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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher, Claudia Schramm | |||
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2. Dem Bundesverwaltungsgericht kann durch Bundesgesetz eine erstinstanzliche Zuständigkeit für Streitigkeiten eingeräumt werden, in denen Verwaltungsakte bestimmter oberster Bundesbehörden angegriffen werden, die von überregionaler oder allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung sind oder einer raschen endgültigen Klärung ihres Rechtsbestandes bedürfen. |
Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft. |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 10. Juni 1958 |
-- 2 BvF 1/56 -- |
in dem Verfahren wegen verfassungsgerichtlicher Prüfung, ob § 9 Abs. 1 Buchst. a, b, e und f des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625) mit dem Grundgesetz vereinbar ist, Antragsteller: Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. |
Entscheidungsformel: |
§ 9 Absatz 1 Buchstaben a, b, e und f des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625) ist mit dem Grundgesetz vereinbar. |
Gründe: | |
A. | |
1. Das Bundesverwaltungsgericht ist als oberste Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit im allgemeinen zuständig zur Entscheidung über das Rechtsmittel der Revision gegen Urteile der Oberverwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtshöfe); es besitzt gemäß § 9 Abs. 1 BVerwGG außerdem eine beschränkte erstinstanzliche Zuständigkeit. § 9 Abs. 1 und 2 BVerwGG lautet:
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(1) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet im ersten und letzten Rechtszug a) über die Anfechtung von Verwaltungsakten der obersten Bundesbehörden auf konsularischem Gebiet, in der Devisenbewirtschaftung, auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft ![]() ![]() b) über die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses, wenn der Rechtsstreit eines der im Buchstaben a bezeichneten Rechtsgebiete betrifft und das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses von einer obersten Bundesbehörde bestritten wird, c) über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern sowie zwischen verschiedenen Ländern, d) über den Antrag der Bundesregierung nach § 129 a des Strafgesetzbuchs auf Feststellung, daß eine Vereinigung gemäß Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes verboten ist, e) über die Anfechtung von Verwaltungsakten solcher Bundesbehörden, die außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes ihren Sitz haben und f) in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen. | 2 |
(2) Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet in den Fällen des Absatzes 1, Buchstaben a und b in der Sache selbst nur, wenn die Angelegenheit nach Umfang, Bedeutung oder Auswirkung über das Gebiet eines Landes hinausgeht oder von allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung ist oder aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses einer alsbaldigen Entscheidung bedarf. Liegt keine dieser Voraussetzungen vor, so verweist es die Sache durch Beschluß an das örtlich zuständige allgemeine Verwaltungsgericht des ersten Rechtszuges. Der Oberbundesanwalt ist vor der Entscheidung zu hören.
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Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält diese Vorschrift teilweise für verfassungswidrig und hat deshalb beantragt festzustellen,
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daß das Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625) in § 9 Abs. 1 Buchst. a, b, e und f mit dem Grundgesetz unvereinbar und daher nichtig ist.
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Dazu trägt sie -- von rechtspolitischen Erwägungen abgesehen -- vor: Die Zuweisung von Rechtsstreitigkeiten an das Bundesverwaltungsgericht als Gericht erster Instanz sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, soweit sie nicht durch den "besonderen Cha ![]() ![]() | 6 |
2. Der Antrag ist dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und den Landesregierungen zugestellt worden. Der Bundesminister des Innern hat sich namens der Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten Dr. Arndt und Dr. Kopf haben sich namens des Bundestags geäußert. Bundestag und Bundesregierung halten die angegriffenen Rechtsvorschriften für gültig.
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Der Antragsteller hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
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B. -- I. | |
Gegen die Zulässigkeit des Antrags bestehen keine Bedenken.
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II. | |
Die gegen § 9 Abs. 1 Buchst. a, b, e und f BVerwGG erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken greifen nicht durch:
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1. Die Vorschrift ist vereinbar mit Art. 92 und 96 GG, die zusammen mit anderen Vorschriften des IX. Abschnitts des Grundgesetzes die rechtsprechende Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland entsprechend dem Grundsatz des Art. 30 GG auf die Gerichte der Länder und die Gerichte des Bundes verteilen.
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a) Nach Art. 30 GG steht die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben -- auch die Rechtsprechung -- den Ländern zu, "soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt". Dementsprechend bestimmen die Art. 92 ff. GG abschließend, welche Gerichte der Bund errichten kann; im übrigen wird die rechtsprechende Gewalt... durch die Gerichte der Länder ausgeübt" (Art. 92 GG). Über den ![]() ![]() | 12 |
Durch § 9 BVerwGG wird nur eine eng begrenzte erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts begründet. Der überwiegende Teil erstinstanzlicher Rechtsprechung verbleibt bei den Gerichten der Länder. Wie gering der Umfang der dem Bundesverwaltungsgericht in erster Instanz zugewiesenen Streitigkeiten ist, ergibt sich aus der unwidersprochen gebliebenen Zusammenstellung der Bundesregierung in ihrem Schriftsatz vom 30. April 1953, die die gesetzlichen Grundlagen der Verwaltungsmaßnahmen aufzählt, die unmittelbar vor dem Bundesverwal ![]() ![]() ![]() ![]() | 13 |
b) § 9 Abs. 1 BVerwGG fügt sich auch in den historischen Zusammenhang ein, in dem das Grundgesetz steht. Weder der deutsche Bundesstaat von 1871 noch der deutsche Bundesstaat unter der Verfassung von Weimar kannte eine Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte der Länder zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten des Reichs. Die Verwaltungsgerichte der Länder waren nur zur Überprüfung von Verwaltungsakten der Landesbehörden zuständig; soweit überhaupt die Möglichkeit bestand, Verwaltungsakte von Reichsbehörden anzufechten, waren besondere Verwaltungsgerichte des Reiches eingerichtet. Nach der Zäsur, die das nationalsozialistische Regime für eine kontinuierliche Entwicklung bedeutete, fehlten zunächst funktionierende Gerichte oberhalb der nach 1945 auch Reichsaufgaben wahrnehmenden Länder; das Bedürfnis, Verwaltungsakte der zonalen Behörden und der Behörden des Vereinigten Wirtschaftsgebiets gerichtlich zu kontrollieren, führte dazu, daß die Verwaltungsgerichte der Länder auch über Anfechtungsklagen gegen Verwaltungsakte entschieden, die nicht von Landesbehörden ausgingen. Vor allem aber gewannen die Verwaltungsgerichte mit der allgemeinen Einführung der Generalklausel, mit der ein entsprechender personeller und organisatorischer Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit einherging, eine solche Bedeutung und Gestalt, daß dieser Gerichtszweig ebenbürtig neben den älteren der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit trat Die Tätigkeit der Verwaltungsgerichte war nun so unbezweifelbar Rechtsprechung wie die eines anderen Gerichtszweigs, insbesondere der sogenannten ordentlichen Gerichte, daß auch die allgemeinen Grundsätze, die für die Aufteilung der rechtsprechenden Tätigkeit zwischen Bundes- und Landesgerichten galten, für die Verwaltungsgerichtsbarkeit selbstverständlich anwendbar erscheinen mußten. Dieser Entwicklung entsprach es einerseits, daß nunmehr die Verwaltungsgerichtsgesetze der Länder dahin ausgelegt wurden, daß Verwaltungsakte, auch soweit sie nicht ![]() ![]() | 14 |
c) Überdies hält das Land Nordrhein-Westfalen selbst die Vorschriften des § 9 Abs. 1 Buchst c und d, nach denen das Bundesverwaltungsgericht in erster und letzter Instanz zuständig ist zur Entscheidung "über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern sowie zwischen verschiedenen Ländern und über den Antrag der ![]() ![]() | 15 |
In Würdigung dieser Zusammenhänge bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß dem Bundesverwaltungsgericht durch Bundesgesetz eine erstinstanzliche Zuständigkeit für Streitigkeiten eingeräumt wird, in denen Verwaltungsakte bestimmter oberster Bundesbehörden angegriffen werden, die von überregionaler oder allgemeiner grundsätzlicher Bedeutung sind oder einer raschen endgültigen Klärung ihres Rechtsbestandes bedürfen (ebenso Koehler, Kommentar zum Bundesverwaltungsgerichtsgesetz Anm. 2 zu § 9; Ule, Kommentar zum Bundesverwaltungsgerichtsgesetz Anm. zu § 9; Schunck/de Clerk, Kommentar zum Bundesverwaltungsgerichtsgesetz Anm. 1 und 2 zu § 9; v. Mangoldt, Kommentar zum Grundgesetz Anm. 4 zu Art. 92; Bachof, DRZ 1950, 245; Schultz, MDR 1952, 727; Naumann, DVBl. 1953, 530).
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2. § 9 BVerwGG widerspricht auch nicht dem Rechtsstaatsprinzip. Aus diesem Prinzip sind u.a. auch gewisse Regeln für das gerichtliche Verfahren entwickelt worden; ihr Inhalt und ihre Tragweite können hier unerörtert bleiben, da sie § 9 a.a.O. nicht berührt. Daß das gerichtliche Verfahren in den in § 9 a.a.O. geregelten Fällen einstufig gestaltet ist, verletzt das Rechtsstaatsprinzip nicht. Es verlangt nicht einmal, daß für jede Rechtsstreitigkeit ausnahmslos der Weg zu einem Gericht offenstehen muß; Art. 19 Abs. 4 GG beschränkt sich darauf, zu bestimmen, daß jedermann, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, ein Gericht anrufen kann. Ob der gerichtliche Schutz durch ein Gericht oder durch einen gerichtlichen Instanzenzug oder durch verschiedene Gerichte, die denselben Streit ![]() ![]() | 17 |
3. Abwegig ist die Auffassung, die Sondervorschrift des § 9 Abs. 1 Buchst. a, b, e und f BVerwGG mache das Bundesverwaltungsgericht zu einem Ausnahmegericht im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG oder schaffe einen sachlich nicht gerechtfertigten privilegierten Gerichtsstand für oberste Bundesbehörden und sei deshalb unvereinbar mit dem Gleichheitssatz.
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a) Ausnahmegerichte sind Gerichte, die in "Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit besonders gebildet und zur Entscheidung einzelner konkreter oder individueller Fälle berufen sind (BVerfGE 3, 213 [223]). Davon kann beim Bundesverwaltungsgericht, was die Zuständigkeitsabgrenzung in den Fällen des § 9 a.a.O. anlangt, nicht die Rede sein. Denn die nach § 9 a.a.O. vom Bundesverwaltungsgericht zu entscheidenden Sachen sind abstrakt und generell bestimmt.
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b) Die für die Regelung des § 9 maßgeblich gewesenen sachlichen Gesichtspunkte ergeben sich sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift selbst als auch aus den Beratungen zum Gesetz. Sie orientieren sich gerade nicht an dem Rang oder der Stellung der den Verwaltungsakt setzenden Behörde, sondern an der Materie und ihrer Eigenart, so daß offen bleiben kann, ob eine solche Überlegung ohne weiteres unter dem Gesichtspunkt einer "Willkür" als mit dem Grundsatz der Gleichheit unvereinbar beanstandet werden könnte. Die getroffene Regelung ist erkennbar auch nicht bestimmt von der Rücksicht auf "Empfindlichkeiten ![]() ![]() ![]() | 20 |
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