BGE 138 IV 13 - Nacktwandern in Appenzell Ausserrhoden
 
2. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. (Beschwerde in Strafsachen)
 
6B_345/2011 vom 17. November 2011
 
Regeste
Grobe Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit (Art. 19 des Strafrechts des Kantons Appenzell A.Rh.), "Nacktwandern"; Gesetzgebungskompetenz der Kantone auf dem Gebiet des Übertretungsstrafrechts (Art. 335 Abs. 1 StGB); Bestimmtheitsgebot (Art. 1 StGB); persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV); Verbotsirrtum (Art. 21 StGB); Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses (Art. 52 StGB).
Die Kantone sind gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB befugt, das "Nacktwandern" im öffentlichen Raum unter Strafe zu stellen (E. 3).
Eine Norm, welche demjenigen Strafe androht, der "öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt", ist hinreichend bestimmt (E. 4).
Das "Nacktwandern" kann willkürfrei als grobe Verletzung von Sitte und Anstand qualifiziert werden (E. 5).
Der Tatbestand setzt nicht voraus, dass der "Nacktwanderer" auf einen Menschen trifft, der dadurch in seinem Anstandsgefühl verletzt wird (E. 6).
Verletzung des Grundrechts der persönlichen Freiheit verneint (E. 7).
Verbotsirrtum verneint (E. 8).
Keine Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses (E. 9).
 
Sachverhalt


BGE 138 IV 13 (14):

A. X. (geb. 1964) wanderte am Sonntag, den 11. Oktober 2009, bei schönem Wetter zwischen 15.40 und 16.00 Uhr nackt im Naherholungsgebiet Nieschberg bei Herisau/AR. Dabei ging er unter anderem an einer von einer Familie mit Kleinkindern besetzten Feuerstelle und an einem christlichen Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige vorbei. Eine Passantin stellte ihn zur Rede und erstattete Strafanzeige.
B.a Das Verhöramt Appenzell A.Rh. verurteilte X. mit Strafverfügung vom 23. November 2009 wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken respektive zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag bei schuldhafter Nichtbezahlung der Busse.
B.b Die Kantonsgerichtspräsidentin von Appenzell A.Rh. sprach X. mit Urteil vom 27. Mai 2010 frei.
B.c Das Obergericht von Appenzell A.Rh. verurteilte X. mit Entscheid vom 17. Januar 2011 in Gutheissung der Appellation der Staatsanwaltschaft wegen unanständigen Benehmens im Sinne von Art. 19 al. 2 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht des Kantons Appenzell A.Rh. zu einer Busse von 100 Franken.
C. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf des unanständigen Benehmens freizusprechen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.


BGE 138 IV 13 (15):

D. Das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh. hat sich nicht vernehmen lassen.
E. Das Bundesgericht hat sein Urteil in einer öffentlichen Sitzung gefällt.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2
 
Erwägung 3.1
 
Erwägung 3.2
3.2 Der Fünfte Titel des Schweizerischen Strafgesetzbuches enthielt vor der Revision des Sexualstrafrechts durch das Bundesgesetz vom 21. Juni 1991, in Kraft seit 1. Oktober 1992, unter dem 3. Abschnitt betreffend "Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit" den Tatbestand der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" (aArt. 203 StGB). Danach wurde mit Gefängnis oder mit Busse bestraft, wer öffentlich eine

BGE 138 IV 13 (16):

unzüchtige Handlung beging. Als "unzüchtig" galt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, was den geschlechtlichen Anstand verletzt, indem es in nicht leichtzunehmender Weise gegen das Sittlichkeits- und Schamgefühl des normal empfindenden Menschen verstösst, der weder besonders empfindlich noch sittlich verdorben ist (BGE 117 IV 276 E. 3b, BGE 117 IV 457  E. 2b mit Hinweisen).
aArt. 203 StGB wurde im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts durch das Bundesgesetz vom 21. Juni 1991 aufgehoben. Die Botschaft des Bundesrates hält dazu fest, dass sich beim Tatbestand der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" die Grenze der Strafbarkeit nur schwer bestimmen liess, die Strafnorm Anlass zu einer weiten richterlichen Auslegung gab und der Strafrichter von der Pflicht befreit werden solle, in solchen Fällen den Sittenrichter spielen zu müssen. Die Botschaft verweist auf die Doktrin, wonach jedenfalls Handlungen ohne sexuelle Bedeutung entgegen der Rechtsprechung niemals unzüchtig sein könnten und im Übrigen der Massstab der durchschnittlichen sittlichen Anschauung ohnehin verfehlt sei (Botschaft vom 26. Juni 1985 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes [Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie], BBl 1985 II 1009 ff., 1079 f.). An die Stelle des aufgehobenen Tatbestands der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" sind die Tatbestände des "Exhibitionismus" und der "sexuellen Belästigungen" getreten, die allerdings im Unterschied zum aufgehobenen Tatbestand keine Öffentlichkeit voraussetzen (Botschaft, a.a.O., 1079 f., 1092 f.).
 
Erwägung 3.3
3.3.1 Soweit das Schweizerische Strafgesetzbuch die Angriffe auf ein Rechtsgut durch ein geschlossenes System von Normen abschliessend regelt, bleibt für kantonales Übertretungsstrafrecht kein Raum (BGE 129 IV 276 E. 2.1; BGE 117 Ia 472 E. 2b; je mit Hinweisen). Art. 187 ff. StGB regeln die Angriffe auf die sexuelle Integrität abschliessend (TRECHSEL/LIEBER, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 9 zu Art. 335 StGB; ROLAND WIPRÄCHTIGER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 2. Aufl. 2007, N. 17 zu Art. 335 StGB; siehe auch BGE 81 IV 124).
3.3.2 Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Verhalten in der Öffentlichkeit, welches, wie etwa das nicht sexuell motivierte Entblössen des Intimbereichs im öffentlichen Raum, unter dem Geltungsbereich des früheren Sexualstrafrechts allenfalls gemäss aArt. 203 StGB als

BGE 138 IV 13 (17):

"öffentliche unzüchtige Handlung" bestraft worden wäre (siehe BGE 89 IV 129 mit Hinweisen), seit der Revision des Sexualstrafrechts und damit der Aufhebung von aArt. 203 StGB von Bundesrechts wegen nicht im kantonalen Übertretungsstrafrecht unter Strafe gestellt werden darf.
Unter dem Geltungsbereich des früheren Sexualstrafrechts unterschied die Rechtsprechung zwischen dem Polizeigut der öffentlichen Sittlichkeit und dem strafrechtlich geschützten Rechtsgut der Sittlichkeit, die nicht notwendig identisch seien (BGE 106 Ia 267 E. 3a mit Hinweis). Nicht sexuell motivierte Entblössungen in der Öffentlichkeit wurden von der Praxis je nach den Umständen nach kantonalem Übertretungsstrafrecht (Polizeistrafrecht) oder als "öffentliche unzüchtige Handlung" gemäss aArt. 203 StGB bestraft (siehe BGE 89 IV 129; BGE 103 IV 167), je nachdem, ob die Entblössung lediglich Sitte und Anstand oder auch den geschlechtlichen Anstand verletzte. Demgegenüber wurde in der Lehre die Auffassung vertreten, dass Betätigungen ohne sexuelle Bedeutung und somit unter anderem nicht sexuell motivierte Entblössungen nie unzüchtig seien und daher im Falle ihrer Vornahme in der Öffentlichkeit nicht unter den Anwendungsbereich des Tatbestands der "öffentlichen unzüchtigen Handlung" (aArt. 203 StGB) fielen, sondern ausschliesslich eine Angelegenheit des kantonalen Polizeirechts seien (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. II, 3. Aufl. 1984, § 27 N. 3, 6). Die Revision des Sexualstrafrechts trug dieser Kritik Rechnung. Die nicht sexuell motivierte Entblössung im öffentlichen Raum ist nicht nach StGB strafbar. An der Kompetenz der Kantone, solche Verhaltensweisen in ihrem Übertretungsstrafrecht gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB zum Schutz des Polizeiguts der "öffentlichen Sittlichkeit" beziehungsweise der "guten Sitten" respektive von "Sitte und Anstand" etc. unter Strafe zu stellen, hat sich dadurch nichts geändert. Die zitierte Botschaft des Bundesrates (BBl 1985 II 1009 ff.) enthält denn auch keinerlei Hinweise, die dafür sprechen könnten, dass die Kantone infolge der Revision des Sexualstrafrechts und der Aufhebung von aArt. 203 StGB betreffend die öffentliche unzüchtige Handlung nicht mehr befugt seien, in ihrem Übertretungsstrafrecht für Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit Strafe anzudrohen, beziehungsweise dass infolge der Revision des Sexualstrafrechts die nicht sexuell motivierte Entblössung in der Öffentlichkeit nicht mehr als Verletzung von Sitte und Anstand im Sinne der Bestimmungen des kantonalen Übertretungsstrafrechts

BGE 138 IV 13 (18):

qualifiziert werden dürfe. Die Botschaft hält fest, als neue Überschrift vor Art. 187 ff. StGB werde der Titel "Strafbare Handlungen im Sexualbereich" vorgeschlagen, "um den etwas moralisierenden Begriff der Sittlichkeit, der mit dem Begriff der guten Sitten nicht gleichzusetzen ist, zu vermeiden" (BBl 1985 II 1009 ff., 1064). Somit ergibt sich auch aus der Botschaft, dass der Begriff der "Sittlichkeit" im Sinne des alten Sexualstrafrechts etwas anderes bezeichnet als der Terminus der "guten Sitten".
Die Bestrafung des Nacktwanderns im öffentlichen Raum in Anwendung von kantonalem Übertretungsstrafrecht verstösst daher nicht gegen Art. 335 Abs. 1 StGB.
 
Erwägung 3.4
3.4.1 Der Beschwerdeführer ist der Meinung, dass die öffentliche Sittlichkeit in der heutigen Zeit nicht mehr als selbständiges beziehungsweise legitimes Schutzgut des (kantonalen) Polizeirechts tauge. Zur Begründung beruft er sich auf eine Meinungsäusserung in der Lehre (PIERRE TSCHANNEN, "Öffentliche Sittlichkeit": Sozialnormen als polizeiliches Schutzgut?, in: Mélanges en l'honneur de Pierre Moor, Théorie du droit - Droit administratif - Organisation du territoire, 2005, S. 553 ff.). Der Beschwerdeführer macht unter Zitierung des genannten Autors geltend, als Terminus des allgemeinen Polizeirechts sei die "öffentliche Sittlichkeit" im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat nicht zu halten. Die "öffentliche Sittlichkeit" könne nur einen qualifizierten Ausschnitt aus den sozialethischen Regeln des Zusammenlebens abdecken, nämlich jenen, über dessen kollektive Beachtlichkeit ein ausreichend breiter Konses bestehe, der empirisch nachweisbar sei. Das sittliche Empfinden der Bevölkerung könne rechtlichen Schutz nur geniessen, soweit es zum Zweck eines verträglichen Zusammenlebens in einem pluralistischen Gemeinwesen unerlässlich sei. Die "öffentliche Sittlichkeit" sei ein Relikt aus der "guten Polizey", ein staatspaternalistischer Versuch, bürgerliche Sekundärtugenden amtlich zu erzwingen. Das Verwaltungsrecht des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates lasse dafür keinen Raum. Für das Polizeirecht könne nichts anderes gelten (Beschwerde unter Hinweisen auf PIERRE TSCHANNEN, a.a.O., S. 553, 562, 567).
3.4.2 Die Vorbringen des Beschwerdeführers gehen an der Sache vorbei. Es mag zutreffen, dass Einschränkungen und Verbote durch polizeiliche Realakte und durch Verfügungen der Verwaltung einzig unter Berufung auf die "öffentliche Sittlichkeit" problematisch sein können. Daraus leitet der zitierte Autor die Forderung ab, die

BGE 138 IV 13 (19):

"öffentliche Sittlichkeit" aus dem verwaltungsrechtlichen Begriffsrepertoire zu tilgen und Sozialnormen, die das Gemeinwesen amtlich geschützt sehen will, durch explizite Verhaltensvorschriften gesetzlich, d.h. rechtssatzmässig, zu verankern, was genügen müsse (PIERRE TSCHANNEN, a.a.O., S. 567, 568). Letzteres ist hier gegeben. Vorliegend geht es nicht darum, ob ein bestimmtes Verhalten allein unter Berufung auf die "öffentliche Sittlichkeit" als Teilgehalt der "öffentlichen Ordnung" durch Erlass einer Verfügung oder durch einen polizeilichen Realakt verboten werden darf, ob mit andern Worten das hiefür allenfalls erforderliche öffentliche Interesse allein damit begründet werden kann, dass das zu verbietende Verhalten gegen die "öffentliche Sittlichkeit" verstosse. Vorliegend geht es um etwas anderes, nämlich um die Auslegung und Anwendung einer vom hiefür zuständigen Gesetzgeber erlassenen Strafbestimmung, mithin eines Rechtssatzes, wonach bestraft wird, wer öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt. Eine solche Bestimmung ist entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht deshalb unzulässig und nicht anzuwenden, weil die "öffentliche Sittlichkeit" kein selbständiges beziehungsweise legitimes polizeiliches Schutzgut mehr ist. Dem Gesetzgeber ist es grundsätzlich unbenommen, eine solche Strafbestimmung zu erlassen. Der Richter seinerseits hat - unter Vorbehalt des Grundrechtsschutzes - nicht zu prüfen, ob die Strafbestimmung als solche beziehungsweise ihre Anwendung im konkreten Einzelfall im öffentlichen Interesse liege und ob sich dieses mit dem Schutzgut der "öffentlichen Sittlichkeit" begründen liesse. Er hat auch nicht zu prüfen, ob das in der Strafbestimmung zum Ausdruck gebrachte Verbot und die Ausfällung einer Strafe im Falle von dessen Missachtung generell beziehungsweise im konkreten Einzelfall für ein verträgliches Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft unerlässlich sei. Mit den Fragen des öffentlichen Interesses und dessen Begründung hat sich der Strafrichter - im Rahmen seiner Kognition - nur zu befassen, soweit er allenfalls prüfen muss, ob durch die Strafbestimmung beziehungsweise ihre Anwendung im konkreten Einzelfall Grundrechte eingeschränkt werden, was gemäss Art. 36 Abs. 2 BV entweder durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein muss.
 
Erwägung 4
4.1 Eine Strafe oder Massnahme darf nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB). Der Grundsatz der Legalität ("nulla poena sine lege") ist ebenfalls in Art. 7 EMRK ausdrücklich verankert. Er ergibt sich auch aus Art. 5

BGE 138 IV 13 (20):

Abs. 1, Art. 9 und Art. 164 Abs. 1 lit. c BV (BGE 129 IV 276 E. 1.1.1 mit Hinweisen). Der Grundsatz ist verletzt, wenn jemand wegen eines Verhaltens strafrechtlich verfolgt wird, das im Gesetz überhaupt nicht als strafbar bezeichnet wird; wenn das Gericht ein Verhalten unter eine Strafnorm subsumiert, unter welche es auch bei weitestgehender Auslegung der Bestimmung nach den massgebenden Grundsätzen nicht subsumiert werden kann; oder wenn jemand in Anwendung einer Strafbestimmung verfolgt wird, die rechtlich keinen Bestand hat. Der Grundsatz gilt für das gesamte Strafrecht, mithin auch für das kantonale Übertretungsstrafrecht (BGE 118 Ia 137 E. 1c; BGE 112 Ia 107 E. 3a; je mit Hinweisen; TRECHSEL/JEAN-RICHARD, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 1 zu Art. 1 StGB). Er schliesst eine extensive Auslegung des Gesetzes zu Lasten des Beschuldigten nicht aus (BGE 137 IV 99 E. 1.2; BGE 127 IV 198 E. 3b; BGE 103 IV 129 E. 3a; je mit Hinweisen).
Aus dem Grundsatz der Legalität wird das Bestimmtheitsgebot abgeleitet ("nulla poena sine lege certa"). Eine Strafnorm muss hinreichend bestimmt sein. Welche Anforderungen daran zu stellen sind, hängt unter anderem von der Komplexität der Regelungsmaterie und der angedrohten Strafe ab (POPP/LEVANTE, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 32 zu Art. 1 StGB, mit Hinweisen). Das Gesetz muss so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann (BGE 119 IV 242 E. 1c; BGE 117 Ia 472 E. 3e; je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darf das Gebot nach Bestimmtheit rechtlicher Normen indessen nicht in absoluter Weise verstanden werden. Der Gesetzgeber kann nicht darauf verzichten, allgemeine und mehr oder minder vage Begriffe zu verwenden, deren Auslegung und Anwendung der Praxis überlassen werden muss. Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidung, von den Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in Verfassungsrechte und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung ab (BGE 132 I 49 E. 6.2; BGE 128 I 327 E. 4.2; je mit Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Larissis Dimitrios gegen Griechenland vom 24. Februar 1998, Recueil CourEDH 1998-I S. 362).


BGE 138 IV 13 (21):

4.2 Das Gesetz des Kantons Appenzell A.Rh. vom 25. April 1982 über das kantonale Strafrecht (bGS 311; nachfolgend: Strafrecht/AR) stellt nicht ausdrücklich das Nacktwandern oder das Nackt-Sein in der Öffentlichkeit unter Strafe. Es droht in Art. 19 für "unanständiges Benehmen" Busse an. Nach Art. 19 al. 1 Strafrecht/AR ist strafbar, wer sich in angetrunkenem oder berauschtem Zustand öffentlich ungebührlich aufführt. Gemäss Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR wird bestraft, wer "in anderer Weise öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt".
Gleichartige oder ähnliche Strafbestimmungen betreffend Verletzung von Sitte und Anstand sind auch in Übertretungsstrafgesetzen beziehungsweise Einführungsgesetzen anderer Kantone enthalten. Bestraft wird etwa, "wer sich öffentlich ein unanständiges Benehmen zuschulden kommen lässt" (Art. 12 lit. b des bernischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht); "wer sich öffentlich ein unanständiges, Sitte und Anstand verletzendes Benehmen zuschulden kommen lässt" (§ 23 Abs. 2 erste Hälfte des solothurnischen Gesetzes über das kantonale Strafrecht); "wer sich öffentlich ein Sitte und Anstand verletzendes Benehmen zuschulden kommen lässt" (Art. 10 des Glarner Gesetzes über die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches); "wer sich öffentlich in einer Sitte und Anstand grob verletzenden Weise aufführt" (§ 18 Abs. 2 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Luzern); "wer durch sein Benehmen in der Öffentlichkeit Sitte und Anstand grob verletzt" (§ 18 Abs. 2 des Schwyzer Gesetzes über das kantonale Strafrecht, ebenso Art. 6 Ziff. 2 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Nidwalden).
Art. 19 al. 2 Strafrecht/AR, wonach bestraft wird, wer öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, ist mit Rücksicht auf die gemäss der vorstehend zitierten Rechtsprechung massgebenden Kriterien hinreichend bestimmt. Aus der Norm ergibt sich klar und unmissverständlich, dass die grobe Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit strafbar ist. Eine andere Frage ist, ob das inkriminierte Verhalten überhaupt Sitte und Anstand verletzt und ob eine allfällige Verletzung grob ist.
 
Erwägung 5.1
5.1 Das Bundesgericht prüft die Verletzung von kantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft die Auslegung und Anwendung von kantonalen Gesetzesbestimmungen, unter Vorbehalt von hier nicht in Betracht fallenden Ausnahmen (siehe

BGE 138 IV 13 (22):

Art. 95 BGG), nicht frei, sondern nur mit einer auf Willkür beschränkten Kognition. Nach der ständigen Praxis des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist. Dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 137 I 1 E. 2.4; BGE 136 I 316 E. 2.2.2; je mit Hinweisen).
Zu prüfen ist, ob die Auffassung der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe durch das inkriminierte Nacktwandern öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt, willkürlich, also schlechterdings unhaltbar ist.
 
Erwägung 5.2
5.2 "Anstand" bezeichnet "die Form des zwischenmenschlichen Verhaltens, die als der Würde des Menschen entsprechend angesehen wird. Ihre Beachtung und Einhaltung wird von einer Gesellschaft meist nachdrücklich gefordert; wer 'den Anstand verletzt', setzt sich der Gefahr aus, belächelt oder mit Sanktionen bedroht zu werden" (Meyers Enzyklopädisches Lexikon, zum Begriff "Anstand"). Unter "Sitte" versteht man "die in einer Gesellschaft oder Teilgesellschaft vorhandenen und angewendeten Regeln des Sozialverhaltens, sofern diese nicht durch Gesetze festgelegt, sondern durch alltägliche Anwendung verankert sind, die sich durch den Verweis auf Traditionen, Kultur, Brauch, moralische oder religiöse Vorstellungen rechtfertigt" (Brockhaus Enzyklopädie, zum Begriff "Sitte"). Die beiden Begriffe, deren Bedeutungsinhalt teilweise übereinstimmt, werden häufig gemeinsam in der Wendung "Sitte und Anstand" gebraucht. Diese bezeichnen nicht dasselbe wie die "Sittlichkeit" im Sinne des früheren Sexualstrafrechts, sondern gehen darüber hinaus.
 
Erwägung 5.3
 
Erwägung 5.4
5.4.1 Das Nacktwandern unterscheidet sich wesentlich etwa vom Baden, Sonnenbaden sowie von der Ausübung von Sport und Spiel im Zustand der Nacktheit auf einem begrenzten Gelände. Das Nacktwandern ist hierzulande und fast überall anderswo heute und seit jeher völlig unüblich und ungewöhnlich. Der Mensch, der unterwegs ist, trägt wenigstens ein Kleidungsstück, welches den Intimbereich bedeckt. Nacktwandern widerspricht klar den Sitten und Gebräuchen, Gepflogenheiten und Konventionen. Es ist, auch gemessen an der traditionellen sog. Freikörperkultur, eine deutliche Grenzüberschreitung und ein Tabubruch. Bezeichnend ist, dass selbst in der heutigen Gesellschaft, die nach der Meinung des Beschwerdeführers freizügig und unter dem Einfluss von Medien aller Art an Nacktheit gewohnt ist, fast kein Mensch nackt wandert.
5.4.4 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass das Volk des Kantons Appenzell I.Rh., welches nach der vom Beschwerdeführer nicht angefochtenen Einschätzung der Vorinstanz eine ähnliche Mentalität besitzt wie die Bevölkerung des Kantons

BGE 138 IV 13 (24):

Appenzell A.Rh., durch Landsgemeindebeschluss vom 26. April 2009 Art. 15 des Übertretungsstrafgesetzes des Kantons Appenzell I.Rh. vom 30. April 2006 (UeStG; GS 311.000) unter anderem im Hinblick auf eine zu schaffende Strafnorm betreffend das Nacktwandern dahingehend ergänzt hat, dass auch mit Busse bestraft wird, wer sich "öffentlich ein anstössiges, Sitte oder Anstand verletzendes Verhalten zuschulden kommen lässt". Gestützt auf diese Bestimmung sowie auf den durch den Landsgemeindebeschluss neu eingefügten Art. 4 Abs. 2 UeStG, wonach der Grosse Rat für geringfügige Übertretungen eine Liste mit festen Bussen erlassen kann, hat der Grosse Rat des Kantons Appenzell I.Rh. am 15. Juni 2009 die Verordnung über die Ordnungsbussen samt Anhang erlassen, dessen Ziff. 1.10 eine Busse von Fr. 200.- androht für "Nacktes Aufhalten in der Öffentlichkeit (Art. 15 UeStG)".
 
Erwägung 5.5
Die Beschwerde ist auch in diesem Punkt unbegründet.
 
Erwägung 6
6. Die Tatbestandsvariante der groben Verletzung von Sitte und Anstand im Sinne von Art. 19 Strafrecht/AR umschreibt ein schlichtes Tätigkeitsdelikt. Strafbar ist ein Verhalten, das Sitte und Anstand grob verletzt, d.h. ein in diesem Sinne qualifiziertes Benehmen. Zur Erfüllung des Tatbestands ist es nicht erforderlich, dass der Nacktwanderer einem Menschen begegnet, welcher durch die Erscheinung des nackten Wanderers in seinem Anstandsgefühl verletzt wird. Daher ist es rechtlich unerheblich, dass die Anzeigeerstatterin den Beschwerdeführer, wie dieser behauptet, allenfalls nur aus einer gewissen Entfernung nackt sah und dass er, als sie ihn eingeholt hatte, um ihn zur Rede zu stellen, gemäss seiner Behauptung zumindest im Intimbereich bereits angekleidet war. Die Rügen des Beschwerdeführers betreffend unrichtige Tatsachenfeststellung und Verweigerung des rechtlichen Gehörs gehen an der Sache vorbei.
 
Erwägung 7
7.1 Das Grundrecht auf persönliche Freiheit umfasst neben den in Art. 10 Abs. 2 BV ausdrücklich genannten Rechten auch das Recht auf Selbstbestimmung und auf individuelle Lebensgestaltung sowie den Schutz der elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung (BGE 133 I 110 E. 5.2 mit Hinweisen; RAINER J. SCHWEIZER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Bernhard Ehrenzeller und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2008, N. 5, 25 ff. zu Art. 10 BV). Das Grundrecht enthält jedoch keine allgemeine Handlungsfreiheit, auf die sich der Einzelne gegenüber jedem staatlichen Akt, der sich auf seine persönliche Lebensgestaltung auswirkt, berufen

BGE 138 IV 13 (26):

kann. Die persönliche Freiheit schützt nicht vor jeglichem physischen oder psychischen Missbehagen (BGE 127 I 6 E. 5a mit Hinweisen).
Das Grundrecht auf persönliche Freiheit wird dadurch, dass der Mensch beim Wandern im öffentlichen Raum sich wenigstens im Intimbereich zu bekleiden hat, höchstens geringfügig eingeschränkt. Daher sind an die Voraussetzungen für die Einschränkung keine hohen Anforderungen zu stellen. Das Verbot des Nacktwanderns im öffentlichen Raum findet in Art. 19 Strafrecht/AR eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Das Verbot liegt schon mit Rücksicht auf die nachvollziehbare Empörung über das Nacktwandern in Teilen der Bevölkerung und die daher möglichen Zwistigkeiten sowie zwecks Verhinderung von Auswüchsen im öffentlichen Interesse. Das Verbot des Nacktwanderns unter Androhung einer Busse im Zuwiderhandlungsfall ist auch insoweit, als es für abgelegene Gegenden des Kantons mit entsprechend geringem Risiko einer Begegnung gilt, verhältnismässig, da das Gebot, sich wenigstens im Intimbereich zu bekleiden, nur eine minimale Beschränkung der persönlichen Freiheit darstellt, die Begegnung mit einem Nacktwanderer auch in einer abgelegenen Gegend mit Grund Anstoss erregen kann und für sportliche Betätigungen in nacktem Zustand beispielsweise in Anlagen für Freikörperkultur Möglichkeiten bestehen.
Die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Busse von Fr. 100.- wegen Nacktwanderns in Anwendung kantonalen Rechts verletzt das Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht.
 


BGE 138 IV 13 (27):

Erwägung 8
Auf das Wissen um die Strafbarkeit kommt es indessen nicht an (BGE 128 IV 201 E. 2; TRECHSEL/JEAN-RICHARD, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2008, N. 4 zu Art. 21 StGB). Ein Rechtsirrtum liegt nicht schon vor, wenn der Täter sein Verhalten irrtümlich für straflos hält, sondern nur, wenn er nicht weiss und nicht wissen kann, dass er sich rechtswidrig verhält. Inwiefern dies der Fall ist, legt der Beschwerdeführer nicht dar und ist nicht ersichtlich. Das Fehlen einer Strafbestimmung, die ausdrücklich auch das Nacktwandern mit Strafe bedroht, lässt sich im Übrigen aus verschiedenen Gründen erklären, etwa damit, dass das Nacktwandern im Zeitpunkt der inkriminierten Tat noch neu war oder dass der zuständige Gesetzgeber die bestehenden Gesetzesbestimmungen als ausreichend auch für eine Bestrafung des Nacktwanderns erachtet oder dass er die Androhung von Strafe als nicht opportun beziehungsweise zweckmässig respektive erforderlich einschätzt, etwa weil die Zahl der Nacktwanderer sehr klein und daher das Risiko, einen Nacktwanderer anzutreffen oder auch nur in der Ferne zu erblicken, äusserst gering ist. Ein Sitte und Anstand grob verletzendes Verhalten ist im Kanton Appenzell A.Rh. rechtswidrig, weil es durch eine Strafnorm, Art. 19 Strafrecht/AR, verboten wird. Ein allfälliger Irrtum des Beschwerdeführers, dass er durch das inkriminierte Nacktwandern nicht im Sinne von Art. 19 Strafrecht/AR Sitte und Anstand

BGE 138 IV 13 (28):

grob verletzt habe, ist lediglich ein Subsumtionsirrtum (vgl. zu diesem Irrtum BGE 112 IV 132 E. 4b; Urteil 6S.94/2002 vom 5. Juni 2002 E. 5, nicht publ. in: BGE 128 IV 170), der rechtlich unerheblich ist.
 
Erwägung 9
9. Die zuständige Behörde sieht von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab, wenn Schuld und Tatfolgen gering sind (Art. 52 StGB). Diese Bestimmung gilt auch für die Übertretungen im Sinne des Schweizerischen Strafgesetzbuches, wie sich aus Art. 104 und Art. 105 StGB ergibt. Sie gilt ebenfalls für die Übertretungen im Sinne des Übertretungsstrafrechts des Kantons Appenzell A.Rh., was aus Art. 2 Strafrecht/AR folgt. Dass solche Übertretungen an sich Bagatelldelikte sind, schliesst eine Strafbefreiung nicht aus. Voraussetzung für eine Strafbefreiung mangels Strafbedürfnisses ist aber, dass die inkriminierte Tat in Bezug auf Schuld und Tatfolgen deutlich weniger schwer wiegt als der typische Regelfall des tatbestandsmässigen Verhaltens (BGE 135 IV 130 E. 5.3.3 mit Hinweisen).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer war nicht in einem Gelände unterwegs, wo die Begegnung mit anderen Menschen unwahrscheinlich war, sondern er wanderte nackt an einem Sonntagnachmittag, bei schönem Wetter, auf einem Wanderweg in einem Naherholungsgebiet in der Nähe von Herisau, wo mit andern Menschen, auch Familien mit Kindern, stets gerechnet werden musste, und er spazierte nackt tatsächlich an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei. Das Nacktwandern löst bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Empörung aus. Eine Strafbefreiung in Anwendung von Art. 52 StGB lässt sich weder unter spezial- noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten rechtfertigen.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer war nicht in einem Gelände unterwegs, wo die Begegnung mit anderen Menschen unwahrscheinlich war, sondern er wanderte nackt an einem Sonntagnachmittag, bei schönem Wetter, auf einem Wanderweg in einem Naherholungsgebiet in der Nähe von Herisau, wo mit andern Menschen, auch Familien mit Kindern, stets gerechnet werden musste, und er spazierte nackt tatsächlich an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei. Das Nacktwandern löst bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Empörung aus. Eine Strafbefreiung in Anwendung von Art. 52 StGB lässt sich weder unter spezial- noch unter generalpräventiven Gesichtspunkten rechtfertigen.
Die Beschwerde ist in sämtlichen Punkten unbegründet.