dem letzten Sachverständigengutachten vom 1. Juni 2004 nicht. Danach bedarf die Beschwerdeführerin für ein Leben ausserhalb des geschützten Rahmens einer Klinik besonderer Fürsorge und kann in der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse vorerst noch nicht allein gelassen werden. Der gutachterliche Schluss wird durch die Geschehnisse nach zwei früheren Entlassungen aus der Klinik gestützt. Nach ihrer ersten Entlassung am 22. November 2002 ist die Beschwerdeführerin freiwillig in der Klinik geblieben und hat nach ihrem Austritt in einem Kur- und Ferienheim, in psychiatrischen Kliniken oder Hotels gelebt, bis sie am 13. Mai 2003 wieder in die Psychiatrische Klinik A. eingewiesen werden musste. Nach ihrer zweiten Entlassung am 4. Juni 2003 hat sich die Beschwerdeführerin keine vier Wochen ausserhalb der Klinik zu halten vermocht und bereits am 3. Juli 2003 ihren Angaben zufolge wegen Angstzuständen einen Arzt aufgesucht, der sie gleichentags in die Psychiatrische Klinik A. einweisen musste (E. 4.3 des zit. Urteils 5C.171/2004). Allein schon auf Grund dieser Vorkommnisse erscheint es nicht als verfassungswidrig, dass das Verwaltungsgericht angenommen hat, über eine Entlassung sei nicht mehr zu befinden, bevor nicht die Massnahmen getroffen seien, die der Beschwerdeführerin zu einem menschenwürdigen Dasein und einem inskünftig selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Leben ausserhalb des Klinikrahmens verhelfen könnten. Dass diese Voraussetzungen zur Zeit noch nicht gegeben sind und daran noch gearbeitet wird und werden muss, steht mit Rücksicht auf die unangefochtenen Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts fest. Gegenteiliges wird von der Beschwerdeführerin - abgesehen vom Hinweis auf die ärztliche Nachbehandlungsmöglichkeit - auch nicht behauptet.
|