BGE 135 V 2 |
1. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Einwohnergemeinde Altdorf gegen IV-Stelle Uri, betreffend Z.(Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_27/2008 vom 20. Oktober 2008 |
Regeste |
Art. 89 Abs. 1 lit. b BGG; Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG; Art. 164 Abs. 1 OR; Art. 85bis IVV; Abtretung der Nachzahlung von Leistungen des Sozialversicherers an die bevorschussende Sozialhilfebehörde. |
Der Begriff der Abtretung, wie er in Art. 22 ATSG verwendet wird, stimmt mit demjenigen der Zession nach Art. 164 ff. OR überein (E. 6.1). |
Die zivilrechtlichen Abtretungsregeln mit Bezug auf künftige Forderungen gelten auch im Anwendungsbereich von Art. 22 Abs. 2 ATSG. Deshalb ist die Abtretung künftiger Leistungen des Sozialversicherers im Rahmen einer Globalzession zulässig, wenn die Abtretungserklärung alle Elemente enthält, nach welchen sich die Nachzahlungsforderung bezüglich Inhalt, Schuldner und Rechtsgrund bestimmen lässt (E. 6.1.2). |
In casu rechtsgültige Zession einer künftigen IV-Rentennachzahlung (E. 7.2). |
Sachverhalt |
A. Mit Verfügung vom 18. Mai 2006 sprach die IV-Stelle Uri dem 1959 geborenen Z. rückwirkend ab 1. August 2004 eine halbe und ab 1. April 2005 eine ganze Invalidenrente zu. Nach Verrechnung mit ausstehenden AHV/IV/EO-Beiträgen in der Höhe von Fr. 2'161.40 ermittelte die IV-Stelle eine Rentennachzahlung von Fr. 24'118.60 für die Zeit vom 1. August 2004 bis 30. April 2006. Sie hielt in der Verfügung zudem fest, die Nachzahlung erfolge direkt an den Versicherten, nachdem dieser einer Verrechnung mit Leistungen der Sozialhilfe nicht zugestimmt habe und sich aus dem Sozialhilfegesetz kein ausdrücklicher Rückforderungsanspruch ergebe. Dies bestätigte die IV-Stelle auf Einsprache des Sozialrates Altdorf hin (Entscheid vom 21. August 2006). |
B. Die von der Einwohnergemeinde Altdorf hiegegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Uri mit Entscheid vom 26. Oktober 2007 ab.
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C. Die Einwohnergemeinde Altdorf lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und es seien die nachzuzahlenden Rentenbetreffnisse an sie auszurichten. Ferner ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
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Die IV-Stelle lässt sich in zustimmendem Sinne vernehmen, ohne jedoch einen Antrag zu stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
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E. Z. erhielt Gelegenheit zur Äusserung, wovon er keinen Gebrauch machte.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 1 |
1.3 Die Anwendung kantonalen Rechts prüft das Bundesgericht einzig auf Willkür hin (vgl. BGE 123 V 25 E. 5c/cc S. 33). Willkürlich ist ein Entscheid nicht schon dann, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 133 I 149 E. 3.1 S. 153; BGE 132 I 13 E. 5.1 S. 17 f.; BGE 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f.; je mit Hinweisen). |
Erwägung 4 |
Bestehen Ansprüche der hilfesuchenden Person gegenüber Dritten, so kann die Gewährung wirtschaftlicher Hilfe davon abhängig gemacht werden, dass sie im Umfang der Unterstützungsleistungen an die Sozialhilfebehörde abgetreten werden (Abs. 1).
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Damit lässt sich die Verrechnung des Rentennachzahlungsbetrages mit für den gleichen Zeitraum bezogenen Sozialhilfeleistungen nicht auf ein eindeutiges Rückforderungsrecht im Sinne von Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV abstützen, und es bleibt zu prüfen, ob hiefür sonst wie eine rechtliche Grundlage besteht.
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Erwägung 5 |
Die in Frage stehende Nachzahlung betrifft Leistungen, die für die Zeit nach Inkrafttreten des am 6. Oktober 2000 erlassenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) am 1. Januar 2003 erbracht wurden (Rentenleistungen der Invalidenversicherung mit Rentenbeginn vom 1. August 2004). Die streitige Rechtsfrage (E. 3) beurteilt sich daher nach der Rechtslage seit dem 1. Januar 2003 (vgl. BGE 132 V 113 E. 3.1 S. 115). Der Versicherte hatte sowohl vor (31. Oktober 2000) wie auch nach (28. Juni 2005) der Inkraftsetzung des ATSG eine Abtretungserklärung zu Gunsten der Sozialhilfebehörde abgegeben. Die zweite Abtretung fällt unter die Bestimmungen des ATSG, nicht jedoch jene vom 31. Oktober 2000, weshalb diese unberücksichtigt zu bleiben hat (BGE 130 V 445 E. 1.2.1 S. 446 f.). |
Erwägung 5.2 |
5.2.2 Als Antwort darauf erliess der Verordnungsgeber Art. 85bis IVV mit dem Randtitel "Nachzahlungen an bevorschussende Dritte", welcher am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Sodann hat die Verordnungsbestimmung mit der Ergänzung des Art. 50 IVG durch den im Rahmen der 10. AHV-Revision auf 1. Januar 1997 neu hinzugefügten und bis zum 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen Abs. 2 die gesetzliche Grundlage erhalten (zum Ganzen BGE 128 V 108 E. 2d S. 110; BGE 123 V 25 E. 3b S. 29; Antrag Nationalrätin Heberlein, AB 1993 N 294; vgl. ULRICH MEYER-BLASER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Murer/Stauffer [Hrsg.], 1997, S. 289 f.). Art. 50 Abs. 2 IVG schuf allerdings kein Abtretungsrecht. Vielmehr liess diese Bestimmung bloss die Ausrichtung von Nachzahlungen an Drittpersonen oder Drittstellen zu, falls sie im Hinblick auf Leistungen der Invalidenversicherung Vorschussleistungen erbracht hatten. Das dabei zu beachtende Verfahren und die Voraussetzungen sind in Art. 85bis IVV geregelt. Danach ist die Verrechnung mit vorschussweise ausgerichteter wirtschaftlicher Hilfe u.a. zulässig, wenn aus dem kantonalen Sozialhilfegesetz ein eindeutiges Rückforderungsrecht abgeleitet werden kann (Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV). Mit dem gesetzlichen Rückforderungsrecht wird die soziale Hilfe zur Vorschussleistung und die für eine Verrechnung erforderliche Wechselseitigkeit der zu verrechnenden Forderungen (Nachzahlung der Leistung des Sozialversicherers/Forderung der Behörde auf Rückerstattung als Vorschuss bezogener Sozialhilfe) wird kraft Gesetz herbeigeführt, weshalb es im Anwendungsbereich der Bestimmung der Abtretung nicht bedarf (Art. 120 Abs. 1 OR; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 518/05 vom 14. August 2006 E. 2.3, in: SVR 2007 IV Nr. 14 S. 52; WOLFGANG PETER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 4. Aufl. 2007, N. 7 zu Art. 120 OR). |
Erwägung 6 |
6.1 Der Begriff der Abtretung, wie er in Art. 22 ATSG verwendet wird, stimmt mit demjenigen der Zession nach Art. 164 ff. OR überein (BGE 132 V 113 E. 3.3.3 S. 120; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2003, N. 5 zu Art. 22 ATSG; GABRIELA RIEMER-KAFKA, Auszahlung von Sozialversicherungsleistungen an bevorschussende Dritte, in: Aktuelle Rechtsfragen der Sozialversicherungspraxis, Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], 2001, S. 129, welche Autorin in diesem Zusammenhang von einer Abtretung zahlungshalber ausgeht [Art. 172 OR]). Gemäss Art. 164 Abs. 1 OR kann der Gläubiger eine ihm zustehende Forderung ohne Einwilligung des Schuldners an einen andern abtreten, soweit nicht Gesetz, Vereinbarung oder Natur des Rechtsverhältnisses entgegenstehen. Unter diesem Aspekt ist die Zession nur zulässig, falls sie den Inhalt nicht verändert oder den Zweck der Forderung nicht vereitelt oder gefährdet (BGE 115 II 264 E. 3b S. 266) und auch die Rechtsstellung des Schuldners nicht verschlechtert (BGE 122 III 145 E. 4c S. 149). Namentlich höchstpersönliche Ansprüche sind einer Abtretung nicht zugänglich (BGE 107 II 465 E. 6b S. 474; FLAVIO LARDELLI, in: Kurzkommentar OR, Heinrich Honsell [Hrsg.], 2008, N. 23 zu Art. 164 OR; DANIEL GIRSBERGER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 4. Aufl. 2007, N. 33 zu Art. 164 OR). |
6.1.2 Darüber hinaus lassen es zivilrechtliche Rechtsprechung und Doktrin zu, auch künftige Forderungen in den Schranken von Art. 27 Abs. 2 ZGB und Art. 20 OR zu zedieren (BGE 113 II 163 E. 2a S. 165; BGE 112 II 241 E. 2a S. 243; BGE 84 II 355 E. 3 S. 366; THEO GUHL UND andere, Das schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl. 2000, S. 269; PETER GAUCH UND ANDERE, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. II, 9. Aufl. 2008, Rz. 3441 ff.). Sowohl der Inhalt der künftigen Forderung, als auch die Person des Schuldners und der Rechtsgrund der Forderung müssen indes genügend bestimmt oder zumindest bestimmbar sein. Mit Bezug auf die Globalzession muss dieses Erfordernis im Zeitpunkt des Entstehens oder der Geltendmachung der Forderung und nicht schon bei der Abgabe der formgültigen Abtretungserklärung erfüllt sein. Hingegen hat die Abtretungserklärung selbst alle Elemente aufzuweisen, welche die Bestimmung von Inhalt, Schuldner und Rechtsgrund im Zeitpunkt des Entstehens der Forderung erlauben (BGE 113 II 163 E. 2a, b und c S. 165 ff.). Es besteht kein Grund für eine im Rahmen des Art. 22 Abs. 2 ATSG prinzipiell abweichende Betrachtungsweise. |
6.3 Für die Gültigkeit der Abtretung ist ferner nicht von Belang, ob seitens der Behörde die Sozialhilfeleistungen in subjektiver Kenntnis eines (bereits eingereichten oder später zu stellenden) Antrages um Zusprechung einer Rente der Invalidenversicherung ausgerichtet worden sind (BGE 131 V 242 E. 5.2 S. 246 f.). Die für Art. 85bis IVV in diesem Sinn ergangene Rechtsprechung ist auch bei der Anwendung von Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG zu beachten, besteht doch kein Anlass, die in den Bestimmungen verwendeten Begriffe der "Vorschussleistung" (Art. 85bis IVV) und "Vorschusszahlung" (Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG) sowie deren rechtliche Bedeutung jeweils anders zu verstehen. Ebenfalls keine Rolle spielt, ob der Versicherte bei der Unterzeichnung der Abtretung Kenntnis eines bereits bestehenden (aber erst später verfügten) Nachzahlungsanspruches hatte (BGE 131 V 242 E. 5.2 S. 246 f.). Da die Verrechnung von Nachzahlungen mit Leistungen der Sozialhilfe gestützt auf Art. 85bis IVV zulässig ist, welche vor der Anmeldung bei der Invalidenversicherung ausgerichtet worden sind - die Sozialhilfe als Vorschussleistung im Sinne von Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG demnach noch nicht feststand -, muss ebenso gelten, dass Nachzahlungen abgetreten werden können, um deren Begründetheit der Versicherte bei der Abgabe der Abtretungserklärung noch nicht wusste, sei es, weil die Anmeldung bei der Invalidenversicherung noch nicht erfolgt war, sei es, weil die Abklärungen zur Rentenprüfung noch im Gange waren. |
Erwägung 7 |
7.2 Gemäss den Feststellungen im angefochtenen Entscheid hat sich der Versicherte am 16. August 2005 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Eine schriftliche und damit formgültige Abtretungserklärung hatte er bereits am 28. Juni 2005 abgegeben. Ferner sprach ihm die Invalidenversicherung mit Verfügung vom 18. Mai 2006 rückwirkend ab 1. August 2004 eine Invalidenrente zu, wobei sie einen Nachzahlungsbetrag von Fr. 24'118.60 ermittelte. Der abgetretene Nachzahlungsbetrag setzt sich somit aus Rentenleistungen zusammen, die für die Zeit vor und für die Zeit nach der Abtretung vom 28. Juni 2005 geschuldet sind. Insoweit die Forderung - vom Augenblick der Abgabe der Abtretungserklärung aus betrachtet - künftige Rentenbetreffnisse beschlägt, waren der Inhalt, die Schuldnerin und der Rechtsgrund der Nachzahlung bei der Entstehung der Nachzahlungsforderung ohne weiteres bestimmbar. Schuldnerin, Rechtsgrund, Ausmass und Höhe des Leistungsanspruches ergeben sich aus den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen (Art. 28 f., 37 und 48 IVG). Alle diese Elemente waren - auch wenn noch nicht verfügungsweise festgelegt - aufgrund der Zessionserklärung vom 28. Juni 2005 in diesem Zeitpunkt absehbar, bezog sie sich doch ausdrücklich auf künftige Leistungen wie "Renten, Ergänzungsleistungen, Arbeitslosengeld usw.". Damit ist auch der Vorschusscharakter der Sozialhilfeleistungen erstellt (vgl. E. 6.1.2 hievor). Die Rechtsgültigkeit der Abtretung der künftigen Rentenbetreffnisse steht somit fest. |
8. Zu prüfen bleibt die Frage der zeitlichen Kongruenz von Sozialhilfe und IV-Nachzahlung. Gemäss der nicht bestrittenen Feststellung der Vorinstanz hat der Versicherte seit November 2000 Gelder der sozialen Hilfe bezogen. In der Tat sind gemäss Klientenkontoauszug der Sozialbehörde bis zum 30. April 2006 Leistungen ausgewiesen. Die Nachzahlung von Rentenleistungen betrifft die Zeit vom 1. August 2004 bis 30. April 2006. Bei der während dieser Periode bezogenen Sozialhilfe handelt es sich folglich um Vorschusszahlungen im Sinne von Art. 22 Abs. 2 lit. a ATSG (vgl. BGE 131 V 242 E. 5.2 in fine S. 246 f.). Da der durch die Sozialbehörde gewährte Betrag denjenigen des Nachzahlungsbetreffnisses übersteigt, hat die Beschwerdeführerin Anspruch darauf, dass ihr die gesamten nachzuzahlenden Rentenleistungen in der Höhe von Fr. 24'118.60 ausgerichtet werden.
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