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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Johannes Rux, A. Tschentscher | |||
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Beschluß |
des Ersten Senats vom 13. November 1979 |
- 1 BvL 24/77, 19/78 und 38/79 - |
in den Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG - Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse der Arbeitsgerichte Oldenburg vom 7. September 1977 (2 Ca 447/77), Düsseldorf vom 11. Januar 1978 (9 Ca 5398/77) und Hannover vom 9. November 1978 (3 Ca 295/78) -. |
Entscheidungsformel: |
Gründe | |
A. | |
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Vorlagen betreffen die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß einer schwangeren Arbeitnehmerin der besondere Kündigungsschutz des § 9 des Mutterschutzgesetzes - MuSchG - auch dann entzogen wird, wenn sie die Anzeigefrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG nur deshalb versäumt, weil sie ihre Schwangerschaft am letzten Tage der Frist unverschuldet selbst noch nicht kennt, die Anzeige an den Arbeitgeber nach Kenntniserlangung aber unverzüglich nachholt.
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I. | |
1. § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. April 1968 (BGBl I S 315) bestimmt:
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Die Kündigung gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft und bis zum Ablauf von vier Monaten nach der Entbindung ist unzulässig, wenn dem Arbeitgeber zur Zeit der Kündigung die Schwangerschaft oder Entbindung bekannt war oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird.
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Die Rechtsprechung betrachtet die Zweiwochenfrist als echte Ausschlußfrist, deren Versäumung unwiderruflich den Verlust des besonderen Kündigungsschutzes zur Folge hat, und zwar auch dann, wenn die gekündigte Arbeitnehmerin ihre Schwangerschaft am letzten Tage der Frist - zum Beispiel wegen einer Fehldiagnose des Arztes - selbst noch nicht kannte (BAG, Urteil vom 19. Dezember 1968, AP Nr. 29 zu § 9 MuSchG). ![]() | 4 |
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Das Bundesarbeitsgericht begründet seine Auffassung, die Frist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG stelle eine echte Ausschlußfrist dar, mit der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift (BAG, Urteil vom 19. Dezember 1968, AP Nr. 29 zu § 9 MuSchG). Sie zeige, daß der Gesetzgeber die sich bei Annahme einer Ausschlußfrist ergebenden Härten im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bewußt in Kauf genommen habe. Das werde noch dadurch verstärkt, daß eine dem § 5 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) entsprechende - die Wiedereinsetzung vorsehende - Vorschrift im Mutterschutzgesetz nicht enthalten sei. Art. 6 Abs. 4 GG schließe das Recht des Gesetzgebers nicht aus, dem Mutterschutz aus Gründen der Rechtssicherheit bestimmte Grenzen zu setzen; das gelte insbesondere für Kündigungen, bei denen ohnehin nach Möglichkeit jede Unklarheit über ihre Gültigkeit im Interesse beider Parteien vermieden werden sollte. Das Schrifttum hält die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts ganz überwiegend für zutreffend (vgl. zum Beispiel Bulla/Buchner, MuSchG, 4. Aufl. [1976] Rdnrn. 100 bis 102 zu § 9 m.w.N.).
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2. Ein wirksamer Kündigungsschutz für werdende Mütter ![]() ![]() ![]() ![]() | 7 |
3. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 25. Januar 1972 (BVerfGE 32, 273) entschieden, es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß die schwangere Arbeitnehmerin den Kündigungsschutz nach dem Mutterschutzgesetz in den Fällen, in denen dem Arbeitgeber die Schwangerschaft zur Zeit der Kündigung nicht bekannt war, jedenfalls dann verliert, wenn sie trotz Kenntnis der Schwangerschaft die in § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG vorgesehene Mitteilungsfrist schuldhaft versäumt.
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II. | |
1. Vorlage des Arbeitsgerichts Oldenburg - 1 BvL 24/77 -
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Die Klägerin des Ausgangsverfahrens war seit dem 31. März 1971 bei dem beklagten Kaufmann tätig.
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Am 17. Februar 1977 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 31. März 1977. Die unter Regel-Tempo-Störungen leidende Klägerin suchte am 4. März 1977 einen Frauenarzt auf, der aber erst beim Besuch am 11. März 1977 eine Schwangerschaft feststellen konnte. Das teilte die Klägerin ihrem Arbeitgeber am 12. März 1977 unter Vorlage eines ärztlichen Attests mit und widersprach zugleich der Kündigung.
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Der beklagte Arbeitgeber bestritt, daß die Klägerin im Zeit ![]() ![]() | 12 |
2. Vorlage des Arbeitsgerichts Düsseldorf - 1 BvL 19/78 -
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Die Klägerin dieses Ausgangsverfahrens war 1977 seit etwa fünf Jahren bei der beklagten Gesellschaft als Sachbearbeiterin tätig. In der Zeit vom 3. Oktober bis 18. November 1977 war sie krank. Sie erhielt Spritzen, die als Nebenwirkungen Zyklusstörungen verursachten, was der Klägerin bekannt war. Am 8. November 1977 wurde ihr fristgerecht zum 31. Dezember 1977 gekündigt. Die Klägerin suchte am 29. November 1977 einen Frauenarzt auf, weil ihre Zyklusstörungen anhielten. Der Arzt stellte eine Schwangerschaft fest, die zwischen dem 17. und 23. Oktober 1977 eingetreten war. Hiervon unterrichtete die Klägerin ihre Arbeitgeberin am 30. November 1977. Diese berief sich auf die Versäumung der Ausschlußfrist nach § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG. ![]() | 14 |
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3. Vorlage des Arbeitsgerichts Hannover - 1 BvL 38/79 -
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Die Klägerin dieses Ausgangsverfahrens war seit dem 1. April 1977 bei der beklagten Gesellschaft angestellt. Ihr Arbeitsverhältnis wurde von der Arbeitgeberin mit Schreiben vom 25. April 1978 zum 30. Juni 1978 fristgerecht gekündigt. Am 30. Mai 1978 erfuhr die Klägerin, daß sie schwanger war. Der behandelnde Frauenarzt bescheinigte die Schwangerschaft am 30. Mai 1978 und benannte als rechnerischen Geburtstermin den 23. Januar 1979. Die Klägerin teilte dies sofort ihrer Arbeitgeberin mit und wandte sich vergeblich gegen die ausgesprochene Kündigung. Die Arbeitgeberin berief sich auf die Ausschlußfrist.
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Das Arbeitsgericht hält § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG insoweit für verfassungswidrig, als die Zweiwochenfrist auch dann eingreife, wenn der schwangeren Arbeitnehmerin die Schwangerschaft am letzten Tag der Frist noch nicht bekannt gewesen sei und sie dem Arbeitgeber die Schwangerschaft nach Kenntniserlangung unverzüglich mitteile. Dies sei mit Art. 6 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
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III. | |
1. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat namens der Bundesregierung darauf hingewiesen, daß die Ausschlußfrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG in Einzelfällen zu Härten führen könne. Das ließe sich durch Einführung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder durch eine Ver ![]() ![]() | 19 |
2. a) Das Bundesarbeitsgericht hat auf seine ständige Rechtsprechung verwiesen (vgl. A I 1) und die Vereinbarkeit der zu prüfenden Vorschriften mit Art. 6 Abs. 4 GG bejaht.
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b) Der Dritte Senat des Bundessozialgerichts hat auf seine Rechtsprechung zum Ablauf von Ausschlußfristen zu Lasten öffentlich-rechtlicher Rechtsträger Bezug genommen (BSGE 19, 173; 20, 46; 25, 76). Die genannten Entscheidungen gehen von einer Hemmung des Laufes der Ausschlußfrist bei Geschäftsunfähigkeit des Anspruchsberechtigten aus. Der Senat hat ferner dargelegt, das Bundessozialgericht habe den Anwendungsbereich von Ausschlußfristen auch schon enger eingegrenzt, als es der Wortlaut der betreffenden Vorschrift nahegelegt habe (BSGE 14, 246). Hinsichtlich der Ausschlußfrist des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG erscheine eine vergleichbare Einschränkung auch unter Würdigung der Interessen des Arbeitgebers an einer möglichst baldigen Klarheit über die Wirksamkeit der Kündigung vertretbar. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, nach der auch die Mitteilung einer nur möglichen Schwangerschaft die Frist wahre, sei aber eine schuldlose Versäumung der Frist kaum denkbar.
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c) Der Zweite und der Sechste Senat des Bundesverwaltungsgerichts haben im Hinblick auf Art. 6 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Bedenken geäußert. ![]() | 22 |
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Die Vorlagen sind zulässig.
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Allerdings bedürfen die Vorlagen der Arbeitsgerichte Oldenburg und Hannover der Einschränkung. Aus beiden Vorlagebeschlüssen ist ersichtlich, daß die vorlegenden Gerichte von einer unverschuldeten Unkenntnis der Schwangerschaft bei Ablauf der Zweiwochenfrist ausgehen. Somit ist in beiden Ausgangsverfahren die vorgelegte Rechtsfrage - wie in der Vorlage des Arbeitsgerichts Düsseldorf bereits geschehen - dahin einzuschränken, daß die Verfassungsmäßigkeit der in § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG vorgesehenen Fristenregelung nur für den Fall zu überprüfen ist, daß diese Frist unverschuldet versäumt und die Mitteilung unverzüglich nachgeholt wird.
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C. | |
§ 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG ist in dem zur Nachprüfung stehenden Umfang nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.
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I. | |
Prüfungsgegenstand ist § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG in der Auslegung, die das Bundesarbeitsgericht dieser Norm gegeben hat und die deshalb der Rechtsprechung auch der vorlegenden Gerichte zugrunde liegt (vgl. A I 1).
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Insoweit verstößt § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG gegen Art. 6 Abs. 4 GG. Diese Bestimmung enthält den bindenden Auftrag an den Gesetzgeber, jeder Mutter Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft angedeihen zu lassen. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat, erstreckt sich dieser Verfassungsauftrag insbesondere auf den Schutz der werdenden Mutter (BVerfGE 32, 273 [277]). Dem trägt § 9 MuSchG durch das prinzipielle Verbot der Kündigung einer werdenden Mutter Rechnung. Dabei ist es nicht zu vermeiden, daß der besondere Schutz der werdenden Mutter eine entsprechende Einschränkung der Interessen des Arbeitgebers mit sich bringt. Es kann deshalb Fälle geben, in denen ein absoluter Kündigungsschutz auch bei voller Würdi ![]() ![]() | 27 |
Hinzu kommt, daß es sich bei den in Frage stehenden Fällen nur um eine ganz geringe Anzahl handeln kann. Denn im Normalfall ist dem Arbeitgeber die Schwangerschaft bereits nach § 5 MuSchG bekannt geworden, so daß eine wirksame Kündigung schon deshalb ausscheidet. War aber die Schwangerschaft dem Arbeitgeber nicht bekannt, weil zum Beispiel die Arbeitnehmerin dem Gebot des § 5 MuSchG, ihren Zustand dem ![]() ![]() | 28 |
Im übrigen schließt auch die vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Rechtsprechung zu § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit nicht aus. Denn danach genügt die fristgerechte Anzeige der bloß vermuteten oder möglichen Schwangerschaft zur Erhaltung des besonderen Kündigungsschutzes (BAG, Urteil vom 5. Mai 1961, AP Nr. 23 zu § 9 MuSchG). Auch hier bleibt ungewiß, ob die Kündigung das Arbeitsverhältnis aufgelöst hat, bis über das Bestehen oder Nichtbestehen der Schwangerschaft Klarheit geschaffen ist. Der Nachweis der Schwangerschaft braucht von der Arbeitnehmerin erst innerhalb einer angemessenen Frist nach Aufforderung durch den Arbeitgeber erbracht zu werden (BAG, Urteil vom 23. Mai 1969, AP Nr. 30 zu § 9 MuSchG). Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 6. Juni 1974 (AP Nr. 3 zu § 9 MuSchG) ist sogar ein späterer Nachweis möglich. In der Praxis kann das aber nur bedeuten, daß ein zusätzliches Maß an Rechtssicherheit bei Beachtung dieses vom Bundesarbeitsgericht eingeschlagenen Verfahrens nur dann möglich wird, wenn die Arbeitnehmerin von dieser von der Rechtsprechung entwickelten Möglichkeit der Mitteilung einer nur vermuteten Schwangerschaft - etwa aus Unkenntnis - wenig oder keinen Gebrauch ![]() ![]() | 29 |
II. | |
Da die zur Prüfung gestellte Vorschrift in der Auslegung, die ihr die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts gegeben hat, bereits wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 4 GG mit dem Grundgesetz nicht in Einklang steht, kann es dahinstehen, ob diese Vorschrift noch mit weiteren Verfassungsnormen unvereinbar ist.
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III. | |
Eine Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung bietet sich nicht. Aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG läßt sich nur entnehmen, daß die Kündigung gegenüber einer Frau während der Schwangerschaft unwirksam ist, wenn die Schwangerschaft dem Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung bekannt ist oder innerhalb zweier Wochen nach Zugang der Kündigung mitgeteilt wird. Nach diesem eindeutigen Wortlaut kommt es nicht darauf an, aus welchen Gründen trotz vorliegender Schwangerschaft eine solche Mitteilung unterbleibt. Der Wortlaut der Vorschrift verlangt auch eindeutig die Erklärung innerhalb der Zweiwochenfrist, ohne irgendwelche Ausnahmen vorzusehen. Das entspricht auch dem Willen des Gesetzes, denn andernfalls wäre es unerklärlich, warum eine dem § 5 KSchG ![]() ![]() | 31 |
Die Überlegungen des Bundessozialgerichts (vgl. A III 2b) führen zu keinem anderen Ergebnis, weil die darin enthaltenen Rechtsgedanken auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar sind.
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Benda Böhmer Simon Faller Hesse Katzenstein Niemeyer Heußner![]() | |
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