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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann | |||
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Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer lediglich auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, die - wie etwa die typischen Bürgerkriegsgefahren - nicht nur ihm persönlich, sondern zugleich der ganzen Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe drohen, wird Abschiebungsschutz ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 54 AuslG gewährt. Einen Anspruch auf eine Ermessensbetätigung der obersten Landesbehörde hat der Ausländer nicht. |
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erfaßt allgemeine Gefahren im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG auch dann nicht, wenn sie den einzelnen Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Nur dann, wenn dem einzelnen Ausländer kein Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 1, 2, 3, 4 und 6 Satz 1 AuslG zusteht, er aber gleichwohl nicht abgeschoben werden darf, weil die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wegen einer extremen Gefahrenlage die Gewährung von Abschiebungsschutz unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG gebieten, ist § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, daß eine Entscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht ausgeschlossen ist. |
AuslG § 53 Abs. 6, § 54; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 |
Urteil |
des 9. Senats vom 17. Oktober 1995 |
- BVerwG 9 C 9.95 - |
I. Verwaltungsgericht Ansbach |
II. Verwaltungsgerichtshof München | |
Der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, verließ Afghanistan im Mai 1991, reiste über Pakistan nach Deutschland und beantragte Asyl mit der Begründung, daß wegen des Bürgerkriegs in seiner Heimat sein Leben in großer Gefahr gewesen sei. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer ![]() ![]() | 1 |
Die vom Kläger erhobene Klage hatte teilweise Erfolg: Das Verwaltungsgericht verpflichtete das Bundesamt - unter entsprechender Aufhebung des ergangenen Bescheides - festzustellen, daß einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 4 AuslG entgegenstünden; im übrigen wies es die Klage ab. Diese Entscheidung änderte das Berufungsgericht auf die allein hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG zugelassene Berufung der Beklagten, soweit das Verwaltungsgericht dem Kläger die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG zugebilligt hatte. Stattdessen verpflichtete es die Beklagte, zugunsten des Klägers festzustellen, daß die Voraussetzungen für eine Ermessensausübung gemäß § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG gegeben seien. Die Revision der Beklagten führte zur Zurückverweisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof.
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Aus den Gründen: | |
Soweit das Berufungsgericht entschieden hat, daß sich der Kläger nicht auf ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs.4 AuslG - und infolgedessen auch nicht auf die Rechtswidrigkeit der Ausreiseaufforderung und der uneingeschränkten Abschiebungsandrohung (vgl. § 50 Abs. 3 AuslG) - berufen kann, ist das Berufungsurteil nicht angefochten. Damit sind Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts insgesamt rechtskräftig bestätigt worden. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist allein die Frage der Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG.
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Die mit der Revision angefochtene Verpflichtung des Bundesamts, zugunsten des Klägers das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ermessensausübung gemäß § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG festzustellen, ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Insoweit führt die Revision deshalb zur Aufhebung des Berufungsurteils. Ihr in vollem Umfang stattzugeben und die Klage insgesamt abzuweisen, ist indessen auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht möglich. Diese lassen noch keine abschließende Ent ![]() ![]() | 4 |
Das Bundesamt kann entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht dazu verpflichtet werden, die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG für eine Ermessensentscheidung nach § 54 AuslG festzustellen. Aus § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG ergibt sich nämlich kein subjektives Recht, und zwar grundsätzlich weder ein Anspruch auf Einschränkung der Abschiebungsandrohung (wie aus § 50 Abs. 3, § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG) oder auf Feststellung der Voraussetzungen für ein Absehen von der Durchführung der Abschiebung (wie aus § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) noch auch nur auf Ausübung des ausländerpolitischen Ermessens beim Erlaß genereller Abschiebestoppregelungen nach § 54 AuslG. Davon abgesehen fehlt dem Bundesamt auch die Befugnis für eine derartige Entscheidung. Das folgt aus § 31 Abs. 3, §§ 41, 42 AsylVfG; diese Vorschriften sehen ein Tätigwerden des Bundesamtes nur bei Vorliegen eines Abschiebungshindernisses vor. § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG enthält aber kein Abschiebungshindernis. Soweit § 41 Abs. 1 AsylVfG von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AsylVfG spricht, ist damit allein die Regelung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG gemeint (vgl. BT-Drucks 12/2062, S. 34; Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 41 Rn. 1).
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Nach § 53 Abs. 6 AuslG kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (Satz 1); Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt (Satz 2). Die oberste Landesbehörde kann nach dieser Bestimmung aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, daß die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von sonstigen Ausländergruppen allgemein oder in einzelne Zielländer für längstens sechs Monate ausgesetzt wird (§ 54 Satz 1 AuslG); für längere Aussetzungen bedarf es des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (§ 54 Satz 2 AuslG). ![]() | 6 |
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Diese grundlegende Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben auch die Verwaltungsgerichte bei der Auslegung und Anwendung der §§ 53, 54 AuslG ![]() ![]() | 8 |
Nur dann, wenn dem einzelnen Ausländer keine Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2, 3, 4 oder 6 Satz 1 AuslG zustehen, er aber gleichwohl ohne Verletzung höherrangigen Verfassungsrechts nicht abgeschoben werden darf, ist bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG im Einzelfall Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren. Das ist der Fall, wenn die obersten Landesbehörden trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, von ihrer Ermessensermächtigung aus § 54 AuslG keinen Gebrauch gemacht haben, einen generellen Abschiebestopp zu verfügen. Darin gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG Abschiebungsschutz zu gewähren. Eines unmittelbaren Rückgriffs auf die Verfassung bedarf es hierzu allerdings nicht (vgl. aber etwa Marx, a.a.O., § 24 AsylVfG Rn. 23); vielmehr ist in solchen Fällen § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG verfassungskonform einschränkend dahin auszulegen, daß derartige Gefahren im Rahmen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu berücksichtigen sind.
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Die vom Berufungsgericht ausgesprochene Verpflichtung des Bundesamts zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG kann danach keinen Bestand haben. Sie ginge überdies ins Leere. Die obersten Landesbehörden wären an die Feststellung des Bundesamts nicht ![]() ![]() | 10 |
Nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts läßt sich nicht abschließend beurteilen, ob im Falle des Klägers die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Abschiebung gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vorliegen. Der Berücksichtigung von auf den Kläger zielenden konkreten Gefahren würde, wenn sie Folge politischer Verfolgung sind, entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts zwar nicht entgegenstehen, daß der geltend gemachte Anspruch auf Asyl und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG bereits rechtskräftig abgelehnt worden ist. Denn im Rahmen der Prüfung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind auch Gefahren zu berücksichtigen, die der Schutzsuchende bereits ohne Erfolg in einem Asylverfahren vorgebracht hat (BVerfG, Kammerbeschluß vom 3. April 1992 - 2 BvR 1837/91 - InfAuslR 1993, 176, 178). Das gilt auch dann, wenn die Ablehnung des Asylantrags - wie hier - bereits rechtskräftig geworden ist; denn die Rechtskraft einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, durch die ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG oder auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG verneint wird, entfaltet keine Bindungswirkung nach § 121 VwGO hinsichtlich des Anspruchs auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gemäß § 53 AuslG (vgl. BVerwGE 96, 24). Der Kläger hat aber auf ihn zielende konkrete Gefahren nicht hinreichend substantiiert dargetan, um dem weiter nachgehen zu müssen. Soweit er sich auf die infolge des Bürgerkriegs in Afghanistan vorherrschende allgemeine Gefahrenlage beruft, kommt eine Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nach § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG nicht in Frage. Denn bei den insoweit geltend gemachten Gefahren -- Gefährdung durch Kampfhandlungen, Lebensmittelknappheit, Druck der jeweiligen Bürgerkriegspartei, sie finanziell zu unterstützen oder für sie zu kämpfen - handelt es sich um die typischen Bürgerkriegsgefahren, die von § 53 Abs. 6 Satz 2 in Verbindung mit § 54 AuslG erfaßt werden, ohne daß von Verfassungs wegen eine Einzelfallentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG geboten ist. Das gilt auch für sein Vorbringen, er befürchte, ebenso wie sein Vater und sein Bruder von den Mudjaheddin umgebracht zu werden, weil er Königsanhänger sei. Hinzu kommt, ![]() ![]() | 11 |
Zu berücksichtigen ist indessen, daß die Gefahren in und um Kabul nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ein besonderes Ausmaß erreicht haben. Hiernach tobt der Bürgerkrieg hauptsächlich im Bereich dieser Stadt, die größere Teile der Bevölkerung bereits wegen der "unerträglichen Lebensverhältnisse" verlassen haben und in der die Lage "katastrophal" ist. Da eine Abschiebung des Klägers nach Afghanistan derzeit, wenn überhaupt, nur auf dem Luftwege über den Flughafen Kabul möglich erscheint und nicht festgestellt ist, ob der Kläger die vergleichsweise sicheren Landesteile überhaupt erreichen kann (vgl. Senatsurteil vorn 13. Mal 1993 - BVerwG 9 C 59.92 - Buchholz ![]() ![]() ![]() | 12 |
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