Urteil | |
des Zweiten Senats vom 22. Juli 1969 auf die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 1969
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-- 2 BvK 1/67 -- | |
in dem Verfassungsrechtsstreit über die Frage, ob der Schleswig-Holsteinische Landtag dadurch, daß er zu Beginn seiner 6. Wahlperiode keine Neuwahl des Ministerpräsidenten vorgenommen hat, gegen Art. 21 Abs. 2 Satz 1 der Landessatzung für Schleswig-Holstein und gegen Art. 28 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes verstoßen hat, Antragstellerin: Die Sozialdemokratische Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag, vertreten durch ihren Vorstand -- Bevollmächtigte: Kreisoberverwaltungsrat Klaus Konrad, MdL, Eutin, Peterstraße 17; Rechtsanwalt Manfred Hansen, MdL, Kiel, Holstenstraße 14 -, Antragsgegner: Der Schleswig-Holsteinische Landtag, vertreten durch seinen Präsidenten -- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Bernhard Leverenz, Karlsruhe, Hegaustraße 15 -.
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Entscheidungsformel:
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Der Antrag wird abgewiesen.
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Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat dadurch, daß er zu ![]() ![]() | |
Gründe: | |
A. -- I. | |
1. Die Landessatzung für Schleswig-Holstein (LS) enthält keine dem Art. 69 Abs. 2 GG entsprechende Bestimmung über die Beendigung des Amtes des Ministerpräsidenten beim Übergang in eine neue Legislaturperiode. Dagegen hat sie das "konstruktive Mißtrauensvotum" des Art. 67 Abs. 1 GG übernommen.
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Art. 21 LS lautet:
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(1) Das oberste Organ der vollziehenden Gewalt ist die Landesregierung. Sie besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Landesministern.
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(2) Der Ministerpräsident wird vom Landtag ohne Aussprache gewählt. Er beruft und entläßt die Landesminister und bestellt einen der Landesminister zu seinem Vertreter.
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(3) Der Ministerpräsident und die Landesminister können jederzeit zurücktreten. Beim Rücktritt des Ministerpräsidenten muß die gesamte Landesregierung zurücktreten.
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(4) Tritt die Landesregierung zurück, so führt sie ihre Geschäfte bis zur Übernahme durch die neugebildete Landesregierung weiter.
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Art. 30 LS lautet:
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Der Landtag kann dem Ministerpräsidenten das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt.
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Die Staatspraxis in Schleswig-Holstein ging bisher davon aus, daß durch die Wahl eines neuen Landtages das Amt des Ministerpräsidenten nicht berührt werde. In der Eröffnungssitzung des neugewählten Landtages im Jahre 1950 (2. Wahlperiode) hatte der Ministerpräsident es abgelehnt, mit der von ihm geführten Landesregierung zurückzutreten; er wurde daraufhin gemäß ![]() ![]() | |
2. Im April 1967 fanden in Schleswig-Holstein Landtagswahlen statt. Der neugewählte Landtag trat am 16. Mai 1967 zu seiner ersten Sitzung zusammen. In der Tagesordnung dieser Sitzung war eine Neuwahl des Ministerpräsidenten nicht vorgesehen. Dagegen sollten zwei neuernannte Landesminister vereidigt werden.
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Die Sozialdemokratische Fraktion beantragte in der Sitzung mit einem Dringlichkeitsantrag, gemäß Art. 21 Abs. 2 Satz 1 LS den Punkt "Wahl des Ministerpräsidenten" auf die Tagesordnung zu setzen. Der Landtag erkannte zwar die Dringlichkeit an, lehnte den Antrag jedoch ab. Auch ein Antrag der Sozialdemokratischen Fraktion, den Punkt "Vereidigung von Landesministern" von der Tagesordnung abzusetzen, hatte keinen Erfolg.
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II.
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1. Mit dem am 15. November 1967 beim Bundesverfassungsgericht eingegangenen Schriftsatz vom 13. November 1967 hat die Sozialdemokratische Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag, vertreten durch ihre fünf Vorstandsmitglieder, gegen den Schleswig-Holsteinischen Landtag gemäß § 13 Nr. 10 BVerfGG i.V.m. Art. 37 Nr. 1 LS Klage erhoben mit der Begründung, er habe sie durch die Unterlassung der Wahl eines Ministerpräsidenten in ihren Rechten verletzt. Sie trägt vor:
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Die Aktivlegitimation der Antragstellerin und die Passivlegitimation des Antragsgegners ergäben sich aus § 73 Abs. 1 BVerfGG.
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Daß der amtierende Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Dr. Lemke nicht vom Landtag der 6. Wahlperiode als dem "Re ![]() ![]() | |
Wolle man dagegen annehmen, die Landessatzung habe eine von Art. 69 Abs. 2 GG und den entsprechenden Bestimmungen zahlreicher Länderverfassungen abweichende Regelung getroffen, so müsse man darin eine Verletzung der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG erblicken. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates nicht allein in der Landesverfassungsurkunde enthalten; vielmehr wirkten in sie hinein auch Bestimmungen der Bundesverfassung, und erst beide Elemente zusammen machten die Verfassung des Gliedstaates aus. ![]() | |
daß die Ablehnung des Dringlichkeitsantrags der Antragstellerin vom 16. Mai 1967 betreffend Aufnahme des Punktes "Wahl des Ministerpräsidenten" in die Tagesordnung des Antragsgegners - Drucksache Nr. 10 des Schleswig-Holsteinischen Landtages (6. Wahlperiode) -- durch den Beschluß des Antragsgegners vom 16. Mai 1967 und die Unterlassung der Wahl eines Ministerpräsidenten auf Grund dieses Beschlusses gegen Art. 21 Abs. 2 Satz 1 der Landessatzung für Schleswig-Holstein - hilfsweise: gegen Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG - verstoßen.
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2. Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzuweisen.
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Er hält ihn für unzulässig und unbegründet und trägt vor:
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Der Antrag der Sozialdemokratischen Fraktion wäre -- nach der hier analog anwendbaren Vorschrift des § 64 Abs. 1 BVerfGG -- nur zulässig, wenn sie geltend machen könnte, daß ein ihr oder dem Landtag durch die Landessatzung eingeräumtes Recht verletzt worden sei. Weder durch die Ablehnung des Dringlichkeitsantrags betreffend Aufnahme des Punktes "Wahl des Ministerpräsidenten" in die Tagesordnung des Landtages noch durch die Unterlassung der Wahl des Ministerpräsidenten sei die Sozialdemokratische Fraktion aber in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt worden. Ein verfassungsmäßiges Recht darauf, daß ein bestimmter Gegenstand auf die Tagesordnung einer bestimmten Landtagssitzung gesetzt werde, gebe es nicht. Ein Recht zur Wahl des Ministerpräsidenten stehe allenfalls den Abgeordneten des Landtages, keinesfalls aber einer Fraktion als solcher zu. -- Da den Fraktionen durch die Verfassung keine eigenen Rechte eingeräumt seien, könnten sie im Organstreit nur solche des Parlaments geltend machen. Es sei aber begrifflich ausgeschlossen, die Rechte des Parlaments mit einem gegen das Parlament selbst gerichteten Antrag zu verfolgen. Ein Organstreit zwischen einer Landtagsfraktion und dem Landtag sei nicht möglich.
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Im übrigen sei der Antrag der Antragstellerin auch unbegrün ![]() ![]() ![]() ![]() | |
Die Landessatzung verstoße mit dieser Regelung der Amtszeit des Ministerpräsidenten auch nicht gegen allgemein gültige Prinzipien des parlamentarischen Regierungssystems oder gegen Art. 28 GG. In Art. 28 Abs. 1 GG sei lediglich vorgeschrieben, daß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats entsprechen müsse. Die Form des parlamentarischen Regierungssystems sei jedoch nicht vorgeschrieben (BVerfGE 9, 268 [281]).
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3. Die Schleswig-Holsteinische Landesregierung hat sich in demselben Sinn wie der Antragsgegner geäußert.
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Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus Art. 99 GG und § 13 Nr. 10 BVerfGG i.V.m. Art. 37 Nr. 1 LS. In Art. 37 Nr. 1 LS ist -- in Anlehnung an den Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, der die Organstreitigkeiten über die Auslegung des Grundgesetzes betrifft -- bestimmt, daß das Bundesverfassungsgericht entscheidet: über die Auslegung der Landessatzung aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten des Landtages oder der Landesregierung oder anderer Beteiligter, die durch die Landessatzung oder in der Geschäftsordnung des Landtages oder der Landesregierung mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Streitigkeit über den Umfang der Pflichten des Landtages.
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II.
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1. Wie sich aus § 73 Abs. 1 BVerfGG i.V.m. Art. 37 Nr. 1 LS ergibt, ist die Antragstellerin in diesem Verfahren schon deshalb parteifähig, weil sie durch die Geschäftsordnung eines obersten ![]() ![]() | |
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt die Vorschrift des § 64 Abs. 1 BVerfGG sinngemäß auch für Organstreitigkeiten über die Auslegung einer Landesverfassung (BVerfGE 1, 208 [229]; 4, 144 [147 f.]). Der Antrag der Antragstellerin ist also nur dann zulässig, wenn sie geltend machen kann, daß das ihrer Behauptung nach verletzte Recht ein eigenes, ihr nicht etwa nur durch die Geschäftsordnung, sondern durch die Landesverfassung übertragenes Recht sei.
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Nach Art. 21 Abs. 2 LS wird der Ministerpräsident vom Landtag ohne Aussprache gewählt. Die Wahl selbst ist naturgemäß von den Abgeordneten vorzunehmen. Sie bedarf jedoch der Vorbereitung. Insbesondere ist ein Wahlvorschlag erforderlich. Da die Landessatzung eine Aussprache über den Vorschlag ausschließt, ist eine vorherige Klärung in den verschiedenen Gruppen unvermeidlich. Diese für die Durchführung der Wahl unentbehrliche Funktion üben üblicherweise die Fraktionen als die hierfür geeignetsten Organe des Parlaments aus. Die Wahlvorschläge, die im übrigen der Geschäftsordnung des Parlaments genügen müssen, und die Stellungnahmen zu den Wahlvorschlägen sind von ihnen vorzubereiten. Seit Bestehen des Landes Schleswig-Holstein haben auch immer Fraktionen, die allein oder gemeinsam mit andern über die nach der Geschäftsordnung des Landtages erforderliche Anzahl von Abgeordneten verfügten, die Vorschläge für den zu wählenden Ministerpräsidenten gemacht, so für die Landtagssitzung am 5. September 1950 gemäß Art. 30 LS die Fraktion Deutscher Wahlblock, für die Sitzung am 25. Juni 1951 gemäß Art. 21 LS die Fraktion Deutscher Wahlblock, für die Sitzung am 11. Oktober 1954 gemäß Art. 21 LS die Fraktionen der CDU, ![]() ![]() | |
Die Antragstellerin kann in diesem Recht verletzt werden und ist nach ihrer Behauptung durch den Beschluß des Landtages vom 16. Mai 1967 darin auch verletzt worden.
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Der Antrag ist zulässig. Die Frage einer Umdeutung in einen Antrag einzelner Abgeordneter bedarf deshalb keiner Erörterung.
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Diese Entscheidung ist mit 5 gegen 3 Stimmen ergangen.
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Der Antrag ist nicht begründet. Der Beschluß des Antragsgegners vom 16. Mai 1967 verstößt nicht gegen Art. 21 Abs. 2 Satz 1 der Landessatzung für Schleswig-Holstein; er verletzt auch nicht die Grundsätze des Art. 28 Abs. 1 GG für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern.
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I.
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Die Landessatzung läßt sich nicht dahin auslegen, daß die Amtszeit des Ministerpräsidenten begrenzt sein soll. Ihr Wortlaut bietet vielmehr deutliche Anhaltspunkte dafür, daß ein vom Landtag gewählter Ministerpräsident sein Amt weder durch den Ablauf der alten noch durch den Beginn einer neuen Wahlperiode des Landtages verliert.
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1. Daß das Amt des Ministerpräsidenten nicht mit dem Ende der alten Wahlperiode erlischt, folgt aus Art. 18 Abs. 1 LS. Danach bestellt der Landtag "zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Landesregierung ... zwischen der Be ![]() ![]() | |
Aus Art. 18 Abs. 1 LS geht allerdings nicht hervor, daß die Regierung auch über den Zusammentritt des neuen Landtages hinaus im Amt bliebe. Ein Hinweis in dieser Richtung läßt sich aber dem Art. 21 Abs. 4 LS entnehmen. Wenn dort nur für den Fall des -- gemäß Art. 21 Abs. 3 LS jederzeit zulässigen -- freiwilligen Rücktritts des Ministerpräsidenten bestimmt ist, daß er und seine Regierung ihre Geschäfte bis zur Übernahme durch die neugebildete Landesregierung weiterführen, so spricht dies dafür, daß ein sonstiges "Interregnum", bei dem eine Fortführung der Geschäfte durch den bisherigen Ministerpräsidenten und seine Regierung in Betracht käme, nach dem Willen der Verfassung nicht möglich sein soll; m. a. W.: daß das Amt des Ministerpräsidenten -- anders als etwa das des Bundeskanzlers -- mit dem Zusammentritt eines neuen Parlaments nicht erlischt, sondern über den Wechsel der Wahlperiode hinaus bis zum freiwilligen Rücktritt (Art. 21 Abs. 3 LS) oder bis zur Ablösung des Ministerpräsidenten im Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums (Art. 30 LS) fortdauert.
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2. Die Entstehungsgeschichte der Schleswig-Holsteinischen Landessatzung bestätigt diese Auslegung.
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Im Regierungsentwurf einer Landessatzung für Schleswig-Holstein vom 11. Oktober 1949 (Landtagsvorlage Nr. 263/3 für die 26. Tagung des 1. gewählten Schleswig-Holsteinischen Landtages ![]() ![]() ![]() ![]() | |
Die Richtigkeit der Hinweise darauf, daß der Schleswig-Holsteinische Verfassunggeber die Amtszeit der Regierung von der Legislaturperiode unabhängig gestalten wollte, wurde von keinem Abgeordneten bestritten. Dem entsprach auch die seit Inkrafttreten der Landessatzung geübte Praxis; der Schleswig-Holsteinische Landtag hat bisher einmal im Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums und im übrigen nur nach dem freiwilligen Rücktritt des Ministerpräsidenten einen Nachfolger gewählt.
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3. Diese Entscheidung ist mit 5 gegen 3 Stimmen ergangen.
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II.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist "die Verfassung der Gliedstaaten eines Bundesstaates ... nicht in der Landesverfassungsurkunde allein enthalten, sondern in sie hinein wirken auch Bestimmungen der Bundesverfassung. Beide Elemente zusammen machen erst die Verfassung des Gliedstaates aus" (BVerfGE 1, 208 [232]). Zu den gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG für die Länder verbindlichen Grundsätzen des demokrati ![]() ![]() | |
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits früher ausgesprochen, daß das Grundgesetz den Ländern in der Gestaltung ihrer Verfassung im einzelnen Spielraum läßt und nicht Konformität oder Uniformität, sondern nur eine gewisse Homogenität durch Bindung an die leitenden Prinzipien herbeiführen will (BVerfGE 9, 268 [279]). Die Schleswig-Holsteinische Landessatzung hat ein parlamentarisches Regierungssystem eingeführt. Art. 28 Abs. 1 GG fordert nicht, das parlamentarische Regierungssystem in einem Bundesland müsse in allen Einzelheiten der Regelung, die dieses System im Grundgesetz gefunden hat, entsprechen.
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Die Regelung der Schleswig-Holsteinischen Landessatzung verwirklicht das dem parlamentarischen Regierungssystem immanente Prinzip der Abhängigkeit der Regierung vom Parlament in der Form des konstruktiven Mißtrauensvotums. Diese Ausformung hält sich innerhalb des Spielraums, den Art. 28 Abs. 1 GG der Entscheidung der Länder beläßt. Aus dem Grundgesetz ergeben sich infolgedessen keine Bedenken gegen die Schleswig- Holsteinische Landessatzung. Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat durch die Unterlassung der Neuwahl des Ministerpräsidenten nicht gegen Verfassungsrecht verstoßen.
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Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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