des Zweiten Senats
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vom 4. August 1992
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aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. August 1992
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- 2 BvQ 16, 17/92 - | |
in den Verfahren über die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, 1. a) daß Art. 13 Nr. 1 des Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz) vom 27. Juli 1992 (BGBl. I S. 1398) einstweilen nicht in Kraft tritt, b) hilfsweise, daß Art. 13 Nr. 1 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes einstweilen ausgesetzt wird, c) die in Art. 15 Nr. 2 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vorgesehene Aufhebung der in Art. 4 des Fünften Strafrechtsreformgesetzes geregelten Meldepflicht einstweilen auszusetzen, Antragstellerin zu 1): Die Bayerische Staatsregierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten, Prinzregentenstraße 7, München 22, - Bevollmächtigter: Prof. Dr. Udo Steiner, Am Katzenbühl 5, Regensburg - 2 BvQ 16/92 -; 2. a) daß Art. 13 Nr. 1 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes einstweilen nicht in Kraft tritt, b) hilfsweise, daß der Vollzug des Art. 13 Nr. 1 des 1 des ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | |
Entscheidungsformel:
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1. Artikel 13 Nr. 1 und Artikel 16 des Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz) vom 27. Juli 1992 (Bundesgesetzbl. I Seite 1398) treten einstweilen nicht in Kraft.
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2. Für die Anwendung der durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz geänderten Vorschriften des § 203 Absatz 1 Nummer 4 a des Strafgesetzbuches sowie der §§ 53 Absatz 1 Nummer 3 a, 97 Absatz 2 Satz 2 der Strafprozeßordnung stehen die anerkannten Beratungsstellen nach § 218 b Absatz 2 Nummer 1 des Strafgesetzbuchs den anerkannten Beratungsstellen nach Artikel 1 § 3 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes gleich.
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3. Die in Artikel 4 (Bundesstatistik) des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (Bundesgesetzbl. I Seite 1297), geändert durch Artikel 3 und Artikel 4 des Gesetzes vom 18. Mai 1976 (Bundesgesetzbl. I Seite 1213), getroffenen Regelungen bleiben einstweilen in Kraft und sind auch in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet anzuwenden.
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4. Die Entscheidungsformel zu Nummern 1 bis 3 ist im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. ![]() | |
A. | |
Die Bayerische Staatsregierung sowie 248 Mitglieder des Deutschen Bundestages haben am 14. Juli 1992 den Antrag gestellt, im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG das Inkrafttreten des Art. 13 Nr. 1 des Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz) vom 27. Juli 1992, das heute (am 4. August 1992) im Bundesgesetzblatt verkündet worden ist und nach Art. 17 des Gesetzes am Tage nach seiner Verkündung in Kraft tritt, bis zur Entscheidung über einen noch zu stellenden Normenkontrollantrag (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG) aufzuschieben.
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Art. 13 Nr. 1 des Gesetzes ersetzt die §§ 218 bis 219 d des Strafgesetzbuches in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. März 1987 (BGBl. I S. 945 [1160]) sowie - in Verbindung mit Art. 16 - die nach dem Einigungsvertrag fortgeltenden Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik über den Schwangerschaftsabbruch. Die verfassungsrechtlichen Bedenken richten sich insbesondere gegen den neuen § 218 a Abs. 1 StGB. Er lautet:
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Der Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn
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1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 3 Satz 2 nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen (Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage),
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2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und | |
3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
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Die Antragsteller halten den Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Vermeidung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl für dringend geboten. Sie sind der Auffassung, daß insbesondere § 218 a Abs. 1 StGB in der Fassung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes geltendes Verfassungsrecht verletze (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), und kündigen Anträge ![]() ![]() | |
Der Deutsche Bundestag sowie die Regierungen bzw. Senate der Länder Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein sind den Anträgen mit Ausnahme des Antrages bezüglich der Meldepflicht entgegengetreten.
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Die Anträge sind begründet. Die einstweilige Anordnung ist zur Abwendung einer Gefahr für das gemeine Wohl dringend geboten.
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1. An einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist ein strenger Maßstab anzulegen, insbesondere wenn die Anordnung die Wirksamkeit eines Gesetzes betrifft (vgl. zuletzt BVerfGE 82, 310 [312 f.]). Wenn - wie hier - der angekündigte Antrag im Hauptsacheverfahren weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet erscheint, wägt das Bundesverfassungsgericht die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, das Gesetz aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn das Gesetz nicht in Kraft träte, es sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese.
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2. Bei der Nachteilsabwägung hat der Senat die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Bestimmungen sprechen, ebenso außer Betracht gelassen wie die Gegengründe.
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Die Folgenabwägung hat hier davon auszugehen, daß es sich bei der Schutzpflicht des Staates gegenüber ungeborenem menschlichem Leben um einen fundamentalen Bestandteil der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland handelt. Die normativen Konzepte zur Verwirklichung eines solchen Schutzes, wie sie von ![]() ![]() | |
Angesichts dieser Besonderheiten der Regelungsmaterie erscheint es als schwerer Nachteil für das gemeine Wohl, wenn das Gesetz, das mit seinem Inkrafttreten den Übergang auf ein prinzipiell anderes Konzept des Lebensschutzes herbeiführt, im Falle seiner Verfassungswidrigkeit nach einigen Monaten wieder außer Kraft träte und einem anderen Konzept weichen müßte. Die Entscheidung des Gesetzgebers ist als prinzipielle Entscheidung gedacht, nicht als bloß kurzfristiger Versuch, ungeborenes Leben auf eine grundsätzlich neue Weise zu schützen. Es muß auch bedacht werden, daß es nachhaltige negative Auswirkungen auf das Rechtsvertrauen der Bevölkerung und auf die Möglichkeit haben kann, in der hier inmitten stehenden Frage menschliches Verhalten durch Recht zu bestimmen, wenn in diesem Regelungsbereich von so existentieller Bedeutung das normative Konzept mehrfach wechselt. ![]() | |
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3. Obwohl sich die verfassungsrechtlichen Bedenken der Antragsteller nur gegen einen Teil der strafrechtlichen Vorschriften des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes richten, ist es geboten, das Inkrafttreten des Art. 13 Nr. 1 des Gesetzes insgesamt auszusetzen und die §§ 218 ff. StGB bisheriger Fassung in ihrem Geltungsbereich vorläufig weiter anzuwenden. Die neuen strafrechtlichen Vorschriften bilden ebenso wie die Vorschriften des bisher geltenden Rechts über den Schwangerschaftsabbruch je eine systematische Einheit, die sich nicht in einzelne Elemente auflösen und mit Teilen des bisher geltenden Rechts verknüpfen läßt, ohne daß im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG bedenkliche Unklarheiten zu besorgen wären. Vor allem sind die Vorschriften über die Beratung, soweit diese Voraussetzung für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs ist, auf das jeweilige Regelungssystem abgestimmt; dieser Regelungszusammenhang muß erhalten bleiben. Da die Vorschriften des Art. 1 §§ 2 bis 4 des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes von der einstweiligen Anordnung nicht berührt werden, bedeutet dies, daß für die Dauer der einstweiligen Anordnung verschiedene Rechtsgrundlagen für die Beratung nebeneinander bestehen. Für die Beratung als Voraussetzung der Straflosigkeit bleiben im Anwendungsbereich des Strafgesetzbuchs dessen Vor ![]() ![]() | |
4. In dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet bleiben die in Art. 16 des Gesetzes bezeichneten Vorschriften aus den dargelegten Gründen vorübergehend anwendbar; sie gelten nach der Übergangsregelung des Art. 31 Abs. 4, Art. 4 Nr. 5 des Einigungsvertrages jedenfalls bis zum 31. Dezember 1992. Das ,Angebot und die Tätigkeit von Beratungsstellen hingegen sind durch das Schwangeren- und Familienhilfegesetz - insoweit für das gesamte Bundesgebiet - neu geregelt worden; diese Regelung tritt am 5. August 1992 in Kraft. Dabei gilt, daß das ungeborene Leben von Verfassungs wegen geschützt ist, daß also insbesondere der Schwangerschaftsabbruch nicht ein Instrument der Familienplanung sein darf.
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5. Die einstweilige Anordnung muß darüber hinaus die Aufrechterhaltung der oben genannten Meldepflicht der Ärzte erfassen. Die Bedeutung der beschriebenen staatlichen Schutzpflichten läßt es nicht zu, daß der Staat, ohne daß das Gewicht der Meldepflicht für den Lebensschutz vom Senat eingehend geprüft worden ist, auf wenn auch unvollkommene - statistische Daten zu der Frage verzichtet, in welchem Maße die Ärzte Schwangerschaften abbrechen; infolgedessen muß an der Kontinuität der Datenerhebung festgehalten werden. In dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet fehlt es gegenwärtig an jeder Rechtsgrundlage für eine Meldepflicht; daher wird die für die alten Bundesländer getroffene Regelung insoweit ebenfalls vorläufig für anwendbar erklärt.
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C. | |
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
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