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Zitiert durch:
BVerfGE 159, 105 - Bundestagswahl 2021
BVerfGE 135, 259 - Drei-Prozent-Sperrklausel Europawahl
BVerfGE 129, 300 - Fünf-Prozent-Sperrklausel EuWG
BVerfGE 124, 1 - Nachwahl
BVerfGE 123, 267 - Lissabon
BVerfGE 123, 39 - Wahlcomputer
BVerfGE 121, 266 - Landeslisten
BVerfGE 120, 82 - Sperrklausel Kommunalwahlen
BVerfGE 103, 111 - Wahlprüfung Hessen
BVerfGE 99, 1 - Bayerische Kommunalwahlen
BVerfGE 96, 231 - Müllkonzept
BVerfGE 95, 408 - Grundmandatsklausel
BVerfGE 95, 335 - Überhangmandate II
BVerfGE 93, 373 - Gemeinderat
BVerfGE 89, 291 - Wahlprüfungsverfahren
BVerfGE 89, 266 - Unabhängige Arbeiterpartei
BVerfGE 89, 243 - Kandidatenaufstellung


Zitiert selbst:
BVerfGE 59, 119 - Briefwahl II
BVerfGE 48, 64 - Inkompatibilität/Kommunal beherrschtes Unternehmen
BVerfGE 41, 399 - Wahlkampfkostenpauschale
BVerfGE 40, 11 - Wahlprüfung
BVerfGE 34, 81 - Wahlgleichheit
BVerfGE 12, 73 - Inkompatibilität/Kommunalbeamter
BVerfGE 4, 370 - Mandatsrelevanz


A. -- I.
II.
III.
IV.
B. -- I.
II.
1. a) Aus dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl folgt, daß  ...
2. Bei Anlegung dieser Maßstäbe wird das angegriffene  ...
3. Die mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit unvereinbare Auffassu ...
III.
C.
Bearbeitung, zuletzt am 08.12.2022, durch: A. Tschentscher, Jens Krüger
BVerfGE 85, 148 (148)1. Bei der Ausgestaltung der vom Grundsatz der Wahlgleichheit gebotenen Wahlprüfung kann auch berücksichtigt werden, daß die richtige Zusammensetzung der Volksvertretung binnen angemessener Zeit geklärt werden soll. Im Hinblick darauf ist eine Beschränkung der Wahlprüfung durch Einführung formeller Voraussetzungen nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil sie den Grundsatz der Wahlgleichheit berührt.
 
2. a) Die durch einen zulässigen, insbesondere substantiierten Einspruch eröffnete Wahlprüfung darf nicht in einer Weise beschränkt werden, daß sie ihren Zweck, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlaments sicherzustellen, nicht erreichen kann.
 
b) Werden in einem solchen Einspruch Verfahrensfehler bei der Stimmenauszählung in einigen Stimmbezirken beanstandet und bestätigen sie sich bei einer Überprüfung, so kann es geboten sein, die Stimmen in allen Stimmbezirken nachzuzählen, aus denen sich das beanstandete Wahlergebnis errechnet.
 
 
Beschluß
 
des Zweiten Senats vom 12. Dezember 1991
 
-- 2 BvR 562/91 --  
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn M .. -- Bevollmächtigte: Prof. Dr. Ulrich Battis, Rummenohler Straße 91, Hagen und Rechtsanwalt Dr. D. Haak, Hohenzollernstraße 2, Hagen 1 -- gegen das Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1991 -- VerfGH 10/90 -.
 
Entscheidungsformel:
 
Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1991 -- VerfGH 10/90 -- verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
 
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.BVerfGE 85, 148 (148)
 
 
BVerfGE 85, 148 (149)Gründe:
 
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage nach dem Umfang der Wahlprüfung, wenn mit dem gegen ein knappes Wahlergebnis in einem Wahlkreis gerichteten Wahleinspruch Verfahrensfehler bei der Stimmenauszählung hinsichtlich einzelner Stimmbezirke des Wahlkreises substantiiert gerügt sind.
 
A. -- I.
 
Das Gesetz zur Prüfung der Wahlen zum Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20. November 1951 (GS NW S. 58/SGV NW 1110 - WahlPrüfG NW) bestimmt in § 1 Abs. 1, daß eine Prüfung der Gültigkeit der Wahlen zum Landtag nur auf Einspruch stattfindet. Einspruchsberechtigt sind nach § 3 WahlPrüfG NW jeder Wahlberechtigte, jede in einem Wahlkreis mit einem Wahlvorschlag aufgetretene Partei, der Präsident des Landtags sowie der Landeswahlleiter. Nach § 2 Abs. 1 WahlPrüfG NW ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach der Bekanntmachung des Wahlergebnisses einzulegen und zu begründen.
II.
 
Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 13. Mai 199O war der Beschwerdeführer Wahlbewerber der SPD im Wahlkreis 151 - Märkischer Kreis IV -. Nach dem vom Kreiswahlleiter bekanntgemachten Wahlergebnis wurde in dem Wahlkreis mit knapper Mehrheit die Bewerberin der CDU gewählt. Für sie wurden 25.753, für den Beschwerdeführer 25.730 Stimmen, also nur 23 Stimmen weniger, gezählt.
Gegen die Gültigkeit der Wahl im Wahlkreis 151 erhob eine Wahlberechtigte Einspruch. Sie beantragte, "die Überprüfung der Wahl im Landtagswahlkreis Nr. 151 - Märkischer Kreis IV - zu veranlassen, gegebenenfalls das Wahlergebnis neu festzustellen sowie über die Gültigkeit der Wahl im obengenannten Wahlkreis zu befinden". Den Antrag begründete die Einspruchsführerin mit einer Reihe von Beanstandungen, die sich auf verschiedene, im einzelnen benannte Stimmbezirke des Wahlkreises bezogen. Für zehnBVerfGE 85, 148 (149)BVerfGE 85, 148 (150) der insgesamt mehr als achtzig Stimmbezirke des Wahlkreises machte sie dabei unter Angabe konkreter Tatsachen geltend, daß die Auszählung der Stimmen nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Da nach der Lebenserfahrung mit ähnlichen Vorkommnissen in weiteren Stimmbezirken des Wahlkreises zu rechnen und der Stimmenabstand zwischen den Bewerbern von SPD und CDU im Wahlkreis 151 extrem gering sei, müsse die Gültigkeit der Wahl im gesamten Wahlkreis überprüft werden.
Die Beanstandungen der Einspruchsführerin erwiesen sich teilweise als berechtigt. Bei den vom Wahlprüfungsausschuß des Landtags veranlaßten Ermittlungen wurde festgestellt, daß in acht Stimmbezirken Vorschriften der Landeswahlordnung über die Stimmenauszählung verletzt worden waren. Im Hinblick darauf faßte der Wahlprüfungsausschuß am 11. September 1990 einstimmig den Beschluß, alle im Wahlkreis 151 abgegebenen Stimmen neu zu zählen. Von einer Beschränkung der Neuauszählung auf die Stimmbezirke, in denen Verstöße gegen Wahlrechtsvorschriften bei der Stimmenauszählung gerügt und festgestellt worden waren, sah der Wahlprüfungsausschuß ab, um Zweifel an der Richtigkeit des Wahlergebnisses in diesem Wahlkreis endgültig auszuräumen.
Die Nachzählung wurde auf Veranlassung des mit ihr beauftragten Kreiswahlleiters durch Bedienstete der in dem Wahlkreis gelegenen Städte durchgeführt. Eine Unterrichtung der Öffentlichkeit über die Nachzähltermine unterblieb. Ausweislich der vom Stadtdirektor in Neuenrade gefertigten Niederschrift wurde bei der in seiner Gegenwart mehrfach und in wechselnden Zählgruppen durchgeführten Nachzählung festgestellt, daß im Stimmbezirk 1 der Stadt bei der Zählung am Wahlabend 93 für den Beschwerdeführer abgegebene Stimmen für die Bewerberin der CDU gezählt worden waren. Bezogen auf diesen Stimmbezirk hatte die Einspruchsführerin keine Wahlmängel beanstandet.
Aufgrund des ihm mitgeteilten Ergebnisses der Nachzählung stellte der Landtag, der damit der Empfehlung des Wahlprüfungsausschusses folgte, mit Beschluß vom 20. September 1990 das Wahlergebnis rechnerisch richtig. Gleichzeitig stellte er fest, daßBVerfGE 85, 148 (150)BVerfGE 85, 148 (151) im Wahlkreis 151 der Beschwerdeführer gewählt sei und die Bewerberin der CDU ihren Sitz verliere.
Gegen den Beschluß des Landtags legte die Bewerberin der CDU im Wahlkreis 151 Beschwerde zum Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen ein. Die Anordnung der Nachzählung durch den Wahlprüfungsausschuß sei rechtswidrig gewesen, weil die Überprüfung des Wahlergebnisses sich auf die Vorgänge hätte beschränken müssen, die im Einspruch geltend gemacht worden seien. Bei der Durchführung der Nachzählung sei zudem gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit verstoßen worden.
Der Verfassungsgerichtshof hob den Beschluß des Landtags mit Urteil vom 19. März 1991 auf. Er erklärte die Landtagswahl im Wahlkreis 151 für gültig und wies den Einspruch im wesentlichen zurück.
Der Beschluß des Landtags sei rechtswidrig, weil der Wahlprüfungsausschuß die Nachzählung nicht auf den gesamten Wahlkreis 151 hätte erstrecken dürfen, sondern auf die Stimmbezirke hätte beschränken müssen, in denen nach den Ermittlungen des Wahlprüfungsausschusses die Stimmenzählung am Wahlabend entsprechend den Beanstandungen der Einspruchsführerin unter Verletzung von Vorschriften der Landeswahlordnung durchgeführt worden und die Richtigkeit der Ergebnisermittlung nicht gewährleistet sei. Das sei in vier Stimmbezirken der Fall.
Nach § 1 Abs. 1 WahlPrüfG NW finde eine Prüfung der Gültigkeit von Wahlen zum Landtag nur auf Einspruch statt, der fristgebunden und zu begründen sei (§ 2 Abs. 1 WahlPrüfG NW). Die Begründung müsse nach ständiger Rechtsprechung mindestens den Tatbestand erkennen lassen, auf den die Anfechtung gestützt werde, und genügend substantiierte Tatsachen enthalten. Da die Wahlprüfung nicht von Amts wegen und in bezug auf die gesamte Wahl, sondern nur auf einen begründeten Einspruch hin erfolge, bestimme der Umfang der von einem Einspruchsführer geleisteten Substantiierung zugleich den Umfang der von den zuständigen Organen durchzuführenden Wahlprüfung. Bleibe die Substantiierung hinter dem erkennbaren Einspruchsziel zurück, so seien die WahlBVerfGE 85, 148 (151)BVerfGE 85, 148 (152)prüfungsorgane auf den Prüfungsumfang beschränkt, der sich aus der fristgemäß erfolgten Substantiierung ergebe.
In dieser Sache lasse sich der Einspruchsschrift zwar entnehmen, daß die Einspruchsführerin eine Überprüfung des Wahlergebnisses im gesamten Wahlkreis 151 begehre. Hinreichend substantiiert sei der Einspruch aber nur für die im einzelnen bezeichneten Stimmbezirke, für die die Einspruchsführerin mit konkreten Beanstandungen die Verletzung von Vorschriften über die Stimmenauszählung gerügt habe. Auf andere Stimmbezirke beziehe sich die Begründung des Einspruchs nur durch die "Befürchtung ähnlicher Vorkommnisse". Dabei handele es sich aber nur um eine nicht durch konkrete Tatsachen belegte Vermutung.
An die abweichende Bewertung des Landtags, die Einspruchsführerin habe die Fehlerhaftigkeit der Stimmenauszählung für den gesamten Wahlkreis substantiiert gerügt, sei der Verfassungsgerichtshof nicht gebunden. Ein Beurteilungsspielraum oder ein Ermessen stehe dem Landtag bei der Bestimmung des Prüfungsgegenstandes nicht zu. Die Annahme eines solchen Spielraums widerspreche unter anderem auch dem im Wahlrecht aus guten Gründen herrschenden formalen Rechtsverständnis. In den Grundsätzen der Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl dokumentiere sich der formale Charakter der Demokratie des Grundgesetzes und der Landesverfassung. Zur Gewährleistung dieser beiden für die Demokratie wesentlichen Grundsätze verfüge das Wahlrecht über zahlreiche Form- und Verfahrensvorschriften, deren strenge Beachtung keine unnötige Förmelei darstelle, sondern im Dienst des bedeutendsten Akts der Machtausübung durch das Volk selbst stehe.
Eine Ausnahme vom Substantiierungserfordernis, die dem Landtag oder dem Verfassungsgerichtshof eine Ausdehnung der Wahlprüfung über die im einzelnen gerügten Stimmbezirke hinaus erlaubte, sei auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Wahlprüfungsverfahrens nicht zuzulassen. Das Wahlprüfungsrecht stehe in einem Spannungsverhältnis zwischen der Gewährleistung der richtigen Besetzung des Parlaments einerseits und der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments andererseits. Durch das Substantiierungsgebot hätten Gesetzgeber und verfassungsgerichtBVerfGE 85, 148 (152)BVerfGE 85, 148 (153)liche Rechtsprechung in geeigneter Weise einen Ausgleich zwischen diesen Interessen hergestellt. Es leiste einen wesentlichen Beitrag zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der obersten Staatsorgane. Im Zusammenhang mit den Fristvorschriften bewirke es eine erhebliche Beschleunigung des Wahlprüfungsverfahrens und trage so maßgeblich dazu bei, daß dem öffentlichen Interesse an einer alsbaldigen Klärung der Gültigkeit der Wahl entsprochen werden könne. In einer Demokratie, in der die Mandate auf Zeit vergeben würden, erkläre sich dieses Interesse bereits aus der zeitlichen Beschränkung jedes einzelnen Mandats.
Keiner abschließenden Klärung bedürfe, ob bei offensichtlichen Wahlfehlern eine Ausnahme von dem Substantiierungsgebot zu machen sei. Ein offensichtlicher Wahlfehler liege nämlich nicht vor; die bei der Nachzählung im Stimmbezirk 1 der Stadt Neuenrade getroffenen Feststellungen rechtfertigten die Bewertung als offensichtlich nicht, weil sie unter Verstoß gegen das Gebot der Öffentlichkeit zustande gekommen seien. Die Anerkennung einer Ausnahme könne zudem allenfalls dann in Betracht gezogen werden, wenn der betreffende Wahlfehler - anders als hier - noch innerhalb der Frist zur Einlegung und Begründung des Einspruchs offensichtlich geworden sei.
Der Beschluß des Landtags sei auch deshalb aufzuheben, weil er auf Ergebnissen beruhe, die in einer nichtöffentlichen Nachzählung gewonnen worden seien. Die Öffentlichkeit der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung gehörten zu den Grunderfordernissen einer demokratischen Wahl. Bei der vom Wahlprüfungsausschuß des Landtags veranlaßten Nachzählung im Wahlkreis 151 sei die Öffentlichkeit mangels öffentlicher Bekanntmachung des Nachzähltermins nicht gewahrt worden.
Erweise sich die Entscheidung des Landtags, das Ergebnis der in allen Stimmbezirken durchgeführten Nachzählung zu berücksichtigen, damit als rechtswidrig, so hätte in den Stimmbezirken, für die die Einspruchsführerin substantiiert und zu Recht Verfahrensfehler bei der Stimmenauszählung beanstandet habe, durch eine erneute - öffentliche - Nachzählung festgestellt werden müssen, ob diese gerügten Mängel die Verteilung der Sitze beeinflußt hätten. DieBVerfGE 85, 148 (153)BVerfGE 85, 148 (154) Wiederholung der Nachzählung sei ungeachtet der vorausgegangenen - unter Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz erfolgten - Überprüfung möglich gewesen und habe dem Verfassungsgerichtshof obgelegen. Da bei der Nachzählung lediglich eine für die Sitzverteilung unerhebliche Abweichung von dem am 13. Mai 1990 ermittelten Ergebnis festgestellt worden sei, habe die Entscheidung des Landtags aufgehoben werden müssen.
III.
 
Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der Verfassungsgerichtshof habe unter Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und damit auch gegen sein - des Beschwerdeführers - Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG einen mandatserheblichen Mangel bei der Feststellung des Wahlergebnisses unberücksichtigt gelassen.
Das formelle Wahlprüfungsrecht müsse die Gleichheit der Wahl in dem Maße sicherstellen, daß festgestellte Verstöße, soweit sie Auswirkungen auf die gesetzmäßige Zusammensetzung des Parlaments hätten, ausgeräumt werden könnten. Eine diesen Erfordernissen nicht entsprechende Auslegung und Anwendung des formellen Wahlprüfungsrechts könne selbst einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, mithin auch gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden allgemeinen Gleichheitssatz enthalten.
Das angegriffene Urteil beruhe auf einer solchen fehlerhaften Auslegung und Anwendung des formellen Wahlprüfungsrechts des Landes Nordrhein-Westfalen, insbesondere des § 2 Abs. 1 WahlPrüfG NW.
Dem Verfassungsgerichtshof sei allerdings darin zuzustimmen, daß der Wahlprüfungsausschuß seine Anordnung, die Stimmen nachzuzählen, mangels substantiierten Einspruchs nicht auf den Stimmbezirk 1 der Stadt Neuenrade hätte erstrecken dürfen. Der danach aufgrund unzulässiger Nachzählung festgestellte Fehler in der Ergebnisermittlung habe vom Landtag bei seiner Schlußentscheidung aber berücksichtigt werden müssen oder zumindest beBVerfGE 85, 148 (154)BVerfGE 85, 148 (155)rücksichtigt werden dürfen. Es sei Aufgabe des Wahlprüfungsverfahrens, die Wahlen als den bedeutendsten Akt der Machtausübung durch das Volk zu schützen und bei Wahlfehlern die Durchsetzung des wirklichen Wählerwillens zu ermöglichen. Die verfahrensrechtlichen Regelungen müßten diesem Verfahrensziel dienen. Form- und Fristerfordernisse bedürften einer besonderen Rechtfertigung. Diese könne sich aus dem ebenfalls bedeutsamen Interesse an der Funktionsfähigkeit des gewählten Organs ergeben. Eine verfahrensrechtliche Regelung, die bewirke, daß eine erkennbar falsche Zusammensetzung des Parlaments allein aus formellen Gründen hingenommen werde, also ohne daß das Interesse an der Funktionsfähigkeit dieses verlangte, sei mit der Bedeutung der Wahlen im demokratischen, parlamentarisch-repräsentativen Rechtsstaat nicht zu vereinbaren.
Gemessen daran begegne das nordrhein-westfälische Wahlprüfungsrecht verfassungsrechtlichen Bedenken. Es erscheine verfehlt, wenn der Verfassungsgerichtshof darauf verweise, daß es dem Landesgesetzgeber freistehe, dem Präsidenten des Landtags in Anlehnung an die Regelung in § 2 Abs. 4 Satz 2 des die Bundestagswahlen betreffenden Wahlprüfungsgesetzes eine längere Einspruchsfrist einzuräumen. Mit Blick auf den Zweck des verfassungsrechtlich verankerten Wahlprüfungsverfahrens sei der nordrhein-westfälische Gesetzgeber verpflichtet, das formelle Wahlprüfungsrecht durch Bestimmungen zu ergänzen, die bei schwerwiegenden mandatsrelevanten Wahlfehlern eine Wahlprüfung auch dann ermöglichten, wenn die Mängel erst nach Ablauf der Monatsfrist für den Einspruch bekannt würden.
Solange der Gesetzgeber nicht in diesem Sinne tätig geworden sei, müsse der geltende § 2 Abs. 1 WahlPrüfG NW so ausgelegt und angewandt werden, daß die darin enthaltenen Fristbestimmungen und Begründungserfordernisse den Zweck der Wahlprüfung nicht übermäßig beeinträchtigten. Diesem Anliegen werde das angegriffene Urteil nicht gerecht. Obwohl im Wahlprüfungsverfahren ein schwerwiegender mandatserheblicher Wahlfehler bekannt geworden sei, halte der Verfassungsgerichtshof dessen Korrektur für unzulässig, weil er nicht vor Ablauf der Begründungspflicht gerügtBVerfGE 85, 148 (155)BVerfGE 85, 148 (156) worden sei. Eine sachliche Rechtfertigung für diese Beschränkung des Umfangs der Wahlprüfung gebe es nicht. Sie sei insbesondere nicht im Interesse der Funktionsfähigkeit des Landtags und damit einhergehend der Beschleunigung des Wahlprüfungsverfahrens geboten. Durch die Berücksichtigung des richtigen Wahlergebnisses in den Stimmbezirken der Stadt Neuenrade bei der Schlußentscheidung des Landtags wäre nämlich eine Verzögerung des Verfahrens nicht eingetreten.
Die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes hätte im Beschwerdeverfahren durch eine erneute Nachzählung, wie sie der Verfassungsgerichtshof auch für andere Stimmbezirke durchgeführt habe, geheilt werden können. Dazu sei das Gericht mit Rücksicht auf den Zweck der Wahlprüfung auch verpflichtet gewesen.
IV.
 
In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden: dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Landtag Nordrhein-Westfalen, der Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Landeswahlleiter Nordrhein- Westfalen, der Einspruchsführerin, der Beschwerdeführerin des Verfahrens vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen und den Wahlbewerbern, die bei Wiederherstellung der Entscheidung des Landtags über den Einspruch aufgrund der Erhöhung der Zahl der Landtagssitze gemäß § 33 Abs. 4 Satz 2 WahlG NW zusätzlich aus der Landesreserveliste gewählt sein könnten.
Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen hat den mit dem angegriffenen Urteil aufgehobenen Beschluß des Landtags verteidigt. Die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens ist der Verfassungsbeschwerde entgegengetreten.
Die Präsidenten der Wahlprüfungsgerichte und Verfassungsgerichtshöfe der Bundesländer haben auf Anfrage und Bitte um Stellungnahme im allgemeinen nur mitgeteilt, daß die Gerichte mit den von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Rechtsfragen noch nicht befaßt worden seien. Der Präsident des Hessischen VerwalBVerfGE 85, 148 (156)BVerfGE 85, 148 (157)tungsgerichtshofs hat - als Vorsitzender des Wahlprüfungsgerichts beim Hessischen Landtag - darüber hinaus mitgeteilt, daß die vom Wahlprüfungsausschuß vorgenommene Erstreckung der Nachprüfung auf den gesamten Wahlbezirk die durch das Substantiierungsgebot gesetzten Grenzen nach seiner Auffassung überschreite und deswegen unzulässig sei.
 
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Dies ergibt sich bei Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung aus den in der Entscheidung des Senats vom 11. Oktober 1972 (BVerfGE 34, 81 [92 ff.]) dargelegten Gründen.
 
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1991 verletzt den Beschwerdeführer in seinem in Art. 3 Abs. 1 GG mitgewährleisteten Grundrecht der Wahlrechtsgleichheit.
1. a) Aus dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl folgt, daß jedermann sein aktives und passives Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können soll (BVerfGE 12, 73 [77]; 34, 81 [98]; 41, 399 [413]; 48, 64 [81]).
Dementsprechend hat jeder Wahlbewerber nach dem Grundsatz der Wahlgleichheit Anspruch darauf, daß die für ihn gültig abgegebenen Stimmen bei der Ermittlung des Wahlergebnisses für ihn berücksichtigt und mit gleichem Gewicht gewertet werden wie die für andere Bewerber abgegebenen Stimmen. Der Bewerber um das Mandat in einem Wahlkreis, der die im Wahlgesetz vorgesehene Stimmenmehrheit erringt, erhält das Mandat.
Dem Grundsatz der Wahlgleichheit - speziell dem des gleichen Zählwertes aller abgegebenen Stimmen - wird der Gesetzgeber nicht schon dadurch gerecht, daß er bei der Ausgestaltung des Wahlsystems von Regelungen absieht, die einen unterschiedlichen Zählwert der abgegebenen Stimmen vorsehen oder im Ergebnis zurBVerfGE 85, 148 (157)BVerfGE 85, 148 (158) Folge haben. Gefahren drohen dem Anspruch des Wahlbewerbers auf Wahlgleichheit auch durch Wahlfälschungen und - mehr noch - durch ungewollte Fehler bei der Stimmenauszählung und Ermittlung des Wahlergebnisses. Auch dann, wenn die für einen Wahlbewerber gültig abgegebenen Stimmen nicht sämtlich als gültig bewertet oder nicht sämtlich für ihn gezählt werden, können - insbesondere bei knappem Wahlausgang - der Grundsatz der Wahlgleichheit und damit das Grundrecht des Wahlbewerbers aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein.
Das Risiko einer durch Zählfehler bedingten unrichtigen Ermittlung des Wahlergebnisses ist erfahrungsgemäß nicht unbeträchtlich. Von daher ist der Wahlgesetzgeber mit Rücksicht auf den Grundsatz der Wahlgleichheit auch gehalten, durch geeignete Regelungen den typischen Ursachen von Zählfehlern entgegenzuwirken.
b) Auch solche Regelungen können keinen vollkommenen Schutz davor bieten, daß das Wahlergebnis von den zuständigen Wahlorganen im Einzelfall gleichwohl nicht zutreffend ermittelt wird und die Sitzverteilung den Wählerwillen nicht widerspiegelt. Der Wahlgesetzgeber muß in Rechnung stellen, daß den Wahlorganen in Einzelfällen Zählfehler - unter Umständen auch mandatsrelevante Zählfehler - unterlaufen. Er hat deshalb ein Verfahren zu schaffen, das es erlaubt, Zweifeln an der Richtigkeit der von den Wahlorganen vorgenommenen Stimmenauszählung nachzugehen und erforderlichenfalls das Wahlergebnis richtigzustellen sowie die Sitzverteilung zu korrigieren.
Das verlangt nicht nur das aus dem Demokratieprinzip folgende Gebot einer dem Wählerwillen entsprechenden Sitzverteilung, sondern zugleich auch das Recht von Wahlberechtigten und Wahlbewerbern auf Wahlgleichheit. Die danach gebotene Einrichtung einer Wahlprüfung, die sich auch auf die Ermittlung des Wahlergebnisses erstreckt, sehen das Grundgesetz (in Artikel 41) und die Verfassungen der Bundesländer (die nordrhein-westfälische Verfassung in Artikel 33) ausdrücklich vor. Die Wahlprüfungsverfahren dienen der Gewährleistung der gesetzmäßigen Zusammensetzung des Parlaments. Dementsprechend können grundsätzlich nurBVerfGE 85, 148 (158)BVerfGE 85, 148 (159) solche festgestellten Gesetzesverletzungen zu Eingriffen der Wahlprüfungsinstanzen führen, die auf die gesetzmäßige Zusammensetzung der Volksvertretung, also auf die konkrete Mandatsverteilung, von Einfluß sind oder sein können (vgl. BVerfGE 4, 370 [372 f.]; st. Rspr.; zuletzt BVerfGE 79, 173 [173 f.]). Mit dieser Maßgabe dient das Wahlprüfungsverfahren auch der Verwirklichung des subjektiven aktiven und passiven Wahlrechts.
c) Bei der Ausgestaltung des Wahlprüfungsverfahrens kann auch berücksichtigt werden, daß die richtige Zusammensetzung der Volksvertretung binnen angemessener Zeit geklärt werden soll. Deshalb ist es nicht zu beanstanden, daß nach den Wahlprüfungsgesetzen die richtige Zusammensetzung des Parlaments nicht ohne bestimmte Beschränkungen in Zweifel gezogen werden kann. Im Hinblick darauf ist eine Beschränkung der Wahlprüfung durch Einführung formeller Voraussetzungen nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil sie den Grundsatz der Wahlgleichheit berührt. Insbesondere findet das in ständiger Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 40, 11 [30 ff.]; 59, 119 [123 f.]; zuletzt BVerfGE 79, 50 [50]) anerkannte Gebot, den Wahleinspruch innerhalb der Einspruchsfrist substantiiert zu begründen, seine prinzipielle Rechtfertigung in dem Interesse an der raschen und verbindlichen Klärung der ordnungsgemäßen Zusammensetzung des Parlaments.
d) Da die Wahlprüfung dazu bestimmt ist, die richtige Zusammensetzung des Parlaments zu gewährleisten, dürfen die Anforderungen daran, was ein Einspruchsführer vortragen muß, um eine Prüfung der Wahl bezogen auf die von ihm beanstandeten Fehler zu erreichen, nicht überspannt werden. Ebensowenig darf die aufgrund eines zulässigen, insbesondere substantiierten Wahleinspruchs eingeleitete Wahlprüfung in einer Weise beschränkt werden, daß sie ihren Zweck, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Parlaments sicherzustellen, nicht erreichen kann.
Das im Wahlprüfungsrecht enthaltene Substantiierungsgebot soll sicherstellen, daß die sich auf der Grundlage der Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses ergebende Zusammensetzung des Parlaments nicht vorschnell in Frage gestellt wird und dadurch Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit geweckt werden. Das ist verfasBVerfGE 85, 148 (159)BVerfGE 85, 148 (160)sungsrechtlich unbedenklich. Wahlbeanstandungen, die über nicht belegte Vermutungen oder die bloße Andeutung der Möglichkeit von Wahlfehlern nicht hinausgehen und einen konkreten, der Überprüfung zugänglichen Tatsachenvortrag nicht enthalten, dürfen deshalb als unsubstantiiert zurückgewiesen werden. Ist danach ein Einspruch substantiiert, so ist die Überprüfung des jeweils beanstandeten Wahlergebnisses (des für die Zuteilung des Direktmandats maßgeblichen Wahlkreisergebnisses oder des für die Verteilung von Listenmandaten maßgeblichen Wahlergebnisses auf Landes- oder Bundesebene) eröffnet. Ob und in welchem Umfang die Wahlprüfungsorgane in diesem Verfahren den mit dem Einspruch vorgetragenen Sachverhalt zu ermitteln haben, hängt wesentlich von der Art des beanstandeten Wahlergebnisses und des gerügten Wahlmangels ab. Läßt sich ausschließen, daß dieser sich auf das im konkreten Fall in Zweifel gezogene Wahlergebnis und die Zuteilung von Mandaten ausgewirkt haben kann, so bedarf es regelmäßig keiner Ermittlungen und kann der Einspruch ohne weitere Prüfung zurückgewiesen werden.
Wenn die Verletzung von Vorschriften beanstandet wird, die das Verfahren der Stimmenauszählung und der Ermittlung des Wahlergebnisses regeln, kann die Erheblichkeit eines solchen Mangels für das Wahlergebnis und die Verteilung der Sitze im allgemeinen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Sinn und Zweck der die Stimmenauszählung betreffenden Vorschriften der Wahlgesetze ist es, die zutreffende Ermittlung des Wahlergebnisses zu gewährleisten. Ist gegen diese Vorschriften verstoßen worden, so fehlt es an hinreichender Gewähr dafür, daß das ermittelte Wahlergebnis den Wählerwillen korrekt wiedergibt. Dementsprechend haben die Wahlprüfungsorgane in solchen Fällen den mit dem Einspruch vorgetragenen Sachverhalt durch geeignete Ermittlungen aufzuklären. Dabei ist die Aufklärung entsprechend dem Sinn des Substantiierungsgebots zunächst auf die Prüfung zu beschränken, ob sich die gerügten Verfahrensfehler bei der Auszählung der Stimmen ereignet haben. Ist dies der Fall, so haben sich die Ermittlungen der Frage zuzuwenden, ob die festgestellten Mängel des Zählverfahrens Auswirkungen auf das im konkreten Fall in Zweifel gezogene WahlerBVerfGE 85, 148 (160)BVerfGE 85, 148 (161)gebnis und darüber hinaus auf die Zuteilung von Mandaten haben. Das ist - anders als bei sonstigen Wahlmängeln - grundsätzlich nicht ohne Nachzählung der abgegebenen Stimmen möglich.
In jedem Fall hat die erforderliche Nachzählung in dem Stimmbezirk stattzufinden, für den die gerügten Verfahrensfehler bei der Stimmenauszählung festgestellt worden sind. Je nach den Umständen kann es darüber hinaus geboten sein, sie auf alle Stimmbezirke zu erstrecken, aus denen sich das beanstandete Wahlergebnis errechnet. Einer solchen Ausdehnung der Nachzählung steht das Interesse an einer möglichst raschen Klärung der Zusammensetzung des Parlaments nicht entgegen. Das ergibt sich schon daraus, daß, wenn ein Verfahrensverstoß bei der Stimmenauszählung substantiiert gerügt und festgestellt wurde, eine endgültige Klärung der Zusammensetzung des Parlaments ohnehin erst mit rechtskräftigem Abschluß des Wahlprüfungsverfahrens zu erreichen ist.
Ob es zur Feststellung der Erheblichkeit für das konkret beanstandete Wahlergebnis geboten ist, die Nachzählung auf weitere Stimmbezirke zu erstrecken, hängt von verschiedenen Faktoren ab und läßt sich nicht für alle denkbaren Fallgestaltungen einheitlich beantworten. Ihre Einschätzung obliegt dem mit der Prüfung der Wahl betrauten Organ.
Von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidung kann es insbesondere sein, wie knapp oder wie eindeutig das mit dem Wahleinspruch konkret in Zweifel gezogene Wahlergebnis ausgefallen ist. Richtet sich der Einspruch etwa gegen die Zuteilung eines Mandats aufgrund eines Kreiswahlvorschlags und macht der Einspruchsführer mit der substantiierten Behauptung, in einigen Stimmbezirken sei gegen die Vorschriften über die Stimmenauszählung verstoßen worden, die Unrichtigkeit des der Mandatszuteilukng zugrundeliegenden Kreiswahlergebnisses geltend, so kann sich - wird ein Verfahrensverstoß festgestellt - die Erstreckung der Nachzählung auf alle Stimmbezirke um so eher als geboten erweisen, je geringer der Stimmenabstand zwischen dem als gewählt festgestellten Bewerber und seinem nächstfolgenden Konkurrenten ist.
Nur nach Ausdehnung der Nachzählung können letztendlich Zweifel an der Richtigkeit des Wahlergebnisses ausgeräumt werBVerfGE 85, 148 (161)BVerfGE 85, 148 (162)den, die dem erforderlichen Vertrauen in die demokratische Legitimation der gewählten Vertreter abträglich wären. Mit Rücksicht auf dieses Vertrauen mag es naheliegen, die Feststellung des endgültigen Wahlergebnisses nicht allein auf die Stimmenauszählung am Wahlabend zu stützen, deren Verläßlichkeit durch Zeitdruck und Hektik beeinträchtigt sein kann, sondern generell alle abgegebenen Stimmen nochmals nachzuzählen. Im Blick auf den Grundsatz der Wahlgleichheit ist dies jedenfalls solange nicht geboten, als durch die Wahlprüfung die richtige Zusammensetzung des Parlaments hinreichend gewährleistet wird.
2. Bei Anlegung dieser Maßstäbe wird das angegriffene Urteil dem Grundsatz der Wahlgleichheit nicht gerecht. Der Landtag des Landes Nordrhein-Westfalen hat aufgrund des dem Ausgangsverfahren zugrundeliegenden Wahleinspruchs zu Recht angeordnet, alle im Wahlkreis 151 abgegebenen Stimmen nachzuzählen. Der Verfassungsgerichtshof durfte ihm das nicht verwehren.
Mit ihrem dem Ausgangsverfahren zugrundeliegenden Wahleinspruch hatte die Einspruchsführerin in bezug auf zehn Stimmbezirke des Wahlkreises 151 substantiiert beanstandet, daß die Vorschriften der Landeswahlordnung über die Auszählung der Stimmen nicht eingehalten worden seien. Damit war das Wahlprüfungsverfahren eröffnet.
Die von der Einspruchsführerin erhobenen Beanstandungen hatten sich nach dem Ergebnis der vom Wahlprüfungsausschuß angestellten Ermittlungen in acht Stimmbezirken als berechtigt erwiesen. Dabei war - auch nach der sich auf die Feststellungen des Wahlprüfungsausschusses stützenden Bewertung des Verfassungsgerichtshofs - jedenfalls in vier Stimmbezirken die Richtigkeit der Ergebnisermittlung nicht gewährleistet. In diesen Stimmbezirken war die von § 44 Abs. 3 LWahlO NW vorgeschriebene gegenseitige Kontrolle durch die mit der Auszählung beauftragten Beisitzer des Wahlvorstandes nicht oder nicht vollständig durchgeführt worden, oder sie war nicht - wie erforderlich - durch einen Beisitzer, sondern durch den Wahlvorsteher vorgenommen worden.
Danach konnte die Prüfung, ob die festgestellten Fehler zur Folge hatten, daß das Direktmandat im Wahlkreis 151 dem wahren WahlBVerfGE 85, 148 (162)BVerfGE 85, 148 (163)ergebnis zuwider der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens zugeteilt worden war, nicht ohne Nachzählung der Stimmen erfolgen. Unter den gegebenen Umständen durfte die erforderliche Nachzählung entgegen der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs nicht auf die Stimmbezirke beschränkt werden, in denen sich nach den Ermittlungen des Wahlprüfungsausschusses die von der Einspruchsführerin substantiiert gerügten Fehler bei der Stimmenauszählung ereignet hatten.
Das für die Verteilung des Direktmandats maßgebliche Wahlergebnis im Wahlkreis 151 war nach den Feststellungen des Kreiswahlausschusses denkbar knapp. Für die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens waren mit 25.753 Stimmen gegenüber 25.730 Stimmen nur 23 Stimmen mehr gezählt worden als für den Beschwerdeführer. Danach hätte es für einen Erfolg des Wahleinspruchs und für eine Änderung der Mandatsverteilung schon ausgereicht, wenn bei der Stimmenauszählung am Wahlabend nur 12 tatsächlich für den Beschwerdeführer abgegebene Stimmen irrtümlich für die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens gezählt worden wären.
Von dem Fall, der dem Beschluß des Senats vom 3. Juni 1975 (BVerfGE 40, 11) zugrundeliegt, unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt ebenso durch den knappen Wahlausgang wie dadurch, daß es überwiegend schon an der Substantiierung der Beanstandungen fehlte, die sich gegen viele Wahlergebnisse - die Zuteilung der Mandate in allen Wahlkreisen - richteten.
Angesichts des sehr geringen Stimmenabstands zwischen dem als gewählt festgestellten und dem nächstfolgenden Wahlbewerber hätte der Landtag bei einer Beschränkung der Nachzählung die Möglichkeit einer nur unzulänglichen und ihrerseits mandatserheblich fehlerhaften Ergebniskorrektur nicht ausschließen können; er war deshalb gehalten, eine umfassende Überprüfung des Wahlergebnisses im Wahlkreis 151 in die Wege zu leiten.
3. Die mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit unvereinbare Auffassung, der Wahlprüfungsausschuß des Landtags hätte die Nachzählung auf die Stimmbezirke beschränken müssen, in denen sich nach dem Ergebnis seiner Ermittlungen die von der Einspruchsführerin substantiiert gerügten Fehler bei der Stimmenauszählung erBVerfGE 85, 148 (163)BVerfGE 85, 148 (164)eignet hatten, führt zur Aufhebung des Urteils des Verfassungsgerichtshofs. Seine Erwägung, der Beschluß des Landtags sei auch deswegen rechtswidrig, weil die Nachzählung unter Verstoß gegen das Öffentlichkeitsprinzip erfolgt sei, kann nur zur Nachholung der öffentlichen Nachzählung durch den Verfassungsgerichtshof führen, wie er sie auch für diejenigen Stimmbezirke des Wahlkreises 151 veranlaßt hat, für die ein substantiierter und nach seiner Auffassung möglicherweise mandatserheblicher Einspruch vorlag. Der Verfassungsgerichtshof durfte hingegen nicht den Beschluß des Landtags aufheben und den Einspruch zurückweisen.
III.
 
Gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
 
C.
 
Zur Zulässigkeit ist die Entscheidung mit 5:3 Stimmen, im übrigen ist sie einstimmig ergangen.
(gez.) Mahrenholz, Böckenförde, Klein, Graßhof, Kruis, Kirchhof, Winter, SommerBVerfGE 85, 148 (164)