BGHSt 42, 65 - Innerdeutsche Todesschüsse I | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Brian Valerius | |||
Mittelbare Täterschaft bei Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze (im Anschluß an BGHSt 40, 218). |
StGB § 25 Abs. 1 |
5. Strafsenat |
Urteil |
vom 4. März 1996 g.B. |
- 5 StR 494/95 - |
Landgericht Berlin |
Aus den Gründen: | |
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
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I. | |
Der Angeklagte gehörte seit November 1964 den Grenztruppen der DDR an. Zur Tatzeit war er Kommandeur des 34. Grenzregiments. Dieses Regiment hatte im Bereich West-Staaken die "Aufgabe der Grenzsicherung" nach Berlin (West). Die Grenzanlagen waren derart aufgebaut, daß einem etwa zwanzig Meter breiten Erdstreifen ein 150 cm tiefer und einen Meter breiter Kfz-Sperrgraben folgte. Fünfzehn Meter entfernt waren drei Sperren aus Stacheldrahtrollen aufgebaut, hinter denen sich jeweils ein Stacheldrahtzaun befand. Der zwischen Kfz-Sperrgraben und Stacheldrahtrollen liegende "Kontrollstreifen" bestand aus geharktem Sand.
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Am 7. Februar 1966 versuchte der Bauarbeiter Bl., aus West-Staaken kommend, die Grenzanlagen zu überwinden. Dabei wurde er von zwei in einem Beobachtungsturm postierten Grenzsoldaten (J. und H.) entdeckt. Beide Grenzposten gaben neben einem Schuß mit Leuchtmunition mehrere Feuerstöße Sperrfeuer aus ihren Kalaschnikow-Maschinenpistolen in den Boden vor dem Flüchtling ab. Bl. versuchte gleichwohl, unter den drei Sperren aus Stacheldrahtrollen hindurch in den Westteil Berlins zu gelangen. Dabei verfing er sich in der zweiten Stacheldrahtsperre und blieb auf dem Bauch liegen. Durch die Schüsse wurden zwei weitere Grenzsoldaten (S. und Ho.) auf den Fluchtversuch aufmerksam. Sie liefen zum Ort des Geschehens und begaben sich - ebenso wie zuvor J. und H. - in den Sperrgraben hinter den Flüchtling. Kurz danach erschien der Kompaniechef Z. mit seinem Fahrer K.; beide postierten sich ebenfalls im Sperrgraben.
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Der Angeklagte, der die Schüsse im Regimentsobjekt hörte, rief seinen Fahrer und fuhr zusammen mit seinem Stabschef zur Grenze. Der Angeklagte begab sich auf den Grenzstreifen, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Nach einigen Minuten machte der im Stacheldraht festhängende Flüchtling eine Bewegung in Richtung Berlin (West). Dabei war für den Angeklagten "erkennbar", daß für den Flüchtling nicht die geringste Chance bestand, sich zu befreien und den Westteil Berlins zu erreichen. Der Angeklagte zog daraufhin seine Pistole und schoß auf Bl., bis das Magazin der Waffe leer war. Dabei nahm er den Tod des Opfers billigend in Kauf. Da die Schüsse den Flüchtling verfehlten, rief der Angeklagte nach einer Maschinenpistole. Der Fahrer K. händigte ihm daraufhin seine Kalaschnikow aus. Mit dieser Maschinenpistole gab der Angeklagte aus einer Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Metern mehrere gezielte Schüsse auf Bl. ab. Neben dem Angeklagten schossen zumindest S. und Ho., möglicherweise auch J. und H. sowie unbekannt gebliebene Grenzsoldaten in Richtung des Flüchtlings. Insgesamt wurden - einschließlich der ersten Schüsse vom Beobachtungsturm - rund 70 Schüsse abgegeben. Bl. wurde von vier Schüssen aus einer Kalaschnikow getroffen, von denen drei unmittelbar tödlich wirkten.
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Das Landgericht vermag - trotz einer "hohen Wahrscheinlichkeit" - nicht festzustellen, daß der Angeklagte die tödlichen Schüsse abgefeuert hat. Nicht auszuschließen sei, daß das Opfer von anderen NVA-Angehörigen getroffen wurde. Das Schwurgericht hält den Angeklagten deshalb nur des versuchten Totschlags für schuldig. Mittäterschaft mit einem unbekannt gebliebenen Schützen scheide aus, da der Angeklagte nicht aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses mit diesem Schützen zusammengewirkt habe und weil nicht auszuschließen sei, daß der Flüchtling von einem Soldaten getroffen wurde, der lediglich Sperrfeuer schießen wollte.
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II. | |
Der Angeklagte rügt die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts. Seine Revision ist unbegründet.
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1. Die Einwände gegen die Verfolgbarkeit der Tat widersprechen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. In Fällen der vorliegenden Art ist weder Verjährung eingetreten noch ist die Verfolgbarkeit durch in der DDR erlassene Amnestien ausgeschlossen (vgl. zuletzt BGHSt 41, 247 mit umfassenden Nachweisen). Der vorliegende Fall könnte rechtlich allenfalls dann anders als die bislang entschiedenen zu beurteilen sein, wenn gegen den Angeklagten ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet (und eingestellt) worden wäre. Die dementsprechende Behauptung des Angeklagten trifft indes nicht zu; hiervon hat sich der Senat im Freibeweisverfahren überzeugt: Anhaltspunkte dafür, daß gegen den Angeklagten wegen der tödlichen Schüsse auf Bl. ein Ermittlungsverfahren auch nur eingeleitet worden wäre, gibt es nicht. Das Bundesarchiv in Potsdam, bei dem die Akten der Militäroberstaatsanwaltschaft der DDR aufbewahrt werden, hat insoweit alle in diesem Fall in Betracht kommenden Recherchen ergebnislos durchgeführt.
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2. ...
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III. | |
Die Staatsanwaltschaft rügt mit ihrer zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel, das sich gegen den Schuldspruch wegen eines nur versuchten Totschlags richtet, hat Erfolg.
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Der Angeklagte ist wahlweise (vgl. Dreher/Tröndle, StGB, 47. Aufl. § 1 Rdn. 17 m.w.N.) als Alleintäter, als Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB, § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR) oder als mittelbarer Täter (§ 25 Abs. 1 StGB zweite Variante, § 22 Abs. 1 StGB-DDR zweite Variante) für den Tod Bl.s verantwortlich. Ein Geschehensablauf, der sein Verhalten als bloß versuchten Totschlag erscheinen ließe, kommt nicht in Betracht.
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1. Der Senat kann offenlassen, ob der Angeklagte bereits nach den Grundsätzen der Entscheidung BGHSt 40, 218 als mittelbarer Täter angesehen werden müßte. Es liegt nahe, daß der Kommandeur eines Grenzregiments bei der Umsetzung des von der obersten militärischen Führung vorgegebenen Grenzregimes Zwischenglied einer Befehlshierarchie ist und dabei durch eigene Tatbeiträge unter Ausnutzung seiner Befehlsgewalt zur Tatbestandsverwirklichung führende regelhafte Abläufe auslöst. Hierzu enthält das angefochtene Urteil indes keine Feststellungen.
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2. Auf der Basis der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen erscheint der Angeklagte bei jeder denkbaren Sachverhaltsgestaltung als Täter eines vollendeten Tötungsdelikts:
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a) Nach dem Gesamtbild der Urteilsfeststellungen spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Angeklagte die tödlichen Schüsse selbst aus der von ihm verwendeten Maschinenpistole abgegeben hat. Der Angeklagte ist unter dieser Voraussetzung Täter eines vollendeten Totschlags. Falls außer ihm kein anderer Soldat mit Tötungsvorsatz geschossen hat, ist er Alleintäter; haben auch andere mit Tötungsvorsatz geschossen, so ist der Angeklagte Mittäter eines vollendeten Totschlags. Das gilt auch, wenn der Angeklagte das Opfer zwar verfehlt hat, der Flüchtling jedoch durch einen anderen Grenzsoldaten mit (bedingtem) Tötungsvorsatz erschossen worden ist. Der Rangunterschied zwischen dem Angeklagten und anderen Soldaten, die mit derselben Zielrichtung wie er geschossen haben, steht einer Mittäterschaft (BGHSt 39, 1, 30, 31; 168, 194; BGH NJW 1994, 2708 - insoweit in BGHSt 40, 241 nicht abgedruckt; BGH NJW 1995, 2728, 2729 - insoweit in BGHSt 41, 101 nicht abgedruckt) nicht entgegen.
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b) Sofern Bl. durch einen Grenzsoldaten getötet worden ist, der ohne Tötungsvorsatz lediglich Sperrfeuer schießen wollte, was das Landgericht aufgrund einer allerdings zweifelhaften Beweiswürdigung für möglich hält, ist der Angeklagte mittelbarer Täter eines Totschlags.
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aa) Der Angeklagte hat - unabhängig von der allgemeinen, durch die oberste militärische Führung vorgegebenen Befehlslage - als Regimentskommandeur durch die Abgabe gezielter Schüsse seinen vor Ort befindlichen Untergebenen zumindest in schlüssiger Form abverlangt, den Flüchtling ihrerseits unter Feuer zu nehmen. Er "empfand das Verhalten des Kompaniechefs Z. als unangemessen inaktiv und wollte durch seine Schußabgabe die Situation mit dem Flüchtling beenden". Der Senat braucht an dieser Stelle nicht zu entscheiden, ob jede individuelle Anweisung eines militärischen Vorgesetzten, auch und gerade wenn ihre Übereinstimmung mit der allgemeinen Befehlslage wegen eines möglichen Exzesses des Befehlenden zweifelhaft erscheint, bereits den für eine mittelbare Täterschaft erforderlichen Grad von Tatherrschaft zu begründen geeignet ist. Bei Befehlen eines Regimentskommandeurs an Angehörige seines Regiments liegt eine derart beherrschende Stellung vor.
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bb) Nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe steht fest, daß der durch eigenes Schießen konkludent erteilte Befehl - wie vom Angeklagten gewollt - von seinen Untergebenen als solcher aufgenommen und befolgt worden ist. Auf die Frage, ob der vom Angeklagten erteilte Schießbefehl der allgemeinen Befehlslage entsprach oder ob die vorsätzliche Tötung eines Fluchtunfähigen insoweit wegen eines möglichen Verstoßes gegen die den Schußwaffengebrauch zur Tatzeit regelnde DV 30/10 (vgl. dazu BGHSt 40, 241, 243) einen Exzeß darstellte, kommt es nicht an. Maßgeblich ist allein, daß der Angeklagte seine herausragende Stellung als Regimentskommandeur dazu gebraucht hat, seine Untergebenen in der konkreten Situation zum Schießen zu veranlassen.
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cc) Den seine Tatherrschaft begründenden individuellen Schießbefehl gab der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz. Der Angeklagte nahm den Tod des Flüchtlings als das Ergebnis der von ihm gewünschten Schüsse billigend in Kauf; er hatte damit Täterwillen. Dieser Erfolg sollte nach seiner Vorstellung zwar durch gezielte Schüsse eintreten. Der Angeklagte nahm damit aber zugleich mindestens billigend in Kauf, daß das Opfer auch durch ohne Tötungsvorsatz abgegebene Schüsse ums Leben kam. Dies läßt sich dem Urteilszusammenhang zweifelsfrei entnehmen und ergibt sich auch unmittelbar aus seinem eigenen Tötungsentschluß. Wenn Bl. durch befohlene Schüsse, die ungezielt und ohne Tötungsvorsatz abgegeben waren, gleichwohl tödlich getroffen wurde, stellt dies für den Angeklagten lediglich eine unwesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf dar.
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dd) Damit liegen die Voraussetzungen der Tatbestandsverwirklichung "durch einen anderen" vor, und zwar sowohl nach geltendem Recht als auch nach dem zur Tatzeit geltenden Recht der DDR und dem späteren § 22 Abs. 1 StGB-DDR/1968 (vgl. Lehrbuch des Strafrechts der DDR AT 1957 S. 468; Strafrecht AT Lehrbuch 1976 S. 374). Daß der Angeklagte im Rahmen des Tatgeschehens als unmittelbar Handelnder durch die von ihm abgegebenen Schüsse selbst den tatbestandlichen Erfolg herbeiführen wollte, steht der Annahme gleichzeitiger mittelbarer Täterschaft aufgrund der zur Tatbestandserfüllung ausgenutzten Befehlsherrschaft nicht entgegen. Unerheblich für die mittelbare Täterschaft bleibt, ob der (ggf. mit bedingtem Körperverletzungsvorsatz) Sperrfeuer schießende Grenzsoldat seinerseits rechtswidrig oder schuldhaft gehandelt hat (vgl. BGH NJW 1995, 1437, 1438). Für die Tatherrschaft des Angeklagten kommt es auch nicht darauf an, ob (im Falle eines Exzesses des Angeklagten) der unmittelbar handelnde Untergebene die etwaige Unverbindlichkeit des vom Angeklagten gegebenen Schießbefehls erkannte oder erkennen konnte.
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e) Andere Sachverhaltsgestaltungen scheiden aus. Daß Bl. durch Schüsse getötet worden sein kann, die zeitlich vor den Schüssen des Angeklagten abgegeben wurden, läßt sich nach den Urteilsgründen ebenso zweifelsfrei ausschließen wie die Möglichkeit, daß Grenzsoldaten die tödlichen Schüsse abgaben, ohne das Verhalten des Angeklagten zuvor wahrgenommen zu haben.
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3. Der Senat konnte den Schuldspruch auf vollendeten Totschlag umstellen (wird ausgeführt).
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IV. | |
Der Senat hält an seinen Grundsätzen zur rechtlichen Beurteilung von tödlichen Schüssen an den innerdeutschen Grenzen fest (zusammenfassend BGHSt 41, 101). In der genannten Entscheidung ist der Senat bereits darauf eingegangen, daß das Grenzregime der DDR nicht mit den sonst üblichen Formen bewaffneter Grenzsicherung gleichgesetzt werden könne (BGH a.a.O. S. 2731 unter D II 2 c, aa). Er hat insbesondere ausgeführt, daß der Befehl, die Flucht um jeden Preis, gegebenenfalls durch die Tötung des Flüchtlings zu verhindern, unter den besonderen Verhältnissen an der innerdeutschen Grenze ein so schweres Unrecht war, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts unbeachtlich sind, weil sie gegen die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verstoßen (BGHSt 39, 1, 16 unter Bezug auf BGHSt 2, 234, 239). Bei dieser Anwendung des DDR-Rechts hat der Senat völkerrechtliche Grundsätze in seine Erwägungen einbezogen (BGH NJW 1995, 2728 unter D II 2 c, aa und bb; vgl. zum Gesichtspunkt des ius cogens auch BGHSt 40, 241, 247). Auf Schußwaffengebrauch, der nicht mit Tötungsvorsatz einherging, hat der Senat in keinem Fall die Verurteilung von Grenzsoldaten gestützt.
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