BGE 112 Ia 142 - Staatsanwalt Dr. Müller | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. April 1986 i.S. P. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 58 Abs. 1 BV; Geltungsbereich. |
Voraussetzungen, unter denen Art. 58 Abs. 1 BV auf die zürcherischen Bezirks- und Staatsanwälte anwendbar ist (E. 2b und 2c). | |
Sachverhalt | |
Im August 1984 stellte P. beim Obergericht des Kantons Zürich ein Revisionsbegehren hinsichtlich eines Strafurteils, das dieses Gericht am 27. September 1982 gegen ihn ausgefällt hatte. Am 22. November 1984 reichte er bei der Justizdirektion des Kantons Zürich ein Ausstandsbegehren gegen Staatsanwalt Dr. H. Müller ein, der schon früher in den Strafverfahren des P. tätig war und im Revisionsverfahren die in § 452 der zürcherischen Strafprozessordnung vorgesehene Begutachtung erstatten musste. Die Justizdirektion wies das Begehren ab, und ein daraufhin erhobener Rekurs an den Regierungsrat des Kantons Zürich hatte keinen Erfolg.
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P. führt gegen den Entscheid des Regierungsrates staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und 58 BV. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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a) Art. 58 Abs. 1 BV gewährt dem Bürger einen verfassungsmässigen Anspruch darauf, dass seine Streitsache durch einen unabhängigen und unparteiischen Richter beurteilt wird (BGE 104 Ia 273 E. 3 mit Hinweisen). Das Bundesgericht hat bisher in seiner publizierten Rechtsprechung erklärt, diese Vorschrift beziehe sich nur auf die Gerichte. Für Verwaltungsbehörden gelte sie - mit Ausnahme des in Art. 58 BV mitenthaltenen Anspruchs auf den zuständigen gesetzlichen Richter - nicht. Die Frage der Ausstandspflicht von Mitgliedern einer Verwaltungsbehörde sei ausschliesslich aufgrund von Art. 4 BV zu beurteilen (BGE 107 Ia 137; Urteil vom 2. Mai 1979 in ZBl 80/1979 S. 485).
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In einem unveröffentlichten Urteil vom 22. März 1985 in Sachen Erbengemeinschaft B., das einen Fall aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden betraf, hielt das Bundesgericht nun aber fest, die Garantie des verfassungsmässigen Richters sei auch auf einen Staatsanwalt anzuwenden, und zwar dann, wenn dieser nicht in seiner Funktion als Untersuchungs- und Verfolgungsbehörde auftrete, sondern die Rolle eines eigentlichen Richters einnehme. Es vertrat in jenem Entscheid die Ansicht, der Staatsanwalt sei dort, wo er über einen Rekurs gegen eine Einstellungsverfügung des Verhöramtes befinde, in richterlicher Funktion tätig, und insoweit gelte die Vorschrift von Art. 58 Abs. 1 BV auch für ihn. Hingegen sei diese Bestimmung nicht anwendbar, wenn es um die Genehmigung einer Einstellungsverfügung des Verhöramtes durch den Staatsanwalt gehe, da er hier keine richterliche Funktion ausübe, sondern als Beamter der Strafverfolgungsbehörde bzw. als Aufsichtsinstanz gegenüber dem Verhöramt handle. Im gleichen Sinne hatte das Bundesgericht schon in einem früheren, ebenfalls unveröffentlichten Urteil vom 13. Februar 1985 in Sachen E.H. zur Frage der Anwendung von Art. 58 Abs. 1 BV auf zürcherische Bezirksanwälte ausgeführt, die Garantie des verfassungsmässigen Richters müsse sich auch auf den Bezirksanwalt beziehen, sofern er in richterlicher Funktion tätig werde. Das sei sicher der Fall, wenn er einen Strafbefehl nach § 317 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO) erlasse, der bei Unterlassung einer Einsprache zu einem rechtskräftigen Urteil werde. Zweifel ergäben sich indessen dort, wo der Bezirksanwalt - wie das im damaligen Fall zutraf - nur untersuchungsrichterliche und Anklagefunktion ausübe. Das Bundesgericht liess die Frage offen, ob Art. 58 BV in einem solchen Fall zum Zuge komme, da die damals zu beurteilende Beschwerde bereits wegen Verletzung von Art. 4 BV (willkürliche Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts) gutzuheissen war.
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Mit diesen beiden Urteilen wurde die bisherige Rechtsprechung dahin geändert, dass Art. 58 Abs. 1 BV nun nicht mehr nur für ein Gericht oder einen Richter im streng formellen Sinne, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch für Strafuntersuchungs- und Anklagebehörden gilt, und zwar dann, wenn diese in richterlicher Funktion tätig sind. Treten sie dagegen in ihrer Eigenschaft als Untersuchungs- und Anklagebehörden auf, so ist die Frage der Ausstandspflicht nach wie vor ausschliesslich aufgrund von Art. 4 BV zu beurteilen.
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b) Der zürcherische Bezirksanwalt übt, wie schon im erwähnten Urteil vom 13. Februar 1985 festgehalten wurde, in jenen Fällen eine richterliche Funktion aus, in welchen er einen Strafbefehl gemäss § 317 StPO erlässt. Diese Vorschrift räumt dem Bezirksanwalt die Kompetenz ein, eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Monat oder eine Busse oder beides zusammen auszufällen, sofern der Angeschuldigte den Sachverhalt eingestanden und sich schuldig erklärt hat. Der Strafbefehl erlangt die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils, soweit nicht rechtzeitig Einsprache erhoben worden ist oder wenn die Einsprache zurückgezogen wurde (§ 325 Abs. 1 StPO). Der Bezirksanwalt nimmt dort, wo er einen Fall durch Strafbefehl zum Abschluss bringt, die Rolle eines eigentlichen Richters ein, denn er entscheidet ohne irgendwelche Weisungen der ihm hierarchisch übergeordneten Staatsanwaltschaft, mithin völlig unabhängig und unparteiisch, ob sich der Angeschuldigte einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat und - gegebenenfalls - welche Sanktion gegen ihn zu ergreifen ist.
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Dagegen gilt die Garantie von Art. 58 Abs. 1 BV für den Bezirksanwalt dann nicht, wenn er als Anklagebehörde tätig ist, d.h. wenn er die Anklageschrift verfasst, diese dem Bezirksgericht einreicht und in der Folge die Anklage vor Gericht vertritt, wobei er dem Angeklagten als Gegenpartei gegenübersteht. Der Bezirksanwalt handelt in dieser Phase des Strafverfahrens ausschliesslich als Vertreter des Strafanspruchs des Staates und übt keine richterliche Funktion aus.
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Es bleibt die Frage, ob Art. 58 Abs. 1 BV auf den Bezirksanwalt dann zur Anwendung kommt, wenn er als Untersuchungsbehörde tätig ist. In dieser Eigenschaft muss er gemäss § 31 StPO den belastenden und den entlastenden Tatsachen mit gleicher Sorgfalt nachgehen, und er hat nach Vornahme der Untersuchungshandlungen völlig unabhängig und unparteiisch zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Anklageerhebung gegeben sind. Mit Rücksicht auf diese Pflicht des Untersuchungsbeamten zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, welche die Wesensmerkmale richterlicher Tätigkeit bilden, haben sowohl das Bundesgericht (BGE 102 Ia 179 ff.) als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Urteil vom 4. Dezember 1979 in Sachen Schiesser, veröffentlicht in: Publications de la Cour européenne des droits de l'homme, Serie A, vol. 34, und in der Europäischen Grundrechte Zeitschrift 1980 S. 202 ff.) erklärt, der zürcherische Bezirksanwalt sei im Verfahrensstadium der Untersuchung ein "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er deswegen bei seiner gesamten Tätigkeit als Untersuchungsorgan allgemein auch der Garantie des verfassungsmässigen Richters unterworfen wäre. Es ist zu beachten, dass im Strafverfahren die Aufgabe eines Richters im Sinne von Art. 58 Abs. 1 BV in erster Linie darin besteht, abschliessend darüber zu entscheiden, ob gegen den Angeklagten ein staatlicher Strafanspruch besteht und - gegebenenfalls - welche Strafe gegen ihn auszufällen ist. Demzufolge kann nur dort gesagt werden, die Untersuchungsbehörde nehme die Funktion oder Rolle eines eigentlichen Richters ein, wo sie das Strafverfahren zum Abschluss bringt, sei es durch einen Sachentscheid, wie das beim Erlass eines Strafbefehls des Bezirksanwaltes der Fall ist, sei es dadurch, dass sie das Verfahren mit einer Einstellungsverfügung gemäss § 39 StPO abschliesst. Eine solche Verfügung kann zwar hinsichtlich der materiellen Rechtskraft nicht einem freisprechenden Urteil gleichgestellt werden, doch hat sie immerhin zur Folge, dass die Untersuchung nicht wiederaufgenommen werden darf, sofern keine neuen Anhaltspunkte für die Täterschaft oder für die Schuld des Angeschuldigten bestehen (vgl. § 45 StPO).
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Nach dem Gesagten ergibt sich, dass Art. 58 Abs. 1 BV auf den zürcherischen Bezirksanwalt dort anwendbar ist, wo er einen Strafbefehl erlässt und wo er das Strafverfahren einstellt.
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c) Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich amtet als Anklagebehörde beim Obergericht und beim Geschworenengericht (§ 72 Ziff. 2 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni 1976, GVG). Sie ist zudem Aufsichts- und Rechtsmittelinstanz gegenüber den Bezirksanwaltschaften (§ 86 GVG, §§ 27 und 402 Ziff. 1 StPO). Von Gesetzes wegen (§ 73 Ziff. 2 GVG, § 27 StPO) ist die Staatsanwaltschaft auch Untersuchungsbehörde. In der Praxis ist sie indessen durch ihre Tätigkeit als Anklagebehörde sowie als Aufsichts- und Rechtsmittelinstanz voll in Anspruch genommen, so dass sie nur ganz ausnahmsweise eine Untersuchung selbst führt (HAUSER/HAUSER, Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich vom 29. Januar 1911, 3. Auflage 1978, S. 280 N. 2; ROLF RIEDER, Das Untersuchungsverfahren im zürcherischen Strafprozess, Diss. Zürich 1965, S. 46). Falls sie es tut, so kommt - ebenso wie bei der Bezirksanwaltschaft - Art. 58 Abs. 1 BV nicht zum Zuge. Auch soweit die Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde auftritt, was ihre Haupttätigkeit darstellt, übt sie keine richterliche Funktion aus und ist sie daher der genannten Vorschrift nicht unterworfen. Das gleiche gilt dort, wo ihr nach § 39 StPO eine Einstellungsverfügung der Bezirksanwaltschaft zur Genehmigung unterbreitet wird. Die Staatsanwaltschaft handelt hier als Aufsichtsinstanz über die Bezirksanwälte und nicht in richterlicher Funktion (vgl. das erwähnte Urteil vom 22. März 1985 in Sachen Erbengemeinschaft B.).
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Hingegen findet Art. 58 Abs. 1 BV auf die Staatsanwaltschaft dann Anwendung, wenn sie als Rekursinstanz gemäss § 402 Ziff. 1 StPO tätig ist. Der Rekurs, der nach dieser Vorschrift "gegen das Verfahren und die Verfügungen der Bezirksanwaltschaften" bei der Staatsanwaltschaft erhoben werden kann, ist ein ordentliches Rechtsmittel, mit dem alle Mängel des Verfahrens und des angefochtenen Entscheids gerügt werden können (ADRIAN MEILI, Der Rekurs im Strafprozess nach zürcherischem Recht, Diss. Zürich 1968, S. 5). Amtet die Staatsanwaltschaft als Rekursbehörde, so nimmt sie die Rolle eines eigentlichen Richters ein, denn sie muss - ebenso wie dieser - in unabhängiger und unparteiischer Weise prüfen, ob die gegen das Verfahren oder gegen eine Verfügung - z.B. gegen eine Einstellungsverfügung - der Bezirksanwaltschaft vorgebrachten Einwendungen des Rekurrenten begründet sind. Von einer richterlichen Funktion der Staatsanwaltschaft kann sodann auch dort gesprochen werden, wo sie gemäss § 38 StPO ein Strafverfahren durch eine Einstellungsverfügung beendet (vgl. E. 2b vorne).
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Die Garantie von Art. 58 Abs. 1 BV ist demnach auf die zürcherische Staatsanwaltschaft dann anwendbar, wenn sie als Rekursinstanz tätig ist und wenn sie das Strafverfahren einstellt.
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d) Im hier zu beurteilenden Fall wurde das Ausstandsbegehren gegen den Staatsanwalt in einem Verfahren gestellt, in welchem dieser ausschliesslich in seiner Funktion als Anklagebehörde mitwirkte. Es handelte sich um ein Revisionsverfahren, und gemäss § 452 StPO hatte der Staatsanwalt zuhanden des Gerichts das Wiederaufnahmegesuch des Beschwerdeführers zu begutachten. Er stand dem Beschwerdeführer in jenem Verfahren als Gegenpartei gegenüber und übte keinerlei richterliche Funktionen aus. Art. 58 Abs. 1 BV kommt daher im vorliegenden Fall auf den Staatsanwalt nicht zur Anwendung, weshalb nur zu prüfen ist, ob die Abweisung des Ausstandsbegehrens vor Art. 4 BV standhält.
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Auch nach dieser Verfassungsvorschrift gelten für einen Staatsanwalt gewisse Mindestanforderungen an die Unabhängigkeit und Unbefangenheit, die allerdings nicht so weit reichen wie die Garantie des Art. 58 Abs. 1 BV (vgl. dazu: ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, Bern 1985, S. 155). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes kann ein solcher Beamter aufgrund von Art. 4 BV dann abgelehnt werden, wenn Umstände vorliegen, die ihn als befangen erscheinen lassen (BGE 107 Ia 137; Urteil vom 13. Februar 1985 in Sachen E.H.). Die Ablehnung setzt somit nicht voraus, dass der betroffene Justizbeamte tatsächlich befangen ist. Im gleichen Sinne ist § 96 Ziff. 4 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes zu verstehen (vgl. dazu HAUSER/HAUSER, a.a.O., S. 399; ZR 45/1946 Nr. 161 S. 297, BGE 108 Ia 50 /51). Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass entscheidend auf die subjektive Meinung des Ablehnenden abzustellen wäre; vielmehr müssen Umstände vorliegen, welche nach objektiven Gesichtspunkten geeignet sind, den Anschein der Befangenheit zu erwecken (BGE 108 Ia 51, BGE 105 Ia 160). Bei einem Staatsanwalt im besonderen bildet nach den vorstehenden Ausführungen der Umstand, dass er im Prozess einen demjenigen des Angeklagten entgegengesetzten Standpunkt einnimmt und die Beweismittel anders würdigt, jedenfalls keinen Grund, der den Schluss auf Befangenheit im Sinne dieser Rechtsprechung zuliesse.
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