BVerfGE 40, 88 - Führerschein | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher, Marcel Schröer | |||
2. Spricht das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer "verfassungskonformen Auslegung" einer Norm des einfachen Rechts aus, daß gewisse an sich mögliche Interpretationen dieser Norm mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, so kann kein anderes Gericht diese Interpretationsmöglichkeiten für verfassungsgemäß halten. |
3. Nichts anderes gilt, wenn auf Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen hin festgestellt worden ist, daß gewisse, sonst vertretbare und mögliche Interpretationen des einfachen Rechts zu einer Grundrechtsverletzung führen. |
Beschluß |
des Zweiten Senats vom 10. Juni 1975 |
-- 2 BvR 1018/74 -- |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Karl M ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Gruß, Voss und Erbar in Walsrode - gegen a) den Beschluß des Landgerichts Traunstein vom 18. November 1974 - 4 Qs 248/74 -, b) den Beschluß des Amtsgerichts Laufen, Außenstelle Bad Reichenhall, vom 25. September 1974 - Cs 112/74 REI -. |
Entscheidungsformel: |
Die Sache wird an das Amtsgericht Laufen zurückverwiesen. |
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: | |
A. -- I. | |
1. Der Beschwerdeführer, ein österreichischer Staatsangehöriger, der seit fünf Jahren in der Bundesrepublik lebt und eine gültige österreichische Fahrerlaubnis besitzt, hatte sein Kraftfahrzeug am 5. April 1974 in der Bundesrepublik geführt, ohne im Besitz einer deutschen Fahrerlaubnis zu sein. Das Amtsgericht Laufen, Außenstelle Bad Reichenhall, erließ deshalb am 28. Mai 1964 gegen den Beschwerdeführer einen Strafbefehl über 1.000 DM, ersatzweise 50 Tage Freiheitsstrafe. Der Strafbefehl wurde am 19. Juli 1974 durch Niederlegung bei der Post zugestellt. Mit einem am 20. August 1974 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Verteidiger legte der Beschwerdeführer Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist. Er ließ vortragen, er sei Erzieher an einer Waldorfschule und habe sich vom 8. Juli bis zum 15. August 1974 im Urlaub in seinem Heimatland Österreich aufgehalten. Die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten oder ein Nachsendeauftrag bei der Post seien für ihn nicht veranlaßt gewesen, weil in seinem Beruf innerhalb der allgemeinen Ferienzeit keine Fristsachen anfallen würden.
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2. Mit dem Beschluß vom 25. September 1974 verwarf das Amtsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig. Der Beschwerdeführer habe einen Wiedereinsetzungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Es sei nicht ausreichend dargetan, daß er sich in Urlaub befunden habe. Im übrigen hätte er Vorsorge treffen müssen, daß ihn gerichtliche Zustellungen auch während eines Urlaubs erreichten, weil er von dem gegen ihn anhängigen Ermittlungsverfahren gewußt habe. Zugleich verwarf das Amtsgericht den Einspruch als unzulässig, weil verspätet.
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3. Die hiergegen erhobene sofortige und einfache Beschwerde, die mit dem Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründet worden war, verwarf das Landgericht Traunstein mit dem Beschluß vom 18. November 1974 als unbegründet. Es trat den Gründen des amtsgerichtlichen Beschlusses bei. Ein Wiedereinsetzungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht worden; insoweit schließe sich die Strafkammer der "überzeugenden Rechtsprechung des Kammergerichts (NJW 1974, 657)" an.
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II. | |
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Amtsgericht und Landgericht hätten die Anforderungen überspannt, die bei Beachtung dieser Grundrechte an die Zulässigkeit eines Wiedereinsetzungsgesuchs gestellt werden dürften.
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III. | |
Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Es hält eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG nicht für gegeben.
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B. | |
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
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I. | |
Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
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1. Der in einem Strafverfahren beschuldigte Bürger ist nicht gehalten, vor den Ermittlungsbehörden zur Sache auszusagen (§ 163a Abs. 3 und 4, § 136 Abs. 1 StPO). Er hat in jedem Fall das Recht, sich vor dem für ihn zuständigen, erkennenden Richter zu verteidigen. Das gehört nach Art. 103 Abs. 1 GG im Strafverfahren zum Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht. Entschließt sich die Anklagebehörde, wovon der Beschuldigte zunächst nichts weiß und worauf er keinen Einfluß hat, nicht Anklage zu erheben, sondern im sogenannten "summarischen Verfahren" den Erlaß eines Strafbefehls zu beantragen, so wird der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht nur durch die Möglichkeit des Einspruchs gegen den Strafbefehl gewährleistet. Wird die Einspruchsfrist versäumt, so hängt die Durchsetzung des Anspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG davon ab, daß dem Beschuldigten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Dieses Rechtsinstitut dient damit in diesen Fällen des "ersten Zugangs" zum Gericht unmittelbar und in stärkerem Maße als sonst der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien (vgl. BVerfGE 38, 35 [38]). Deshalb dürfen in diesem Zusammenhang bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach einer Fristversäumung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten. Das ist ein in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigter Grundsatz (vgl. zuletzt BVerfGE 38, 35 [38] mit weiteren Nachweisen; 40, 42 [44 ff.]).
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2. In Anwendung dieses Grundsatzes hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß derjenige Bürger, der eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend während eines Urlaubs nicht benutzt, für die Zeit seiner Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen treffen muß. Er kann vielmehr darauf vertrauen, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhält, falls ihm während seiner Abwesenheit ein Strafbefehl (oder Bußgeldbescheid) durch Niederlegung bei der Post zugestellt wird und er in Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumt hat. Das gilt auch dann, wenn er weiß, daß gegen ihn ein Ermittlungsverfahren anhängig ist (BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [319]; 34, 154 [156 f.]). Diese Entscheidungen sind zu § 44 Satz 2 StPO in der bis zum 31. Dezember 1974 geltenden Fassung ergangen, die das Amtsgericht und das Landgericht im vorliegenden Fall anzuwenden hatten. Für die Neufassung der Vorschrift durch Art. 1 Nr. 8 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3393) gilt indessen nichts anderes. Die Durchführbarkeit des summarischen Strafverfahrens hängt nach wie vor auch davon ab, daß Ersatzzustellungen vorgenommen werden können. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, daß das Risiko, das in den Unzulänglichkeiten dieses Verfahrens für die Gewährung des rechtlichen Gehörs liegt, und das um der Effektivität der Strafrechtspflege willen hinzunehmen ist, wenigstens dadurch gemildert wird, daß die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was ein Beschuldigter veranlassen muß, um Kenntnis von der Zustellung zu erlangen (vgl. BVerfGE 25, 158 [165 f.]).
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Bereits hiergegen haben das Amtsgericht und durch Bezugnahme auf dessen Gründe auch das Landgericht verstoßen. Der Beschwerdeführer war nicht gehalten, für die Zeit seiner Abwesenheit besondere Vorkehrungen mit Rücksicht auf mögliche Zustellungen in der gegen ihn anhängigen Sache zu treffen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat ferner entschieden, daß § 45 Abs. 1 Satz 1 a.F. StPO nicht dahin ausgelegt werden durfte, daß eine besondere Glaubhaftmachung des geltend gemachten Versäumnisgrundes stets zwingend zur Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs gehöre. Vielmehr kann auch eine "schlichte", d.h. nicht durch weitere "Mittel der Glaubhaftmachung" unterstützte Erklärung eines Antragstellers die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs begründen, wenn ihr infolge einer schlüssigen und erschöpfenden Darstellung eines naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumnisgrundes eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit innewohnt (BVerfGE 38, 35 [39] mit weiteren Nachweisen). Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht einen Urlaub in der allgemeinen Ferienzeit gerechnet (BVerfGE 26, 315 [320]; 37, 100 [103]). Das Amtsgericht und das Landgericht haben gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, weil sie die Darlegungen des Beschwerdeführers im Wiedereinsetzungsgesuch nicht als ausreichend für die Zulässigkeit des Gesuchs erachtet und eine "weitere" Glaubhaftmachung verlangt haben. Es war aktenkundig, daß der Beschwerdeführer österreichischer Staatsbürger, von Beruf Erzieher und daß seine Zustellungsadresse eine Schule war. Der Gesetzesverstoß war an einem Grenzübergang bei der Ausreise nach Österreich festgestellt worden. Die behauptete Urlaubsabwesenheit im Heimatland während der allgemeinen Ferienzeit war unter diesen Umständen ausgesprochen naheliegend und wahrscheinlich.
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3. Soweit das Landgericht unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Kammergerichts vom 2. Januar 1974 (NJW 1974 S. 657 f.) gemeint hat, von den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätzen zur Wiedereinsetzung in Fällen des ersten Zugangs zum Gericht abweichen zu können, verkennt es in verfassungswidriger Weise die Tragweite und Bindungswirkung dieser Rechtsprechung.
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§ 31 BVerfGG bindet alle Gerichte im Geltungsbereich des Gesetzes generell an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Soweit das Bundesverfassungsgericht eine Gesetzesbestimmung für nichtig oder für gültig erklärt, hat seine Entscheidung nach § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft. Aber auch in anderen Fällen entfalten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG eine über den Einzelfall hinausgehende Bindungswirkung insofern, als die sich aus dem Tenor und den tragenden Gründen der Entscheidung ergebenden Grundsätze für die Auslegung der Verfassung von den Gerichten in allen künftigen Fällen beachtet werden müssen (BVerfGE 19, 377 [391 f.]; 20, 56 [87]; 24, 289 [297]).
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§ 31 BVerfGG erkennt den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Bindungswirkung insoweit zu, wie die Funktion des Bundesverfassungsgerichts als maßgeblicher Interpret und Hüter der Verfassung dies erfordert. Die Bindungswirkung beschränkt sich deshalb auf die Teile der Entscheidungsgründe, welche die Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes betreffen. Sie erstreckt sich nicht auf Ausführungen, die nur die Auslegung einfacher Gesetze zum Gegenstand haben. Die Auslegung und Anwendung einfacher Gesetze ist Sache der sachnäheren Fachgerichte. Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht die aus dem Verfassungsrecht sich ergebenden Maßstäbe oder Grenzen für die Auslegung eines einfachen Gesetzes verbindlich zu bestimmen. Spricht das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer "verfassungskonformen Auslegung" einer Norm des einfachen Rechts aus, daß gewisse an sich mögliche Interpretationen dieser Norm mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, so kann kein anderes Gericht diese Interpretationsmöglichkeiten für verfassungsgemäß halten. Alle Gerichte sind vielmehr nach § 31 Abs. 1 BVerfGG an das vom Bundesverfassungsgericht als verbindlicher Instanz in Verfassungsfragen ausgesprochene Verdikt der Verfassungswidrigkeit gebunden. Denn ob vom Bundesverfassungsgericht eine Norm insgesamt für nichtig erklärt oder ob lediglich die durch eine bestimmte Auslegung konkretisierte "Normvariante" als verfassungswidrig qualifiziert wird, kann, was die Bindung der übrigen Gerichte angeht, unter dem Blickpunkt des Gesetzeszweckes des § 31 BVerfGG keinen Unterschied machen. Nichts anderes gilt, wenn -- wie hier -- auf Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen hin festgestellt worden ist, daß gewisse, sonst vertretbare und mögliche Interpretationen des einfachen Rechts zu einer Grundrechtsverletzung führen. In dem einen wie dem anderen Fall sind alle Gerichte durch § 31 BVerfGG gehindert, die verfassungswidrige Normauslegung weiterhin einer Entscheidung zugrunde zu legen. Tun sie es dennoch, so verstoßen sie gegen die in Art. 20 Abs. 3 GG statuierte Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht.
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2. Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind gemäß § 34 Abs. 4 BVerfGG vom Freistaat Bayern zu erstatten.
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C. | |
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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Seuffert v. Schlabrendorff Geiger Hirsch Rinck Rottmann Wand | |
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