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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
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19. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung |
vom 16. April 1986 |
i.S. B. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV, Begründungspflicht; Grundsatz "nulla poena sine lege". |
1. Aus Art. 4 BV folgt die grundsätzliche Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen. Die Begründungsdichte lässt sich aber nicht einheitlich festlegen. Sie ist vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sowie der Interessen des Betroffenen im Blick auf die in der Rechtsprechung des Bundesgerichts entwickelten Grundsätze festzulegen (E. 2). |
2. Das Prinzip "nulla poena sine lege" ist verletzt, wenn die Exekutive ein Verhalten untersagt und unter Strafe stellt, das der Gesetzgeber nicht verbieten wollte (E. 3). | |
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A.- Gemäss § 19 der aargauischen Verordnung zum Wirtschaftsgesetz vom 16. August 1976 (VV WG) ist Jugendlichen, welche das 16. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, der Aufenthalt in Spiellokalen untersagt. Das Bezirksgericht Zofingen erklärte am 8. Dezember 1983 B. in Anwendung dieser Bestimmung des Duldens eines Jugendlichen unter 16 Jahren im Spielsalon X. in A. schuldig und büsste sie mit Fr. 100.--.
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B. gelangte an das Obergericht des Kantons Aargau mit dem Antrag auf Aufhebung des bezirksgerichtlichen Urteils und Freisprechung von Schuld und Strafe. Die 1. Strafkammer dieses Gerichts wies mit Entscheid vom 29. März 1984 die Berufung ab, wobei sie bloss auf das Berufungsbegehren eintrat, nicht aber auf dessen Begründung in der Annahme, diese sei durch eine nicht zur Ausübung der Advokatur im Kanton Aargau befugte Person unterzeichnet worden. Eine dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil vom 22. Oktober 1984 wegen überspitzten Formalismus gut. Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Aargau wies die Berufung von B. mit Entscheid vom 22. November 1984 erneut ab. Dabei erwog sie im wesentlichen, § 19 VV WG biete eine hinreichende gesetzliche Grundlage eines Zutrittverbotes für Jugendliche unter 16 Jahren in Spiellokalen, genüge dem strafrechtlichen Legalitätsprinzip und gestatte, auch die Aufsichtsperson über das Lokal zu bestrafen, sofern diese schuldhaft den Aufenthalt Unbefugter dulde.
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B. führt auch gegen dieses Urteil staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, es wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben. Sie rügt einerseits eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör mangels hinreichender Begründung des angefochtenen Entscheides, anderseits eine Verletzung des Grundsatzes "nulla poena sine lege".
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Auszug aus den Erwägungen: | |
Auszug aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
2.- Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör. Sie wirft der kantonalen Instanz ![]() ![]() | 5 |
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b) Das rechtliche Gehör als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht verlangt, dass die Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt (vgl. dazu BGE 112 Ia 3 E. 3c mit Hinweisen). Daraus folgt die grundsätzliche Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen (BGE 111 Ia 1 E. 2a; 107 Ia 248 E. 3a; JÖRG PAUL MÜLLER/STEFAN MÜLLER, Grundrechte. Besonderer Teil, Bern 1985, S. 250 ff.; vgl. dazu auch Art. 35 VwVG; BGE 104 V 154; 99 V 188; 98 Ib 195 E. 2). Der Bürger soll wissen, warum die Behörde entgegen seinem Antrag entschieden hat. Zudem kann durch die Verpflichtung zur Offenlegung der Entscheidgründe verhindert werden, dass sich die Behörde von unsachlichen Motiven leiten lässt. Die Begründungspflicht erscheint so nicht nur als ein bedeutsames Element transparenter Entscheidfindung, sondern dient zugleich auch der wirksamen Selbstkontrolle der Behörde (vgl. dazu BGE 103 Ia 205 E. 4c; Urteil vom 26. Januar ![]() ![]() | 7 |
Aufgrund dieses allgemeinen verfassungsrechtlichen Anspruchs lassen sich allerdings keine generellen Regeln aufstellen, denen eine Begründung zu genügen hätte. Es wäre deshalb auch verfehlt, das von Art. 4 BV geforderte Mass, die Begründungsdichte, im Sinne eines Minimalstandards einheitlich festzulegen (THOMAS COTTIER, a.a.O., S. 126 f.). Die Anforderungen sind vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sowie der Interessen des Betroffenen im Blick auf folgende, in der Rechtsprechung des Bundesgerichts entwickelte Grundsätze festzulegen: Da dem Anspruch gestützt auf Art. 4 BV gegenüber dem kantonalen Verfahrensrecht nur subsidiäre Bedeutung zukommt, dürfen an die Begründung eines kantonalen Entscheides keine zu hohen Anforderungen gestellt werden, insbesondere dann nicht, wenn das kantonale Recht selbst keine Pflicht zur Begründung vorsieht (BGE 104 Ia 322 E. 3a mit Hinweisen sowie 111 Ia 1 E. 2a; 101 Ia 305 E. 4c, 99 Ia 692 E. 5 mit Hinweis). Die Begründung eines Entscheides muss so abgefasst sein, dass der Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Dies ist nur dann möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde leiten liess und auf welche sich ihr Entscheid stützt (BGE 105 Ib 248 E. 2a; 101 Ia 48 E. 3; vgl. auch 107 Ia 248 E. 3a). Das bedeutet indessen nicht, dass sich diese ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 99 V 188 mit Hinweisen). Weiter ist die verfassungsmässige Begründungsdichte abhängig von der Entscheidungsfreiheit der Behörde und der Eingriffsintensität des Entscheides. Je grösser der Spielraum, welcher der Behörde infolge Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriffe eingeräumt ist (BGE 104 Ia 213 E. 5g; 98 Ia 465 E. 4a; mit Hinweisen; vgl. auch 108 Ib 195 E. 5d sowie VPB 1977 Nr. 114, S. 123), und je stärker ein Entscheid in die individuellen Rechte eingreift (BGE 101 Ia 305 E. 4c), desto höhere Anforderungen sind an die Begründung eines Entscheides zu stellen.
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c) Im vorliegenden Falle hat sich das Obergericht des Kantons Aargau mit dem Einwand der Beschwerdeführerin, § 19 VV WG ![]() ![]() | 9 |
Unbehelflich ist in diesem Zusammenhang auch der Einwand der Beschwerdeführerin, das Obergericht des Kantons Aargau habe sich im wesentlichen darauf beschränkt, die Begründung seines ersten, im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren aufgehobenen Entscheides vom 29. März 1984 wiederzugeben. Das Bundesgericht hat diesen nicht aus materiellen Gründen, sondern ausschliesslich wegen überspitzten Formalismus aufgehoben und das Obergericht verpflichtet, die Berufungsbegründung zu beachten. Kam dieses in der Sache trotzdem zu keinem anderen Ergebnis, so durfte es ohne weiteres auf die Erwägungen seines ersten Entscheides zurückgreifen. Ein Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine erweiterte oder geänderte Begründung bestand nicht. Die zu beurteilenden Rechtsfragen blieben unbesehen der Berücksichtigung der Ausführungen in der Berufungsschrift dieselben. ![]() | 10 |
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Erwägung 3 | |
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Die Beschwerdeführerin behauptet nicht, es bestehe für ihre Bestrafung gar keine gesetzliche Grundlage, noch rügt sie, das Obergericht habe ihre Handlung bzw. Unterlassung in willkürlicher Weise unter § 19 VV WG subsumiert. Es ist deshalb einzig zu prüfen, ob diese Bestimmung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhält. Soweit im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde geltend gemacht wird, eine kantonale Norm sei verfassungswidrig, kann diese Rüge auch noch bei der Anwendung der fraglichen Bestimmung mit der Beschwerde gegen einen gestützt darauf ergangenen Entscheid erhoben werden; sie führt zu einer inzidenten Normenkontrolle (BGE 109 Ia 99 E. 1b mit Hinweisen).
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b) Jede Strafe, welche einen Freiheitsentzug mit sich bringt, bedarf als schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit einer klaren Grundlage in einem formellen Gesetz (BGE 99 Ia 269 E. 5; vgl. auch 64 I 375 E. 5; 63 I 330 E. 2 sowie 90 I 39 E. 4 und 5; THOMAS ![]() ![]() | 15 |
c) § 49bis des Wirtschaftsgesetzes regelt den Betrieb von Spielapparaten in Gastwirtschaften und Spiellokalen. Das Aufstellen und der Betrieb solcher Geräte ist bewilligungspflichtig (Abs. 1). Das Gesetz unterscheidet zwischen Geldspielautomaten, d.h. ![]() ![]() | 16 |
Der Regierungsrat hat seinerseits in § 19 VV WG unter der Marginale "Jugendschutz" Jugendlichen, welche das 16. Altersjahr nicht zurückgelegt haben, den Aufenthalt in Spiellokalen untersagt. Es ist zu prüfen, ob der Regierungsrat damit etwas verboten hat, was der Gesetzgeber erlauben wollte.
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aa) Bereits nach dem Wortlaut ist zu vermuten, dass § 19 VV WG über § 49bis Abs. 4 WG hinausgeht. Das Verbot, Spiellokale zu betreten, geht klarerweise weiter als das Verbot, an Geldspielautomaten zu spielen. Die Benützung von einfachen Spielapparaten ist dem Jugendlichen unter 16 Jahren nach dem Gesetz nicht untersagt. Solche Geräte aber dürften die hauptsächlichste Einrichtung jeden Spiellokales ausmachen, sind doch auch dort die Geldspielautomaten auf eine Anlage pro Lokal beschränkt. Der Gesetzgeber wollte somit nur die Benützung von Geldspielapparaten durch Jugendliche unter 16 Jahren untersagen, nicht auch weitergehend das Betreten von Spiellokalen schlechthin. Die Vermutung, es handle sich hier um ein qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers, wird durch die Materialien bestätigt.
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bb) Der Gesetzesentwurf des Regierungsrates sah vor, Jugendlichen unter 18 Jahren das Spielen an Geldspielautomaten zu verbieten und ihnen den Zutritt zu Spiellokalen nur in Begleitung des Inhabers der elterlichen Gewalt zu gestatten. Anlässlich der ersten Lesung des Gesetzes im Grossen Rat des Kantons Aargau am 7. Mai 1980 gaben sowohl die Altersgrenze wie die Begleitungspflicht Anlass zu Diskussionen (Verhandlungen des Grossen Rates des Kantons Aargau, 1980, S. 2126 ff.). Ergebnis dieser Lesung war, dass die Altersgrenze von 18 Jahren für die Benützung von Geldspielautomaten beibehalten, die Begleitungspflicht für jüngere Benützer von Spiellokalen dagegen gestrichen wurde (S. 2130). Anlässlich der zweiten Lesung des Gesetzes am 23. September 1980 beantragte der Präsident der vorberatenden Kommission in deren ![]() ![]() | 19 |
Der Wille des Gesetzgebers ging somit nach den Materialien eindeutig dahin, nur die Benützung von Geldspielautomaten von einer Altersgrenze abhängig zu machen, nicht dagegen, Jugendlichen unter dieser Grenze generell das Betreten von Spiellokalen zu verbieten.
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cc) Nach § 49bis Abs. 5 WG ist die Jugendschutzvorschrift, wonach Jugendlichen unter 16 Jahren das Spielen an Geldspielautomaten untersagt ist, durch entsprechenden Anschlag am Eingang des Lokals deutlich bekannt zu geben. Auch diese Vorschrift verträgt sich nicht mit einem absoluten Betretungsverbot für diese Jugendlichen. Wäre ihnen der Zutritt zum Lokal schlechthin verwehrt, verlöre der Hinweis, wonach sie die Geldspielapparate nicht benützen dürfen, jeden Sinn. Auch die systematische Gesetzesauslegung führt dazu, in bezug auf die Frage, ob der Gesetzgeber den Jugendlichen unter 16 Jahren das Betreten von Spiellokalen verbieten wollte, ein qualifiziertes Schweigen anzunehmen.
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dd) Eine durch Vollziehungsverordnung schliessbare Gesetzeslücke liegt somit offensichtlich nicht vor. Von einer echten Gesetzeslücke kann nur gesprochen werden, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Inhalt eine Vorschrift entnommen werden kann (BGE 108 Ib 82 E. 4b). Das aargauische Wirtschaftsgesetz ist in diesem Sinne nicht unvollständig. Der Gesetzgeber hat sich darauf beschränkt, die Benützung bestimmter Automaten altersmässigen Beschränkungen zu unterstellen. Dagegen hat er es ausdrücklich abgelehnt, Jugendlichen unter 16 Jahren irgendwelche Betretungsbeschränkungen aufzuerlegen. Er hat damit den Besuch solcher Lokale auch Jugendlichen unter 16 Jahren grundsätzlich freigegeben, allerdings mit der Einschränkung, dass sie von der Benützung von Geldspielapparaten ausgeschlossen sind. Das generelle Betretungsverbot von § 19 VV WG hält somit vor dem Gesetz nicht stand und verletzt dadurch den in Art. 4 BV enthaltenen Grundsatz "nulla poena sine lege".
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ee) Das Obergericht vertritt indessen die Meinung, gemäss § 49 Abs. 2 WG habe der Regierungsrat für den Schutz der Minderjährigen ![]() ![]() | 23 |
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